Wie klingen die USA? Um diese Frage und ihre vielen Facetten geht es bald bei einer Tagung an der Universität. Amerikanist Martin Butler und Musikwissenschaftler Mario Dunkel teilen im Interview Beobachtungen aus wissenschaftlicher und ganz persönlicher Sicht.
Sie beide sind – gemeinsam mit einem Team aus Amerikanistik und Musikwissenschaft – Gastgeber der bevorstehenden Tagung „American Soundscapes“, übersetzt heißt das „Amerikanische Klanglandschaften“. Wie klingen denn die USA?
Butler: Wenn ich mit einem Wunsch antworten könnte, dann klängen Vereinigten Staaten so divers, wie sie es sich selber einmal versprochen haben zu sein. Wenn ich aber aktuell hinhöre, klingt es nach politischem Wahlkampf. Und dann hört man die Rhetorik und die Polemiken des Präsidentschaftskandidaten Donald Trump, weil die relativ lautstark sind – eine ganze Menge aus dieser Richtung. Und es fällt sofort auf, dass momentan bestimmte Dinge kaum anklingen, die anklingen sollten, etwa ein sachbezogener Diskurs. Die USA klingen gerade sehr aufgeregt.
Dunkel: Eine weiter differenzierte Beantwortung dieser Frage von zwei Kulturwissenschaftlern könnte am Ende den Rahmen des Interviews sprengen (schmunzelt)…
Greifen auch Sie gerne etwas heraus!
Dunkel: Da ist zunächst die Tatsache, dass wir permanent umgeben sind von Klängen der USA auch hier: Zeitgenössische populäre Musik ist ohne die Musikgeschichte der USA nicht denkbar. Schon wenn wir uns den Ragtime Ende des 19. Jahrhunderts anhören – und darauf achten, wie viele Ragtime-Elemente immer noch in der populären Musik sind – lässt sich dies erahnen. Oder die Geschichte des Jazz, dann Rhythm & Blues, was dann übergeht in Rock’n’Roll, woraus dann Rock hervorgeht und so weiter… Die populären Musiken der USA sind einfach ungemein tief eingeschrieben in unsere populäre Kultur, somit lässt sich kaum sagen: so klingen die USA und so klingt Europa.
Also klingt es aus musikwissenschaftlicher Sicht sozusagen überall gleich? Oder gibt es etwas, das – vielleicht für Sie persönlich – die akustische Seite der USA ausmacht?
Dunkel: Für mich persönlich sind die USA klanglich sehr mit dem Jazz verbunden. Jazz geht zum einen aus der afroamerikanischen Musikgeschichte hervor. Zum anderen ist er auch mit der Außenpolitik der USA verwoben. Jazz hat die USA zum Beispiel seit den 1950er-Jahren häufig repräsentiert – etwa im Kalten Krieg, als das US-Außenministerium Jazzbands gezielt als Kulturbotschafter um die Welt schickte und er somit in unterschiedlichen Ländern als Türöffner diente. Ähnliches passiert heute immer noch: So werden wir bei der Tagung unter anderem eine Expertin für aktuelle Hiphop-Programme des State Department auf dem Podium haben. Ich selbst forsche unter anderem zu Jazz und Diplomatie, spiele auch Jazzklavier. Der Klang dieser Musik bedeutet mir also auch sehr viel und macht für mich persönlich eine wichtige Facette der USA aus.
Butler: Für mich sind es vor allem Klänge urbaner Orte, insbesondere in New York City – zu dieser Stadt habe ich eine besondere Verbindung. Mit Manhattan assoziiere ich zum Beispiel ein bestimmtes Sirenengeheul und die Geräuschkulisse eines total überfüllten Times Square. Ich könnte noch weiter ins Detail gehen, aber das sind natürlich nicht die USA, sondern nur ein sehr kleiner Ausschnitt. Das ist ein Ort, an dem ich Freunde habe, zu dem ich also auch einen ganz persönlichen Bezug herstellen kann; an dem ich auch einen bestimmten Klang, etwa den des New Yorker Akzents, wiedererkenne und für mich als bedeutsam einordne.
Es hängt also davon ab, wie wir selbst bestimmte Klänge mit Bedeutung versehen.
Butler: Genau. Kürzlich habe ich in einem Seminar mit den Studierenden unterschiedliche Hörpraktiken ausprobiert, die jeweils darauf abzielen herauszufinden, wo ein Klang herkommt, was er bedeutet, und was für Effekte oder Affekte er produziert. Und da habe ich etwa das Geräusch einer Klimaanlage abgespielt, wie sie zum Beispiel in US-amerikanischen Großstädten an der Außenseite vieler Häuser und Wohnungen zu sehen sind, und es ist total interessant, wie Zuhörende das ohne Kontext einordnen. Um es zu beschreiben, ohne Ursache, Effekt und Bedeutung einzubeziehen, fehlt manchmal das Vokabular. Wir haben am Ende Farben benutzt: „das klingt grün“ oder „das klingt weiß“.
Das Thema Ihrer Tagung ist vielfältig. Was lässt sich auf klanglicher Ebene alles betrachten und analysieren?
Butler: Wir wollen uns unter anderem anschauen, wo Klang herkommt, wer ihn unter welchen Umständen wo und wann produziert. Auch geht es darum, wie sich Geräusche, Klang, Musik, Stimmen verbreiten. Uns interessiert auch, wer überhaupt in der Lage ist, Lärm zu machen oder sich zumindest Gehör zu verschaffen – und wer nicht? Und warum? Welche Technologien gehören dazu, welche Rolle spielen soziale Medien? Da ergeben sich Resonanzräume, auch Blasen, die bestimmte Stimmen und Sounds verstärken. Es lässt sich analysieren, wie Klänge eigentlich aufgenommen werden und Bedeutung erlangen. Und dann fragen wir auch danach, wie Klang immer mit anderen Zeichensystemen – mit dem Visuellen beispielsweise im Film – zusammenspielt und ein synästhetischer Eindruck entsteht.
Dunkel: Nicht zuletzt geht es um den musikwissenschaftlichen Blickwinkel, etwa die Frage, was macht Musik eigentlich aus? Die Bezeichnung „Musik“ ist auch eine Wertung, eine Wertzuschreibung dem Klang oder verschiedenen Klängen gegenüber, die durch die Bezeichnung anerkannt werden. In der Geschichte der Musik finden sich Musikarten, denen dies einst abgesprochen wurde. Ein Beispiel hierfür sind einige afroamerikanische musikalische Praktiken, die im 19. Jahrhundert noch oft als „Lärm“ bezeichnet wurden und nicht einmal die Anerkennung als Musik erfuhren. Auch hier fand eine Wertzuschreibung an Klänge – im Sinne einer Abwertung – statt. Das sind Dinge, die uns interessieren. Umgekehrt haben wir das Thema der Tagung eben bewusst nicht auf Musik beschränkt, sondern interessieren uns für Soundscapes, Klanglandschaften insgesamt.
Im Tagungsprogramm fiel mir ein Panel-Thema ins Auge: Pop, Politics, Populism – the Sound of the Election. Wie klingt denn Wahlkampf? Und klingt der US-Wahlkampf speziell?
Butler: Das wollen wir diskutieren. Das US-amerikanische Mediensystem und dessen Kanäle funktionieren anders als etwa in manchen europäischen Ländern. Die fabrizieren gerade jetzt ein starkes klangliches Getöse, etwa im Rahmen einer Wahlkampfveranstaltung oder eines Duells zwischen den Kandidaten. Da geht es dann – im Zusammenspiel mit dem Visuellen – darum, eine große Bühne zu schaffen für diejenigen, die antreten. Die Frage ist dann zum Beispiel, wessen Stimme sich durchsetzt. Diejenige von Trump etwa hat sich ja mittlerweile schon regelrecht im Ohr festgesetzt, nicht zuletzt dadurch, dass sie wiederholt parodiert wird. Es können aber auch bestimmte Parolen sein, die stetig, fast Mantra-artig wiederholt werden und die dann den Wahlkampf prägen. Es gibt also eine besondere klangliche und stimmliche Dimension des Wahlkampfs, über die wir sprechen wollen: Wie hört er sich an, und welche Macht hat Klang dabei?
Dunkel: Um zum Thema Stimme noch zu ergänzen: Aktuell geht es politischen Diskurs beispielsweise häufig um Alterszuschreibungen, die mit dem Klang von Stimmen assoziiert werden. New-York-Times-Kolumnist Ezra Klein hat vor wenigen Monaten in seinem Podcast den gegenwärtigen Klang der Stimme von US-Präsident Joe Biden mit ihrem Klang im vorherigen Wahlkampf vor vier Jahren verglichen. Anhand der Aufnahmen glaubte er zeigen zu können, wie sehr Biden gealtert sei. Darauf basierend argumentierte er dann, dass die Demokraten einen anderen Präsidentschaftskandidaten nominieren sollten. Das war allerdings noch vor der kraftvollen Rede Bidens zur Lage der Nation, nach der dieser dann wieder anders wahrgenommen wurde. Dies ist ein Beispiel dafür, dass dem Klang der Stimme Wesensmerkmale zugeschrieben werden. Solche Zuschreibungen können wiederum politisch wirkmächtig werden. Auch diese Ebene wollen wir diskutieren.
Zudem geht es bei dem Panel – Stichwort „Pop“ – offensichtlich auch um Musik…
Dunkel: An verschiedenen Stellen im Wahlkampf spielt Musik eine große Rolle. Zum Beispiel das Stück „Rich Men North of Richmond“ von Oliver Anthony, das kurz vor den ersten republikanischen Vorwahlen erschien. Zu Beginn einer damaligen TV-Debatte wurde der Song eingespielt, und die Kandidaten sollten Stellung nehmen zu der enthaltenen Kritik, die reichen und einflussreichen Politiker in der – nördlich von Richmond gelegenen – US-Hauptstadt Washington seien eine abgehobene Elite, die die Sorgen und Nöte der hart arbeitenden Menschen im Land ignoriere. Das zeigt, wie ein konkreter Song plötzlich im politischen Diskurs relevant wird. Und es ist ein Beispiel für einen Song, der sich einbettet in einen populistischen Gestus „Wir gegen die da oben“, gleichzeitig aber keiner Partei direkt zugeordnet werden kann. Anthony distanzierte sich anschließend von Vereinnahmungsversuchen durch republikanische Politiker.
Butler: Oder die Debatte, ob Trump sich mit Taylor Swift anlegen sollte… also wer unterstützt wen, und wer verstärkt wessen Botschaften oder eben nicht? Das sind Celebrities, die etwa aus der Popmusik kommen und auch ihre Stimme einbringen. All diese Facetten lassen sich betrachten – ebenso wie natürlich die Frage, wie Algorithmen etwa in Social-Media-Apps bestimmte Stimmen und Klänge begünstigen und zusätzlich verstärken.
Zum Schluss die Frage: Wie klingt denn dann eigentlich die Konferenz?
Butler: Hoffentlich über das Hörsaalzentrum und über die Fachwelt hinaus – so dass man von der Konferenz hört. Ich fände es schön, wenn die Tagung zum Beispiel auch in die Stadt hinein klingt.
Dunkel: Ein bisschen schief könnte es auch werden, denn wir richten im Rahmenprogramm auch einen Karaoke-Abend für die Teilnehmenden aus (beide lachen).
Interview: Deike Stolz