Konzept

Konzept "Musik- als Medienwissenschaft?!"

Kaum ein Phänomen hat das kulturelle Selbstverständnis im vergangenen Jahrhundert so stark beeinflusst, wie die Entwicklung und zunehmende Allgegenwart technischer Kommunikationsmittel und deren gesellschaftliche Wirkmächtigkeit: Medien.
Was Mitte des 19. Jahrhunderts mit den Erfindungen von Photographie, Kinematographie und Phonographie begann, begegnet uns heute in den Produktions-, Verbreitungs- und Aneignungsprozessen, die zunehmend auch durch interaktive und mobile Medien bestimmt werden.

Obwohl die Trennung von Bild, Bewegung und Klang technologisch heute im common digit aufgehoben ist, wird die "Medienwelt" meist als Bilderwelt, selten als Klangwelt apostrophiert. Die empirischen Bezugspunkte der sich entwickelnden Medienwissenschaften bildeten v. a. Fotografien, Filme oder Texte im engeren Sinne, später das Fernsehen, Comics oder Musikvideos. In den Medienwissenschaften existiert ein offenkundiges Defizit auf dem Gebiet der akustischen Medien. Wenn von audio-visuellen Medien die Rede ist, dann in erster Linie von Musik im Radio oder für den Film. Selbst die Medienkulturstudien der Cultural Studies fokussieren in ihren Untersuchungen zum Aneignungsverhalten medialer Texte insbesondere Film- und Fernsehproduktionen oder Musikvideos.

"Musik in den Medien" - Ansatz 

Dieser nahezu klassisch gewordene "Musik in den Medien" - Ansatz dominiert bis heute auch die Herangehensweise in der Musikwissenschaft. Damit wird eine Denktradition fortgesetzt, die Musik als ein Objekt mit immanenter Bedeutungsstruktur versteht, deren Gehalt in der Gestalt festgeschrieben scheint. Diese Herangehensweise kollidiert insbesondere dort, wo nicht der intendierte und rezipierte Gehalt, sondern die Medialität von Musik den Schlüssel zum Verständnis von konkreten Musikpraktiken liefert. Eine am notierten Gehalt - Werkgestalt - orientierte Musikwissenschaft konnte Körperlichkeit und Klanggeschehen konzeptionell nicht integrieren. Technologisch vermittelte Produktions-, Reproduktions-, Verbreitungs- und Aneignungsprozesse hat sie als "technische Zurüstung" und "musikalische Standardisierung" gedeutet und kritisiert. Im Spannungsfeld von latenter Technikfeindlichkeit und einem entkörperlichten Musikverständnis steht Musikwissenschaft heute nahezu im Abseits von medien- und kulturwissenschaftlichen Diskussionen. Die assoziative Deutungshoheit von Klang haben mittlerweile Kulturphilosophie und Medienästhetik übernommen (sonic turn!). Sie üben Kritik an industrieller Klangproduktion (akustischer Umweltverschmutzung) und machen keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegenüber populären Musikpraktiken.

Musikwissenschaftler/innen haben in den vergangenen Jahren versucht, "ihren" Gegenstand zu öffnen bzw. so zu fassen, dass Aussagen zum Stellenwert von Klang in medial produzierten, verbreiteten und angeeigneten, affizierten und konstruierten gesellschaftlichen Zusammenhängen möglich ist. Die Ergebnisse dieser Forschungen sind geprägt von unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen und Musikbegriffen. Ähnlich unübersichtlich wie die sich in vielen Philologien, Geistes- und Kulturwissenschaften herausgebildeten Teilbereiche der Medienwissenschaften – Mediensoziologie, Medienpsychologie, Medienphilosophie, Medienpädagogik etc. – gestalten sich die Perspektiven von medienwissenschaftlich orientierten Musikwissenschaftler/innen.

Projekt Medienwissenschaft 

Das "Projekt" Medienwissenschaft - so Helmut Schanze - eigne sich als eine Art Verbund, eine vielfältige Kooperation, die inter- und transdisziplinäre Vernetzung als Arbeitsmodell herausfordert. Medienwissenschaftliche Anleihen allein werden sicherlich nicht dazu taugen, eine hermetische Musikwissenschaft zu sprengen. Wenn Musikwissenschaft als Wissenschaft und als Fach an Universitäten und Musikhochschulen zukünftig einen respektierten und respektablen Platz einnehmen will, dann sollte sie jedoch überprüfen, inwiefern sie sich in aktuelle medienwissenschaftliche Debatten offensiv einmischen kann. Das ist sie nicht nur den Studierenden der Musikwissenschaft, Musikpädagogik, Instrumentalpraxis oder zukünftigen Akteuren des Musiklebens schuldig, sondern insbesondere auch sich selbst. Es geht nicht um die Institutionalisierung einer weiteren Teildisziplin der Musikwissenschaft, sondern um wissenschaftliche Auseinandersetzungen auf der Höhe der Zeit.

Musik- als Medienwissenschaft? 

Die Arbeitstagung Musik- als Medienwissenschaft!? will diejenigen versammeln, die in den vergangenen Jahren sowohl aus musikwissenschaftlicher als auch aus medienwissenschaftlicher Perspektive bemerkenswerte Beiträge zum Stellenwert von Klang in medial produzierten, ver­breiteten und angeeigneten, affizierten und konstruierten gesellschaftlichen Zusammenhängen geleistet haben. Zusammen mit Nachwuchswissenschaftlerinnen soll eine Positionsbestimmung musik- und medienwissenschaftlicher Ansätze im oben beschriebenen Forschungsfeld vorgenommen werden. Anhand von ca. ½-stündigen Referaten und anschließenden Diskussionen wollen wir versuchen, das zweifellos unübersichtliche Terrain zu systematisieren, methodische Probleme zu markieren, empirische Felder zu erschließen und gegebenenfalls gemeinsame Forschungsperspektiven zu verabreden. Um arbeitsfähig zu sein, ist der Teilnehmer/innenkreis auf ca. 25 Wissenschaftler/innen begrenzt. Die Publikation der Tagung ist vorgesehen.

(Stand: 16.03.2023)  |