Promotionsprojekt

Tom Wappler

PROMOTIONSPROJEKT

Intertextualität als musikkulturelle Praxis in der Oper Ende des 18. Jahrhunderts

ABSTRACT

Intertextualität ist ein vielschichtiger Begriff, der jedoch im bisherigen Diskurs stark auf die materielle Seite, im Falle der Musik auf den (Noten-)Text, bezogen bleibt. Das Promotionsprojekt möchte durch die Neuperspektivierung von Intertextualität im Rahmen musikkultureller Praxis in der Opernkultur Europas der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts diese Einseitigkeit auf der Inhaltsebene aufbrechen, auf die unterschiedlichen Praktiken, die auf Intertextualität abzielen oder durch sie ausgelöst werden, aufmerksam machen und danach fragen, wie diese Praktiken sich in einem Gefüge von musikalischem Prä- und Posttext und ihren jeweiligen (Ko-)Akteuren konkretisieren lassen.

Im nicht mehr allein in der Literaturwissenschaft geführten Diskurs zu Intertextualität bleiben bis heute zwei Theorien wirkmächtig, die gleichzeitig die Spannbreite der Forschung abbilden. Es geht um die Verhandlung der Frage, ob in Verweisstrukturen ein universales, d.h. jegliche Texte betreffendes Merkmal oder aber eine textanalytisch erfassbare Eigenschaft bestimmter Texte gesehen wird. In Bezug auf Musik wäre also darüber nachzudenken, in wie weit eine Komposition sich immer schon „als Mosaik von Zitaten“ aufbaut, „Absorption und Transformation“ (Kristeva 1972, S. 348) einer anderen Komposition darstellt und die in sie eingeschriebene Musik selbst immer schon im Sinne eines unendlichen Regresses (vgl. Pfister 1985) beschriebene Musik ist. Oder fokussiert man stattdessen in Anlehnung an literaturwissenschaftliches Vokabular Kompositionstechniken des Zitierens, Persiflierens, Anspielens, Parodierens, Collagierens etc., deren Typologisierung  zum Werkzeug der Textanalyse erhoben wird (vgl. etwa Genette 1993; Finscher 1998), und fragt dabei nach der Codierung der Textbedeutung durch den Autor und der Decodierung dieser durch den Leser?

So stark die Polarität der Konzepte auch hervortritt, ihnen ist letztlich eine „im und am Material“ verweilende Argumentation gemeinsam. Wird die Produktivität des Verweisens auf die Texte selbst übertragen, hebelt das eine auf Werkautonomie konzentrierte Argumentation aus, da Textgrenzen prinzipiell durchlässig sind und Texte (und nicht die Subjekts) zu jeder Zeit sich gegenseitig durchdringen. Außerdem wird das Konzept eines genial-schöpferischen Autor- oder Komponisten-Subjekts aufgebrochen, indem er zum „kompilatorischen Schreiber […] degradiert“ wird (Berndt & Tonger-Erk 2013, S. 50), was heißt, dass er Intertextualität gar nicht steuern kann. An seine Stelle rückt nach Roland Barthes der Leser (Barthes 2000). In der Kritik der Hermeneutik scheint aber auch dieser entsubjektiviert, da angenommen wird, dass er wie der Autor sich letztlich in der Pluralität der Texte, die durch ihn fließen und die er beim Lesen einbringt, aufgeht (Pfister 1985, S. 21). Stärkt man in ihrem Sinne hingegen als Gelingensbedingung von Intertextualität die in den Text und dem Verweis verschlüsselte Autorintention und die Position des erkennenden Lesers (vgl. Holthuis 1993), (re-)konstruiert man wiederum ein autonomes Autor- sowie mit allen Kompetenzen ausgestattetes Leser-Subjekt, das die poststrukturalistische Kritik überhaupt erst hervorrief. Das zurückgewonnene Subjekt erscheint als ein an den Text zurückgebundenes und idealisiertes: Der Autor und seine Intentionen lassen sich nur aus dem Text heraus interpretieren und der Leser ist nicht der reale, sondern der fiktive Rezipient, wenn man davon ausgeht, dass nur durch das Erkennen von intertextuellen Qualitäten eben diese in Gang gesetzt werden (ebd., S. 32), wodurch der Rezipient immer und überall die Kompetenz des Erfassens von Verweisen unter Beweis stellen müsste. Ein Nicht-Erkennen führte dann zu einem Nicht-Vorhandensein von Intertextualität.

Weder dekonstruierte noch konstruierte Subjekt-Konzepte sind für mein Promotionsprojekt, das sich genau für den Kontext von und den Umgang der verschiedenen AkteurInnen mit Verweisen interessiert, belastbar. Es möchte eine neue Perspektive, die des auf die Musik bezogenen „kulturellen Handelns“ (Rode-Breymann 2007), auf Intertextualität anwenden. Musikkulturelles Handeln interessiert sich auch aufgrund der Gefahr der Überhöhung des Individuums nicht mehr für eine Geschichtsschreibung, die den Komponisten und sein Werk zentriert, sondern die Praktiken und ihre Akteurinnen und Akteure berücksichtigt – neben dem Komponieren etwa Aufführen, Singen, Vermitteln, Verlegen, Sammeln –, ohne die die Kompositionen „keine Lebenschance“ haben (ebd., S. 279). Das Forschungsinteresse liegt dabei in der Untersuchung des Phänomens Oper Ende des 18. Jahrhunderts und seinen musikkulturellen Praktiken, die einen Umgang mit Verweisstrukturen demonstrieren, d.h. auf Intertextualität abzielen oder in weiteren Schritten durch sie ausgelöst werden, sprich weitere intertextuelle Praktiken nach sich ziehen. Die Oper Prima la musica e poi le parole (UA Wien 1786) des Librettisten Giambattista Casti und des Komponisten Antonio Salieri kann hierbei exemplifizierend herangezogen werden: Sie nimmt als so genanntes metamelodramma die Opera seria insgesamt ins satirische Visier, ist aber ebenso von Casti und Salieri mit einer Reihe von Verweisen auf Giuseppe Castis Oper Giulio Sabino versehen worden, da die Bühnenhandlung von Prima la musica mehrere Probeszenen eben jener real existierenden Aufführung enthält (vgl. Betzwieser 2013, Vorwort zu Prima la musica). Bezeichnenderweise leitete Salieri selbst die Wiener Fassung dieser Oper ein Jahr zuvor: 1785. Zudem sang Nancy Storace in der Hauptrolle der Donna Eleonora nicht nur die aus dem Sabino zitierten und in der Wiener Aufführung vom gefeierten Kastraten Luigi Marchesi dargebotenen Arien, sondern imitierte gleichzeitig dessen Gesangstechnik. Das stellte nicht nur eine Karikatur des Kastratentums insgesamt dar, sondern gründete auch auf persönlichen Begegnungen Storaces und Marchesis bei ihrer gemeinsamen Anstellung am Florentiner Theater wenige Jahre zuvor (Armbruster 2001).

Intertextualität ist also mehrfach verankert. Sie ist im musikalischen Material zu finden durch Salieris Komponieren mit Verweisen, sie wird stimmlich-körperlich dargeboten und inszeniert durch Storace, die Zitate werden in einem ganz bestimmten zeitlich-räumlichen Umfeld erfahren (Wien Mitte der 1780er Jahre) und persönliche Konstellationen werden mittels Intertextualität sichtbar. Das Projekt interessiert sich mit dieser Auffächerung nicht allein für die inhaltliche Ebene von Bezugnahmen auf andere Texte – d.h. für Fragen nach der text- und musikdramaturgischen Relevanz von Intertextualität –, sondern ebenso dafür, wie in einem Gefüge von teilnehmenden Komponisten, Librettisten, Publika, SängerInnen, Performances und Aufführungsorten der Prä- bzw. Postkomposition ein handelndes „Verweis-Subjekt“ in Erscheinung tritt. Welche Rolle spielen mithin die durch Intertextualität neben den Textinhalten mit-aufgerufenen Personen, Handlungen, Räume und Interpretationen in den Praktiken des Verweisens und wie wirken sie auf die Herausbildung eines verweisenden Subjekts ein?

Literatur

Armbruster, Richard: Das Opernzitat bei Mozart, Diss., Kassel 2001.

Barthes, Roland: „Der Tod des Autors“, übers. von Matias Martinez, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hrsg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko, Stuttgart 2000, S. 185-193.

Berndt, Frauke; Tonger-Erk, Lily: Intertextualität. Eine Einführung, Berlin 2013.

Betzwieser, Thomas: Vorwort zu: Casti, Giambattista; Salieri, Antonio: Prima la musica e poi le parole. Divertimento teatrale in un atto, hrsg. von Thomas Betzwieser, Adrian La Salvia und Christine Siegert, Kassel 2013.

Finscher, Ludwig: „Intertextualität in der Musikgeschichte“, in: Musik als Text. Bericht über den Internationalen Kongreß der Gesellschaft für Musikforschung Freiburg im Breisgau 1993, hrsg. von Hermann Danuser und Tobias Plebuch, Bd. 1, Kassel 1998, S. 50-53.

Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, übers. von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt am Main 1993.

Holthuis, Susanne: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption, Diss., Tübingen 1993.

Kristeva, Julia: „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“, in: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 3, hrsg. von Jens Ihwe, Frankfurt am Main 1972, S. 345-375.

Pfister, Manfred: „Konzepte der Intertextualität“, in: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, hrsg. von Ulrich Broich und dems., Tübingen 1985, S. 1-30.

Rode-Breymann, Susanne: „Wer war Katharina Gerlach? Über den Nutzen der Perspektive kulturellen Handelns für die musikwissenschaftliche Frauenforschung“, in: Orte der Musik. Kulturelles Handeln von Frauen in der Stadt, hrsg. von ders., Köln 2007, S. 269-284.

(Stand: 16.03.2023)  |