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Prof. Dr. Klaus Zierer
Institut für Pädagogik
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klaus.zierer@uni-oldenburg.de

  • Schwamm, Kreide, Schulalltag: In Debatte über Schulreform „nicht pauschal argumentieren”.

„Das kann kein Lehrer schaffen“

Die Landesregierung unter Stephan Weil hat eine Schulreform angekündigt – und die Debatte über Noten und Sitzenbleiben ist im vollen Gange. Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Klaus Zierer fordert im Interview eine differenzierte Sicht – die vom einzelnen Schüler ausgeht.

Die Landesregierung unter Stephan Weil hat eine Schulreform angekündigt – und die Debatte über Noten und Sitzenbleiben ist im vollen Gange. Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Klaus Zierer fordert im Interview eine differenzierte Sicht – die vom einzelnen Schüler ausgeht.

FRAGE: Die Landesregierung unter Stephan Weil hat für Niedersachsen eine umfassende Schulreform angekündigt. Geplant ist, Noten in den Grundschulen durch Lernentwicklungsberichte zu ersetzen und das Sitzenbleiben schrittweise abzuschaffen. Wie beurteilen Sie als Bildungsexperte diese Initiativen?

ZIERER: Sowohl Noten als auch Sitzenbleiben sind umstrittene Fragen und müssen äußerst differenziert betrachtet werden. Jeder Versuch, hier pauschal zu argumentieren, ist reduktionistisch und programmatisch.

FRAGE: Beginnen wir mit dem Sitzenbleiben.

 

Zu behaupten, Noten seien nur schlecht und müssten deshalb abgeschafft werden, ist meines Erachtens zu kurz gegriffen.

 

ZIERER: Zunächst ein paar wichtige Aspekte dazu. Wenn Sitzenbleiben bedeutet, dass ein Schüler einen Jahrgang wiederholt, ohne eine entsprechende Unterstützung zu bekommen, dann macht es keinen Sinn. Aber es muss ja nicht so sein. In gleicher Weise macht es auch keinen Sinn, alle Schüler ohne Auflagen zu versetzen. Auch hier sind Fördermaßnahmen notwendig. Was zudem zu bedenken ist: Sitzenbleiben unterliegt systemischen Effekten. So ist beispielsweise Sitzenbleiben im Kontext der Schulart und der Jahrgangsstufe zu sehen und abhängig von der Frage nach der Gliedrigkeit des Schulsystems und der nach der Gestaltung des Übertrittes – Stichwort: Elternwille. Je nachdem, wie man sich hier entscheidet, sind Einflüsse auf das Sitzenbleiben die Folge.

FRAGE: Und die Noten?

ZIERER: Für sie gilt Ähnliches: Zu behaupten, Noten seien nur schlecht und müssten deshalb abgeschafft werden, ist meines Erachtens zu kurz gegriffen. Auch Noten haben Vorteile. Zudem ist die Hoffnung, Lernentwicklungsberichte würden alles besser machen, nicht per se gerechtfertigt. Hier muss noch viel Entwicklungsarbeit geleistet werden, damit diese Lernentwicklungsberichte nicht nur ausformulierte Noten sind.

FRAGE: Fördern diese Reformen die Chancengleichheit?

 

Der Einzelne muss der Ausgangspunkt für pädagogische Maßnahmen sein.

 

ZIERER: Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit sind die gesellschaftlichen Bildungsthemen: Ohne eine Bildung für alle kann es keine Demokratie geben. Aber auch hier ist eine differenzierte Sichtweise notwendig, um beispielsweise eine egalisierende Gerechtigkeit und eine unterscheidende Gerechtigkeit auseinanderhalten zu können. Der Grundsatz muss sein: Suum cuique. Insofern muss der Einzelne der Ausgangspunkt für pädagogische Maßnahmen sein. Also nicht allen das Gleiche! Mit Blick auf das Sitzenbleiben kann man daraus den Schluss ziehen, dass es durchaus Fälle geben kann, wo dies die beste Lösung ist. Mit Blick auf die Zensuren hat ein Lernentwicklungsbericht sicherlich Vorteile gegenüber Noten, weil diese differenzierter sein können. Aber beides ließe sich auch miteinander kombinieren.

FRAGE: Ist das „Drehen von Ehrenrunden“ nicht auch eine pädagogische Chance für die Sitzenbleiber?

 

Dass es eine Lernkultur gibt, in der alle alles erreichen können und alle auch willens sind, alles zu geben, mag eine durchaus ansteckende Idee sein. Sie entspricht aber nicht der Realität.

 

ZIERER: Ich habe es eben schon angedeutet: Man sollte bei dieser Frage sehr differenziert den Einzelnen anschauen. Und dann kann es durchaus sein, dass das Wiederholen einer Jahrgangsstufe der bessere Weg ist – weil durch Krankheit zu viel Stoff versäumt wurde, weil familiär das Umfeld so angespannt war, dass ein Schuljahr lang nichts ging usw. Hinzukommt, dass ein neuer Klassenverband auch Positives haben kann. In der Diskussion über das Sitzenbleiben wird häufig von einer negativen Etikettierung der Sitzenbleiber gesprochen und meist verschwiegen, dass diejenigen, die mitgezogen werden, in ihrer Klassen selbst diesen negativen Etikettierungen ausgesetzt sind. Insofern möchte ich nochmals betonen: Man sollte hier sehr differenziert auf den Einzelnen schauen. Dass es eine Lernkultur gibt, in der alle alles erreichen können und alle auch willens sind, alles zu geben, mag eine durchaus ansteckende Idee sein. Sie entspricht aber nicht der Realität. Zudem: Das Erreichen des Klassenziels kann eine wichtige Motivation sein.

FRAGE: Sind die Lehrerinnen und Lehrer nicht bereits durch Herausforderungen wie Inklusion bis an ihre Leistungsgrenzen beansprucht?

 

Viele der Reformen, die auf den Lehrern lasten, haben keine pädagogische Basis.

 

ZIERER: Ja! Und nicht erst seit der Inklusion. Welches Bild von Schule wird denn aktuell gezeichnet und vor allem politisch forciert: Eine Ganztagsschule, in der alle Kinder – egal mit welchen Voraussetzungen sie in die Schule kommen – unterrichtet werden, in der es kein Sitzenbleiben gibt, in der Lehrer auf alle Bedürfnisse der Gesellschaft eingehen und die noch dazu international die beste aller Schulen ist usw. Das kann kein Lehrer schaffen. Hinzukommt, dass viele dieser Reformen, die auf den Lehrern lasten, keine pädagogische Basis haben. Nehmen Sie als Beispiel die Ganztagsschule: Wer hier damit argumentiert, dass beispielsweise Grundschüler am besten den ganzen Tag in der Schule sind, berücksichtigt nicht in erster Linie pädagogische Argumente, sondern soziologische und wirtschaftliche: Der Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit wird gestillt und die Wirtschaftskraft jedes Einzelnen wird genutzt.

FRAGE: Rot-Grün will auch das gerade erst eingeführte Turbo-Abitur an Gesamtschulen abschaffen. Die Gymnasien selbst sollen über das achtjährige (G8) und neunjährige Gymnasium (G9) frei entscheiden dürfen. Wie bewerten Sie das – sehen Sie Vor-oder Nachteile?

ZIERER: Diese Möglichkeit erscheint mir sinnvoll, weil damit eben der Blick auf den Einzelnen und seine Fähigkeiten möglich ist – auch wenn ich nie das G8 eingeführt hätte. Bildung ist kein Wettlauf, auch wenn es für die Wirtschaft und den Staatshaushalt gute Gründe gibt, das so zu sehen.

FRAGE: Auf welche Widerstände dürften Ihrer Ansicht nach die Reformbestrebungen treffen?

 

Meine Forderung ist: kleinere Kopfquoten – in allen Bildungseinrichtungen.

 

ZIERER: Diese Reformdiskussionen sind politisch. Insofern wird es wieder ein Hin und Her zwischen den großen Volksparteien geben. Das ist ermüdend, weil sehr stark programmatisch überlagert. Leider lassen sich auch immer mehr Erziehungswissenschaftler in ein Lager ziehen – was nachvollziehbar ist, weil dadurch Tür und Tor geöffnet wird. Aber der Sache dienlich ist das nicht.

FRAGE: Welche Konsequenzen wird die Schulreform für die Ausbildung und Weiterbildung an den Universitäten haben?

ZIERER: Hoffentlich nicht ein Studium, in dem ebenfalls ein Durchfallen nicht mehr möglich ist! Das wäre eine Katastrophe. Ich fürchte aber, dass wieder einmal eine Reformflut auf uns zukommt – die dann, nach ein paar Jahren der Besinnung, wieder zurückgenommen wird. Siehe G8. Es ist ja gerade das Kennzeichen unserer gegenwärtigen Bildungspolitik, dass es Salti vor und zurück gibt. Nun wissen wir aber auch, dass strukturelle und systemische Reformen die geringsten Effekte haben. Insofern wäre es sinnvoller, die konkreten Arbeitsbedingungen vor Ort zu verbessern. Aktuell wird zum Beispiel auch über die Klassengröße diskutiert, weil sie angeblich keinen positiven Effekt hat – aus meiner Sicht völliger Unsinn. Ich habe an der Universität pro Semester im Schnitt 200 Prüfungsleistungen von über 400 eingetragenen Studierenden zu bewerten. Ein Feedback – einer der wichtigsten Faktoren, wenn es um Evidenzbasierung geht – ist hier kaum möglich. Mein Kollege in Oxford hat vergleichsweise über ein Studienjahr zwölf Studierende. Also meine Forderung wäre: kleinere Kopfquoten – in allen Bildungseinrichtungen.

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