Zwischen Naturschutz und Theoretischer Ökologie:
Modelle zur Habitateignung und räumlichen Populationsdynamik für Heuschrecken im Niedermoor
 

Landschaftsökologie und Umweltforschung 35: 256 S.
Selbstverlag Institut für Geographie und Geoökologie
der Technischen Universität Braunschweig

Dissertation Boris Schröder (2000)

Zusammenfassung

Ziel der Arbeit war es, eine räumlich strukturierte Heuschreckenpopulation im Niedermoor in Abhängigkeit von ihrem Lebensraum zu beschreiben. Dabei wurde ein verschiedene Ansätze umfassender Modellverbund geschaffen, der die Bewertung von Auswirkungen verschiedener Managementmaßnahmen möglich macht.
Abschnitt 1 stellt das den Rahmen der Arbeit liefernde BMBF-Verbundprojekt, die Untersuchungsgebiete, die untersuchten Zielarten sowie die Erfassungsmethoden vor. Die Habitatmodelle der Abschnitte 2 und 3 beruhen auf Daten aus den Jahren 1995 bis 1997, die im Drömling durch ca. 1700 Transektbegehungen auf knapp 500 flächenhaften Biotopen und ca. 200 Grabenrandstrukturen erhoben wurden. Für das Rhinluch lagen die Daten von ca. 580 Transektbegehungen auf ca. 120 Untersuchungsflächen vor.
In Abschnitt 2 wird die Art-Habitat-Beziehung mit Hilfe umfangreicher Habitateignungsmodelle für C. dorsalis umfassend, für S. grossum weniger intensiv, analysiert. Mittels logistischer Regression werden die Habitatmodelle auf Grundlage verschiedener, hinsichtlich Erfassungsaufwand und Komplexität hierarchisch gegliederter Datenqualitäten erstellt. Mit zunehmender Anzahl der Prädiktorvariablen verbessert sich die Prognosegüte der Modelle. Auch die Qualität der Variablen erhöht die Prognosegüte und ermöglicht die Beschreibung weiterer Dimensionen der Nische. Die Abwägung zwischen erzielbaren Ergebnissen und dem dafür eingesetzten Erfassungsaufwand wird im Licht der Modellanwendung in der Planung diskutiert. Der – bei C. dorsalis geringe – Einfluß der Autokorrelation in den Daten auf die Modellvorhersagen wird abgeschätzt. Die Prognosegüten der kreuzvalidierten Modelle liegen für C. dorsalis zwischen ca. 63% für das Biotoptyp-Modell, ca. 74% für das Habitatfaktor-Modell und ca. 78% für das Vegetationsstruktur-Modell, bei S. grossum insgesamt etwas niedriger.
Die Habitatmodelle werden mittels einer bislang kaum verwendeten Methodik (receiver-operating-characterstic, ROC-Kurven) hinsichtlich ihrer statistischen Signifikanz bewertet. Inhaltlich erfolgt eine Beurteilung hinsichtlich ihrer ökologischen Bedeutung. Dabei werden Charakterisierungen „optimaler“ Habitate für beide Heuschreckenarten abgeleitet. Die Auswirkung von Nutzungsänderungen in Extensivierungs- und Intensivierungsszenarien auf die räumliche Inzidenzverteilung wird abgeschätzt. Während für C. dorsalis erhebliche positive bzw. negative Ver-änderungen der Habitatqualität prognostiziert werden, ergibt sich für S. grossum ein eher indifferentes Bild.
Abschnitt 3 widmet sich der Validierung der Habitatmodelle aus Abschnitt 2 durch Modellübertragungen auf Datensätze anderer Untersuchungsjahre und/oder -gebiete. Die Bewertung der Übertragbarkeit erfolgt dabei mittels eines neuen Verfahrens, das auf dem Vergleich von schwellenwertunabhängigen Modellklassifikationen mit denen von Zufallsmodellen beruht. Da die Habitatmodelle überwiegend übertragbar sind, kann von ihrer allgemeinen Gültigkeit für norddeutsche Niedermoore ausgegangen werden. Die für C. dorsalis entwickelten Modelle lassen sich besser übertragen als die für S. grossum, und die zeitliche Übertragbarkeit ist im Allgemeinen besser als die räumliche.
In Abschnitt 4 wird auf Grundlage einer Habitateignungskarte für C. dorsalis eine Habitatkonnektivitätsanalyse durchgeführt. Das Verfahren stellt eine Verknüpfung von Perkolationstheorie und Landschaftsgraphen dar. Hierbei wird die Vernetzung der Habitate in einer dichotomisierten Landschaft durch die Korrelationslänge quantifiziert. Der Einfluß unterschiedlicher Habitatdichten – kontrolliert über den Schwellenwert der Habitatklassifizierung – und verschiedener mittlerer Ausbreitungsdistanzen bzw. kritischer Habitatdistanzen wird analysiert. Auch die Effekte von möglicherweise als Korridore wirkenden Gräben und von Ausbreitungsbarrieren auf die Korrelationslänge werden dargestellt. Anhand eines Beispiels wird die Eignung dieser Methode zur Detektion von Trittsteinbiotopen und zur Quantifizierung ihres Beitrags für die Habitatkonnektivität im Untersuchungsgebiet demonstriert.
Abschnitt 5 schließlich leistet die Verknüpfung der Habitatmodelle mit einem populationsdynamischen Modellansatz zu einem räumlich expliziten Simulationsmodell, dem „Dynamischen Multihabitatmodell“ (DMHM). Aufgrund der Datenlage bleibt seine Analyse auf theoretische Aspekte beschränkt. Das DMHM ist ein rasterbasiertes Modell (zellulärer Automat bzw. coupled map lattice), dessen Gitter durch eine Habitateignungskarte vorgegeben wird. Auf jeder Rasterzelle wird die Populationsdynamik durch ein lokales Leslie-Modell beschrieben, welches über die Ausbreitung mit seinen Nachbarpopulationen verbunden ist.
Der Abschnitt dokumentiert die Entwicklung vom einfachen nicht-räumlichen Leslie-Modell zum DMHM, wobei auf Möglichkeiten zur Modellerweiterung und verschiedene Aspekte der Analyse hingewiesen wird. Durch eine Stabilitäts- und Bifurkationsanalyse werden die Stabilitätsbedingungen der stationären Zustände des nicht-räumlichen Modells untersucht. Aufgrund der Dichteabhängigkeit ist bei zunehmender maximaler Fekundität eine Entwicklung der Dynamik über stabile Gleichgewichtspunkte und -zyklen bis zum deterministischen Chaos festzustellen.
Die Populationsdynamik des räumlichen Systems wird nicht nur durch die lokale Dynamik auf den einzelnen Rasterzellen, sondern auch durch die Ausbreitungscharakteristik bestimmt und ist auch von der zugrundeliegenden Habitatkarte abhängig. Analog zum nicht-räumlichen Modell werden mit Hilfe von Simulationen für das räumliche Modell Stabilitätsuntersuchungen durchgeführt. Die Untersuchung der Besiedlungsdynamik vermittelt, daß die Ausbreitung durch eine hohe Fekundität, eine hohe Ausbreitungsrate sowie eine hohe Habitatqualität gefördert wird. Diese Parameter werden hinsichtlich ihres Einflusses auf die Stabilität der Lokalpopulationen und der Gesamtpopulation im räumlichen Modell untersucht. Hierbei läßt sich selbst bei einer unstrukturierten Habitateignungskarte und rein deterministischer Ausbreitung eine vielfältige und komplexe Dynamik mit räumlich strukturierten Oszillationen der Imaginalabundanzen feststellen. Bei höheren Ausbreitungsraten kann es zur Synchronisierung der Dynamik sämtlicher Lokalpopulationen kommen, die große Amplituden der Oszillationen der Gesamtpopulation hervorruft. Dieser Effekt wird bei dichteabhängiger Ausbreitung noch verstärkt.
Die Stabilität ändert sich in Abhängigkeit von der Ausbreitungsrate nicht, wenngleich bei chaotischer Dynamik der Lokalpopulationen „Fenster“ mit eingeschränkter Dynamik zu erkennen sind. So zeigen die Lokalpopulationen im räumlichen Modell stärker eingegrenzte Abundanzen. Diese Stabilisierung ist aber nicht struktureller Art, denn die Lokalpopulationen des räumlichen Modells behalten bei entsprechenden Simulationsparametern ihr chaotisches Verhalten.


Das DMHM liefert eine Plattform, deren dynamisches Verhalten nunmehr relativ gut verstanden ist. Um drängende Fragen aus dem Bereich der Naturschutzbiologie mit seiner Hilfe zu beantworten, muß es an die spezifischen Gegebenheiten angepaßt und mit Leben gefüllt, d.h. auf adäquater Datengrundlage parametrisiert werden. Dann können z.B. die Auswirkungen räumlich und zeitlich korrelierter Habitatveränderungen untersucht oder die Wahrscheinlichkeit für Wiederbesiedlungen nach lokalen Extinktionen im räumlichen Kontext ermittelt werden. Es wäre dann ein wertvolles Werkzeug für den Naturschutz.
Die entwickelten und durch räumliche und zeitliche Modellübertragungen validierten statistischen Habitatmodelle leisten hierzu auf einer anderen Ebene ihren Beitrag. Sie ermöglichen eine Formalisierung der Art-Habitat-Beziehung, die sowohl erklärend als auch prädiktiv eingesetzt werden kann. Daß sich dabei Erfassungsaufwand, Prognosegüte und generelle Anwendbarkeit nicht gleichzeitig optimieren lassen, zeigt die Arbeit. Ebenso wird deutlich, wie wichtig eine adäquate Repräsentation der räumlichen Zusammenhänge ist, wenn man versucht, das Mosaik der Lebensräume auf den verschiedenen relevanten Skalenebenen zu beschreiben und zu verstehen. Die Habitatkonnektivitätsanalyse stellt dazu einen vielversprechenden Ansatz dar.
Die eher theoretische Aspekte behandelnde Analyse des Dynamischen Multihabitatmodells führt zur Fragestellung der Stabilität in räumlich heterogenen Populationen. Damit bezieht sich der letzte Abschnitt dieser Arbeit nicht nur auf ein hochaktuelles Thema der Theoretischen Ökologie, sondern er schließt damit gleichzeitig den Kreis zu wesentlichen Fragen des Naturschutzes. Ein sinnvolles Naturschutzmanagement ist nur auf der Grundlage eines theoretischen Verständnisses der Prozesse möglich, die in räumlich heterogenen und zeitlichen Veränderungen unterworfenen Lebensräumen die Populationen und Lebensgemeinschaften beeinflussen. Zu der dafür notwendigen Verknüpfung verschiedener Ansätze aus Populationsökologie, Landschaftsökologie und Theoretischer Ökologie leistet meine Arbeit einen Beitrag.