Das Institut für Chemie hat einen besonderen Gast: Die Kanadierin Kim Baines ist Trägerin des Forschungspreises der Humboldt-Stiftung. Die Wissenschaftlerin hat eine neue Klasse von Verbindungen aus Silizium und Germanium entdeckt.
Ein Aufenthalt am Oldenburger Institut für Chemie sei für sie „besser als jede Konferenz“, sagt Prof. Dr. Kim Baines. „Man hat viel mehr Zeit, sich mit Kolleginnen und Kollegen auszutauschen“, erklärt die Forscherin von der University of Western Ontario in Kanada. Davon macht Baines in diesen Tagen fleißig Gebrauch: Sie schaut zum Beispiel nach und nach bei allen Promovierenden der Arbeitsgruppe „Anorganische Chemie“ von Prof. Dr. Thomas Müller vorbei und lässt sich deren Vorhaben erklären. Es sei immer gut, mit möglichst vielen anderen Forschenden zu sprechen, um auf neue Ideen zu kommen und Feedback zur eigenen Arbeit zu erhalten, sagt die erfahrene und vielfach ausgezeichnete Chemikerin gut gelaunt.
Für mehrere Wochen ist Baines in der Arbeitsgruppe von Thomas Müller zu Gast. 2015 erhielt sie den renommierten Forschungspreis der Humboldt-Stiftung, mit dem international führende Forschende aus dem Ausland für ihr bisheriges Gesamtschaffen ausgezeichnet werden. Die Preisträgerinnen und Preisträger sind eingeladen, ein selbst gewähltes Forschungsvorhaben an einer wissenschaftlichen Einrichtung in Deutschland gemeinsam mit den dortigen Kolleginnen und Kollegen durchzuführen.
Baines entschied sich für eine Kooperation mit Müller und seiner Arbeitsgruppe, weil er sich mit ähnlichen Verbindungen befasst wie sie: Beide betreiben Grundlagenforschung an hochreaktiven Verbindungen der Elemente Silizium und Germanium. „Was mich gereizt hat, war die Kombination aus experimenteller Chemie und Computerchemie, die die Oldenburger Arbeitsgruppe betreibt“, berichtet die Forscherin, die im Rahmen ihrer Auszeichnung bereits zum vierten Mal in Oldenburg zu Gast ist. Daneben kooperiert sie im Rahmen ihres Humboldt-Projekts mit Forschenden in Berlin und Saarbrücken.
„Ich liebe Oldenburg”
Noch bis Ende April hält sich die kanadische Wissenschaftlerin in Oldenburg auf. „Ich liebe es, dass hier alles so nah beieinander liegt. Bei meinen Besuchen habe ich immer eine Unterkunft im Stadtzentrum“, erzählt sie. Oldenburg sei ähnlich groß wie London, ihr Wohnort in Kanada. Doch während dort alles sehr weitläufig sei, könne man hier mit Bus und Bahn schnell viele interessante Ziele erreichen.
Für Ausflüge – etwa nach Lübeck, Bremerhaven oder Lüneburg – hat sie allerdings nur am Wochenende Zeit. Im Vordergrund ihres Aufenthalts steht die Forschung: Gemeinsam mit Müller untersucht sie derzeit eine Reaktion, die für eine bestimmte Klasse von Silizium-Verbindungen sehr grundlegend ist. Es gehe darum, die Zwischenschritte dieser Reaktion besser zu verstehen, um die sogenannten Disilene – Verbindungen aus zwei Silizium-Atomen, zwischen denen eine Doppelbindung besteht – in zukünftigen Anwendungen nutzen zu können. „Disilene und ähnliche Verbindungen, die Silene, sind das Pendant zu Alkenen, also ungesättigten Kohlenstoff-Verbindungen“, erläutert sie. Während Alkene die wichtigsten Grundstoffe der chemischen Industrie darstellen – sie bilden beispielsweise die Basis für Kunststoffe wie Polyethylen oder Polypropylen – gibt es bislang noch kaum Anwendungen für Disilene.
Das schmälert Baines Begeisterung für die Stoffgruppe wenig. „Ihr Potenzial ist riesig, etwa für neue Materialien oder Katalysatoren, die ohne Edelmetalle auskommen“, berichtet sie. Doch im Vergleich zu den Alkenen seien Silene deutlich schwieriger zu handhaben: „Es ist bei weitem nicht so einfach, aus ihnen Polymere herzustellen.“ Die Forschung liege bei der Chemie der Disilene im Vergleich zur organischen Chemie „hundert Jahre zurück“. Es habe lange gedauert, Disilene überhaupt herstellen zu können, nun sei es wichtig, die Reaktionspfade zu verstehen.
Auch Verbindungen mit dem Element Germanium – das ähnliche Eigenschaften hat wie Kohlenstoff und Silizium – interessieren die Chemikerin. Dass sich das Potenzial dieser Stoffe allmählich erschließt, ist zu einem großen Teil ihr Verdienst. Sie habe „Pionierarbeit bei der Synthese und Chemie von Germasilenen“ geleistet und „damit neue Forschungsfelder“ erschlossen, schrieb etwa die Royal Society of Canada, die Baines 2022 zum Fellow ernannte.
Einsatz für unterrepräsentierte Gruppen
„Es gibt immer tausend Dinge zu tun, aber leider hat man nie genug Zeit“, sagt die Forscherin mit einem Lachen. Tatsächlich hat sie während ihrer Karriere einiges auf die Beine gestellt: Neben ihren zahlreichen Forschungsvorhaben übernahm sie an ihrer Universität zwei Amtszeiten als Institutsleiterin und war stellvertretende Dekanin. Seit einigen Jahren setzt sie sich außerdem verstärkt für Gruppen ein, die in der Chemie unterrepräsentiert sind, etwa Frauen, People of Color oder Personen aus der indigenen Bevölkerung. „Diese Themen liegen mir sehr am Herzen, auch wenn ich keine Expertin dafür bin“, sagt sie.
Ihrem Eindruck nach ist Kanada in dieser Hinsicht politisch etwas weiter als Deutschland. „Aber wenn es darum geht, beispielsweise Professuren zu besetzen, dann hat sich in den ersten 30 Jahren meiner Karriere trotzdem nicht viel verändert“, berichtet sie. Trotz wichtiger Fortschritte in den vergangenen fünf Jahren gebe es systematische Hürden, die eine echte Chancengleichheit verhinderten, etwa unbewusste Vorurteile. „Niemand ist immun dagegen, ich auch nicht“, bekennt sie. Umso wichtiger sei es, in diesem Punkt offen zu sein und sich immer wieder selbst zu hinterfragen.
Fortschritte sieht sie immerhin in einem Bereich: Für Wissenschaftlerinnen sei es heute leichter als noch in den 1980er und 1990er Jahren, eine Familie zu gründen – auch in Deutschland. „Seit ich 1988 als Postdoktorandin für ein Jahr an der Universität Dortmund war, hat sich tatsächlich einiges verändert“, berichtet sie. Damals hätten Forscherinnen, die Kinder haben wollten, eine akademische Karriere überhaupt nicht in Betracht gezogen. Für Baines war allerdings immer klar, dass sie beides wollte – eine Familie und eine Karriere in der Wissenschaft. „Man hat mich für verrückt erklärt, aber inzwischen haben Frauen meiner Generation gezeigt, dass es funktioniert.“
Ihr wichtigster Ratschlag an junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler lautet daher: „Folgt eurer Leidenschaft!“ Die Menschen seien immer dann am glücklichsten, wenn sie tun können, was ihnen Freude macht, so ihre Beobachtung. Ihre eigene Passion für die Grundlagenforschung ist während ihrer gesamten beruflichen Laufbahn nie versiegt. „Im Juni gehe ich den Ruhestand, aber das gemeinsame Projekt mit Thomas Müller möchte ich gerne vorher noch beenden“, sagt sie. Die Arbeit geht gut voran: Das dritte gemeinsame Paper ist gerade erschienen.