Das Projektziel

Vision CHILL³

Der stetig wachsende Mobilitätsbedarf stellt Verkehrsinfrastrukturen insbesondere im innerstädtischen Bereich vor neue Herausforderungen. Verkehrsstaus und lange Schlangen vor Lichtsignalanlagen lassen die Zeit bis zum Erreichen eines gewünschten Zieles nicht nur zu den Stoßzeiten immer länger werden sondern verschlechtern durch Emissionen auch zunehmend die Luftqualität. Langfristig soll daher der Verkehr durch ein verteiltes, kooperierendes System geleitet werden. Dies inkludiert alle motorisierten- und nicht-motorisierten Verkehrsteilnehmer sowie Verkehrsinfrastrukturen. Dabei optimiert das System den Verkehrsfluss bzgl. verschiedener Metriken, welche sich sowohl auf das Gesamtwohl - bspw. die Reduktion von Treibhausgasen & Erhöhung der Verkehrssicherheit - als auch auf das Wohl jedes einzelnen Teilnehmers - bspw. die Reduktion der Fahrzeit - auswirken. Besonderer Wert soll dabei auf den Erhalt oder ggf. die Erhöhung der Verkehrssicherheit (Safety) gelegt werden. Hierzu ist es erforderlich, dass die Verkehrsteilnehmer Informationen untereinander sowie mit verfügbaren Verkehrsinfrastrukturen und einem Verkehrsmanagementsystem austauschen, um kooperieren zu können. Ferner sollen die Verkehrsteilnehmer in geeigneter Weise audiovisuell informiert werden. Dies bezieht sich sowohl auf autonom- als auch nicht-autonome Fahrzeuge und alle übrigen Verkehrsteilnehmer. Das System muss dabei realzeitfähig sein, um dynamisch auf die aktuelle Verkehrssituation reagieren zu können und sich bspw. bei spürbaren Verzögerungen dem Verkehrsfluss anpassen können. Des Weiteren stellt ein solches System sehr hohe Anforderungen an die Sicherheitsaspekte Safety und Security. Insbesondere die erforderliche Kommunikation zwischen den Teilnehmern der Systems bietet eine breite Angriffsfläche, um im Worst Case aus der Ferne das Verkehrssystem einer ganzen Stadt lahmzulegen, so dass geeignete Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die Sicherheit der Verkehrsteilnehmer zu garantieren.

Im Rahmen der Projektgruppe CHILL³ (Cooperation of Humans, Infrastructure and Linked Limousines), soll als exemplarischer Anwendungsfall die Minimierung der Hilfsfrist von Rettungsdiensten in einem Stadtgebiet betrachtet werden. Hierzu soll ein erweiterbares System entwickelt werden, welches bspw. mittels einer dynamischen Rettungsgasse die Anfahrtszeit der Rettungskräfte verringert. Die Hilfsfrist ist dabei die Zeit zwischen dem Einsatzbefehl der Leitstelle bis zum Eintreffen der alarmierten Kräfte am Ort des Hilfesuchenden. In Niedersachsen soll diese Zeit in 95 % der Fälle kleiner als 15 Minuten sein [BedarfVO-RettD (Nds. GVBl. 1993, 1)]. Wird der Leitstelle ein Notfall gemeldet, so leitet diese die Informationen an die verfügbaren Rettungskräfte und ein globales Verkehrsmanagementsystem weiter. Das Verkehrsmanagementsystem berechnet auf Grundlage der aktuellen Verkehrssituation die optimale Route für die Rettungskräfte und spielt diese Informationen direkt in die Navigationssysteme der jeweiligen Einsatzfahrzeuge. Des Weiteren sorgt das Verkehrsmanagementsystem dynamisch dafür, dass die Rettungskräfte möglichst ungehindert anfahren können, indem bspw. die Ampelphasen optimiert und eine freie Rettungsgasse gebildet wird. Dazu ist es erforderlich, alle Verkehrsteilnehmer entlang der geplanten Route audiovisuell über die bevorstehende Durchfahrt der Einsatzfahrzeuge, in vielen Fällen bevor diese die Einsatzfahrzeuge wahrnehmen können, zu informieren. Im Rahmen einer prototypischen Realisierung ist es angedacht, vorhandene Infrastrukturen zu nutzen, wie (veränderte) Ampelsignale, Navigationssysteme oder Smartphones. Auf diese Weise könnten den nicht-autonomen Verkehrsteilnehmern Verhaltensanweisungen wie das Wechseln einer Spur geben werden, um eine dynamische Rettungsgasse zu bilden. Vollautonome Fahrzeuge könnten diese Anweisungen automatisch umsetzen, sollten die Fahrzeuginsassen jedoch über entsprechende Aktionen informieren.

Das System  DyReC (DyReC: DYnamic REscue Chill) - das Produkt der Projektgruppe CHILL - soll so weit möglich auf vorhandener Infrastruktur aufbauen. Dies betrifft insbesondere die Verkehrsinfrastruktur, da ein Nachrüsten von bspw. LED-Anzeigetafeln, um die Nutzer über Entscheidungen des Systems zu informieren, sehr kostspielig wäre. Stattdessen sollen für nicht-motorisierte Verkehrsteilnehmer die vorhandenen Ampelanlagen zusätzlich zu deren Smartphones verwendet werden und vorhandene Lautsprecher zur Warnung sehbehinderter Personen im Falle der Durchfahrt eines Rettungsfahrzeugs mit einem anderen Ton bespielt werden. Des Weiteren soll eine rote Ampel im Fall eines sich nähernden Rettungsfahrzeugs rot blinken, anstatt konstant rot zu leuchten, eine entsprechende Anpassung der aktuellen StVO sei dabei vorausgesetzt. Motorisierte Verkehrsteilnehmer sollen über die Navigationssysteme der Fahrzeuge informiert werden, welche über eine V2X-Kommunikationseinrichtung verfügen. Hier wird davon ausgegangen, dass alle Verkehrsteilnehmer bereits über ein geeignetes Navigationssystem verfügt.

Die Verkehrsinfrastruktur verfügt über Sensoren wie bspw. Induktionsschleifen und Kameras, mit denen die Position der Verkehrsteilnehmer ermittelt wird. Die damit gewonnenen Informationen werden unter anderem mit den GPS-Informationen der Navigationssysteme von motorisierten Teilnehmern und entsprechenden Informationen von VRU’s über deren Smartphone-Apps angereichert die mittels V2X empfangen werden.

An geeigneten Knotenpunkten der Verkehrsinfrastruktur (bspw. Ampelanlagen) wird eine lokale Verkehrsmanagement Komponente hinzugefügt. Diese beinhaltet die Optimierung des lokalen Verkehrsgeschehens zur Bildung einer dynamischen Rettungsgasse im Falle der Durchfahrt eines Einsatzfahrzeugs. Das (globale) Verkehrsmanagementsystem kennt die grobe Verkehrsauslastung der Stadt und kann auf Grundlage dieser Daten das Routing des Einsatzfahrzeugs für den Einsatzleitrechner (ELR) bereitstellen, welche die Route der Rettungsfahrzeuge berechnet. Dazu informieren die lokalen Knotenpunkte das Verkehrsmanagementsystem aggregiert über das aktuelle Verkehrsgeschehen. Ferner dient das globale Verkehrsmanagementsystem als Kommunikationsschnittstelle für die Rettungsleitstelle und identifiziert die lokalen Knotenpunkte der Verkehrsinfrastruktur, um diese über die bevorstehende Alarmfahrt zu informieren. Die lokalen Knoten der Infrastruktur kommunizieren mit den Verkehrsteilnehmern in ihrem lokalen Zuständigkeitsbereich und mit anderen benachbarten Knotenpunkten. Ergänzend können auch die Verkehrsteilnehmer in einem Abschnitt Informationen untereinander austauschen. Durch die Kommunikation der lokalen Knotenpunkte werden die lokalen Teiloptimierungen aufeinander abgestimmt. Ein weiterer Vorteil ist, dass im Falle des Ausfalls des globalen Verkehrsmanagementsystems Teilfunktionalitäten des Gesamtsystems aufrechterhalten werden können.

Für eine prototypische Implementierung des Produkts DyReC können große Teile des Gesamtsystems nur virtuell untersucht werden, da keine mit entsprechenden Ampeln und Sensoren ausgestattete reale Teststrecke zur Verfügung steht. Daher soll eine entsprechende Teststrecke in SUMO virtuell nachgebaut werden, wobei das Verhalten des Verkehrsmanagementsystems, der lokalen Knotenpunkte sowie der beweglichen Verkehrsteilnehmer in Software emuliert wird. Zudem muss auch die Kommunikation zwischen den Verkehrsteilnehmern emuliert werden. Dabei werden notwendige Informationen identifiziert und ggf. beispielhaft an einer realen Hardware getestet, ob die virtuelle Kommunikation in der realen Welt umgesetzt werden könnte.

Die Kommunikation mit dem Benutzer erfolgt audiovisuell über die Verkehrsinfrastruktur sowie lokale Geräte wie bspw. Navigationssysteme und Smartphones. Eine Darstellung der Information aller Verkehrsteilnehmer während der Simulation ist aus Performanzgründen nicht realisierbar. Stattdessen werden die virtuellen Steuersignale welche bspw. zur Steuerung von Ampeln dienen in ein Testprogramm geleitet, welches ggf. prüft, ob zeitlich Constraints eingehalten wurden und die Ergebnisse als Fehlerlog und in aggregierter Form ausgibt. Exemplarisch kann die Ausgabe an den Nutzer für einen Ego-Teilnehmer im Rahmen eines Screencasts am Bildschirm dargestellt werden. Die Informationsausgabe von Navigationssystemen und Smartphones kann exemplarisch mit einem Tablet als Analogon dargestellt werden. Um festzustellen, ob das System DyReC eine Optimierung der Hilfsfrist bewirkt, werden verschiedene Verkehrsszenarien definiert, welche in SUMO mit Referenzverkehrsflusssystemen verglichen werden. Die Referenzverkehrsflusssysteme sollen dabei andere Features als DyReC aufweisen. Dabei ist insbesondere von Interesse, unter welchen Einflussfaktoren (bspw. Verkehrsdichte) DyReC die Hilfsfrist optimiert.

(Stand: 16.03.2023)  |