Promotionsprojekt

Bianca Patricia Pick

Promotionsprojekt

Distanznahme als Strategie in der Literatur von Überlebenden der Shoah

Über die Erfahrung von Distanz zur es umgebenden Welt bildet sich das Subjekt selbst. Von dieser Hypothese ausgehend erfasst das Dissertationsprojekt Distanzierungen als eine Strategie literarischen Schreibens. Ziel der Arbeit ist es, eine über die Praktik der Distanznahme verlaufende Wiedergewinnung und Behauptung von Subjektivität in den literarischen Texten von Überlebenden der Shoah sichtbar zu machen.

Das Promotionsprojekt versucht eine Antwort auf die Frage zu finden, ob ein Mensch, der zum Opfer gemacht worden ist und in den ‚Abgrund‘ schaute, sich als Subjekt im literarischen Schreiben konstituieren kann. Die Ausgangsfrage lautet daher: Wie gehen Überlebende der Shoah schreibend mit ihren Erinnerungen um? An diese Frage schließt sich eine weitere an: Distanz, wovon und wozu?

Aufschluss darüber, wie Überlebende der Shoah traumatische Erfahrungen von Diskriminierung und Gewalt vergegenwärtigen, geben die Texte von Jean Améry, Albert Drach, Edgar Hilsenrath, Ruth Klüger, Primo Levi und Imre Kertész. In den Blick geraten damit Werke von jüdischen Verfolgten des Nationalsozialismus, die, so die hier vertretene These, Distanzierung als literarischen Stil nutzen, um ihre autobiografischen Erfahrungen und ihre ‚Opferrolle‘ zu thematisieren. Auf dieser Textgrundlage werden sich Facetten einer Re-Subjektivierung abzeichnen.

Re-Subjektivierung bezieht sich hier auf den individuellen Versuch eines entmachteten Subjekts, seiner eigenen Subjektwerdung im literarischen Schreiben Ausdruck zu verleihen. In diesem Sinn versteht sich die Arbeit als Versuch, die Perspektive Überlebender auf neue Weise in den Blick zu nehmen. Diese verhalten sich nicht nur schreibend zu sich selbst. Sondern Distanznahme ermöglicht den Autoren und Autorinnen auf je eigene Weise, ‚weniger‘ Opfer zu sein. Mit Hilfe eines praxeologischen Ansatzes gelangt das Dissertationsprojekt zu der Hypothese, dass sich beispielsweise durch den Sarkasmus sogar eine entviktimisierte Form der Subjektivierung im Text belegen lässt. Dass damit auch der Autor die Opferrolle im Erzählen mittels Sarkasmus abwehren kann, beruht auf einer Textbeobachtung. Die Arbeit macht demnach auf eine Leerstelle im literaturwissenschaftlichen Diskurs aufmerksam, die nicht nur das einzelne Phänomen ‚Sarkasmus‘ in der Literatur betrifft. Neben Sarkasmus, den Burkhard Meyer-Sickendiek (Was ist literarischer Sarkasmus? Ein Beitrag zur deutsch-jüdischen Moderne, 2009) vornehmlich kulturhistorisch untersucht, erweist Sarkasmus sich als ein literarischer Stil, der den Schreibenden Distanz ermöglicht.

Auf der Ebene der Darstellung ließen sich im Rahmen der begonnenen Textanalyse vier weitere Stilformen ermitteln, in denen sich eine distanzierende Erzählhaltung zeigt: das Groteske, das Ressentiment, die Reflexion und der Protokollstil. Sie werden als literarische Formen der Distanzierung untersucht, in denen die Überlebenden sowohl über ihre traumatischen Erfahrungen schreiben als auch sich schreibend behaupten oder gar zur Wehr setzen. Darüberhinaus können Sarkasmus, Groteske, Ressentiment, Reflexion und Protokollstil als Formen der Distanzierung in der deutschsprachigen Shoah-Literatur beschrieben werden, sodass sich die literarischen Texte von Überlebenden der Shoah („Überlebendenliteratur“, Günter bzw. „literature of survival“, Ezrahi) auf dieser Grundlage in neuer Hinsicht literaturwissenschaftlich verorten lassen. Wenn die Autoren in ihren Texten zum Beispiel mittels Sarkasmus Kritik üben, dann verleihen sie zum einen ihren Aggressionen Ausdruck. Zum anderen heben die hier bereits angestellten Vorüberlegungen zu einem autobiografischen Sarkasmus die Darstellungen realer Opfer des nationalsozialistischen Terrorregimes als Erzählungen hervor, in denen der Autor Aufgezwungenes abwehrt.

Nimmt der Autor also Distanz ein, behauptet er einen Bezugsraum. Durch Distanznahme wird ein Reflexionsraum geschaffen, der es den Schreibenden ermöglicht, einen eigenen – entviktimisierten – Subjektentwurf zu kreieren.

In diesem Sinn zeichnet auch das Ressentiment eine Distanzbewegung aus: Wenn ein von Gewalt betroffener Autor erfahrenes Leid und vergangene Situationen mithilfe des Ressentiments autobiografisch erzählt, dann hält er sowohl die Gewalterfahrung als auch sein Umfeld literarisch auf Abstand. Ziel wird es daher sein, das konstruktive Potenzial des Ressentiments hervorzuheben, das hier als eine produktive Unversöhnlichkeit erfasst wird.

Distanznahme im Erzählen ist auf zeitlich und/oder räumlich präfigurierte Distanz nicht angewiesen. Argumentationen, wie die von Gerhard Lauer, Merkmale von Sarkasmus in autobiografischen Texten mit zeitlicher Distanz zu begründen, sind daher grundsätzlich zu überdenken. Literarischer Sarkasmus wäre nach Lauer zeitlich präfiguriert, könnte also nur durch zeitlichen Abstand vom Erlebten als literarische Strategie Anwendung finden. Formen der Distanz beruhen vielmehr darauf, dass sich der Abstand zwischen Erlebtem und Erzähltem zwar auf distanziertes Erzählen und auf die Intentionalität des Textes auswirken kann, diesen zeitlichen Abstand prinzipiell aber nicht verlangt. Aus dem Grund enthält das Korpus Texte, die sowohl in den 1940er Jahren als auch Anfang der 1990er Jahre entstanden sind.

Aus literaturwissenschaftlicher Forschungsperspektive leistet das Projekt einen Beitrag, Distanzierung als Kategorie in der Literatur zu untersuchen. Einzelne Phänomene in der „Überlebendenliteratur“ lassen sich auf diese Weise erstens unter dem Aspekt der Distanznahme erfassen, zweitens einer autorseitigen Strategie zuordnen und können drittens als literarische Erscheinungsformen einer über Distanz erfolgenden Re-Subjektivierung herausgearbeitet werden.

Literatur:

Ezrahi, Sidra DeKoven: By Words alone. The Holocaust in Literature. Chicago, London, Univ. of Chicago Press, 1980.

Günter, Manuela (Hg.): Überleben schreiben. Zur Autobiographik der Shoah. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002.

Lauer, Gerhard: Erinnerungsverhandlungen. Kollektives Gedächtnis und Literatur fünfzig Jahre nach der Vernichtung der europäischen Juden. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 (1999), Sonderheft, S. 215–245.

Meyer-Sickendiek, Burkhard: Was ist literarischer Sarkasmus? Ein Beitrag zur deutsch-jüdischen Moderne. München: Fink, 2009.

           

(Stand: 16.03.2023)  |