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Prof. Dr. Thomas Alkemeyer
Institut für Sportwissenschaft
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Totaalvoetball in neuem Gewand

Die Zukunft des Fußballs ist wieder einmal vorbei: Welche Schlüsse lassen sich aus der Fußball-EM 2012 ziehen? Thomas Alkemeyer und Nikolaus Buschmann über verrückte Spielertypen, entgrenzte Spielphilosophien und jene technische Perfektion, die aus dem Augenblick heraus entsteht.

Die Zukunft des Fußballs ist wieder einmal vorbei: Welche Schlüsse lassen sich aus der Fußball-EM 2012 ziehen? Thomas Alkemeyer und Nikolaus Buschmann über verrückte Spielertypen, entgrenzte Spielphilosophien und jene technische Perfektion, die aus dem Augenblick heraus entsteht. Der Fußball erfindet sich immer wieder neu. Die Europameisterschaft hat diese ebenso banale wie erfahrungsgesättigte Weisheit eindrucksvoll bestätigt. Vor dem Kräftemessen in Polen und der Ukraine galt der spanische Stil als die Inkarnation modernen Fußballs schlechthin. Jedoch schienen sich die Gegner langsam auf das schnelle Kurzpassspiel der Iberer eingestellt und recht erfolgreiche Alternativen entwickelt zu haben, die auf einer Renaissance vermeintlich veralteter fußballerischer Konzepte basierten. Teile der Fußballöffentlichkeit zeigten sich vom „Ballgeschiebe“ der Spanier zunehmend genervt und warfen ihnen einen selbstverliebten „Tiki-Takanaccio“ vor. Es hatte den Anschein, als sei der Glanz der Darbietungen von Iniesta, Xavi & Co im Gegensatz zu den vorherigen Titelgewinnen verblasst. Das Finale hat diese Kritik eindrucksvoll konterkariert. Jedoch griff der Vorwurf bereits vorher nicht: Spanien schoss in der Vorrunde von allen Teams die meisten Tore und kassierte auf dem Weg ins Finale nur einen einzigen Gegentreffer.

Squadra Azzurra unterband in der Gruppenphase Kurzpassspiel der Spanier. Allerdings fanden die Gegner immer wieder Mittel, den spanischen Spielfluss zu hemmen: Sie stellten Passwege zu und hielten die Räume am Strafraum eng, anstatt den Rasenschach wie früher schlicht mitzuspielen. In der Folge gelang es den Spaniern, außer gegen die überforderten Iren, bis zum Finale kaum einmal, ihr Kombinationsspiel auch im Strafraum zu verwirklichen. Eindrucksvoll war der Auftritt der zunächst unterschätzten Italiener. Die Squadra Azzurra formierte ihre Abwehr im Eröffnungsspiel der Gruppe C mal als Dreier-, mal als Fünferkette. Je nach Spielsituation konnten die Räume so effizient genutzt und Überzahlkonstellationen aufgebaut werden. Mit seinem variantenreichen Spiel aus schnellen Kontern, präzisen Pässen in die Spitze und torgefährlichen Aktionen, die vom ruhenden Ball ausgingen, brachte das italienische Team die Spanier gehörig in Bedrängnis. Spielmacher Xavi ausgewechselt. Die Portugiesen wiederum verhinderten die Entfaltung des spanischen Mittelfelds durch eine enorme Laufleistung und effizientes Gegen-Pressing. Sie zwangen Vincent del Bosque zu einer Maßnahme, die einer Majestätsbeleidigung gleichkam: Er wechselte seinen Spielmacher Xavi aus, der zu diesem Zeitpunkt müder und weniger inspiriert wirkte als man es von ihm gewohnt war. Ebenso belegt der Blick auf die prägenden Persönlichkeiten dieser Europameisterschaft: Das alleinseligmachende Spielsystem existiert nicht, auf die Mischung kommt es an. Wer zum Einsatz kommt, hängt von der taktischen Einstellung auf den jeweiligen Gegner ab. Bis zum Ausscheiden der Deutschen im Halbfinale zeichnete sich besonders Joachim Löw durch ein keineswegs nur „glückliches Händchen“ aus.

Epoche der klassischen Strafraumstürmer nicht beendet.
Trotz seines unbestreitbaren taktischen Fehlers im Halbfinale, unter völliger Preisgabe der rechten Seite einen Mann mehr ins Zentrum zu ziehen, um damit den italienischen Spielmacher Andrea Pirlo einzuengen: Der deutsche Trainer hat begriffen, dass sein Kader nicht nur aus einer Stammelf und einer Ersatzbank besteht, sondern aus 16, 17 Spielern von vergleichbarer Qualität, aber unterschiedlicher Spielanlage. Gegen den massenmedial geschürten Argwohn zahlreicher Fußballexperten auf den heimischen Fanmeilen setzte Löw gegen die Niederlande auf den scheinbar altmodischen Angreifer Mario Gomez, der sich im Spiel gegen Portugal noch „wundgelegen“ hatte, wie Mehmet Scholl in der Sache wie rhetorisch überzeugend diagnostiziert hatte: Er wurde mit zwei großartigen Toren belohnt. Dass die Epoche der klassischen Strafraumstürmer nicht unbedingt beendet ist, zeigen auch die Auftritte von Andrij Schewtschenko und Niklas Bendtner. Beide können mit wenigen Aktionen ein Spiel entscheiden. Sie machten ihre Tore ausschließlich mit dem Kopf, wie es sich überhaupt um eine Vorrunde mit überdurchschnittlich vielen Kopfballtoren handelte. Auch Fernando Torres benötigte nur wenige Einsätze, um Torschützenkönig der EM zu werden. Toni Kroos, der Manndecker, und das mangelnde Selbstbewusstsein der Deutschen. Im Spiel gegen die Griechen entschied sich Löw für eine taktische Variante, die wendige und kombinationssichere Spielertypen erforderte. Schürrle, Reus und Klose erledigten ihre Aufgabe gegen die robuste, aber ungelenke griechische Abwehr hervorragend. Dass der Traum vom Titel für die deutsche Mannschaft dennoch nicht in Erfüllung ging, lag nur zu einem Teil an einer irritierenden Aufstellung und einer inadäquaten Taktik: Die Manndeckeraufgaben für Toni Kroos im Halbfinale entlarvten das von Löw auf der vorausgegangenen Pressekonferenz zur Schau gestellte Selbstbewusstsein als Pfeifen im Wald. Ebenso entscheidend war, dass den Deutschen das Rückgrat einer großen Mannschaft fehlte. Ihrem Spiel mangelte es an Stabilität, Rhythmus und Richtung. Bastian Schweinsteiger war trotz gelegentlicher Geistesblitze verletzungsbedingt nur ein Schatten seiner selbst. Diesen Verlust konnte selbst der herausragende Spieler der deutschen Mannschaft, Sami Khedira, nicht wettmachen. Und möglicherweise ist dem einen oder anderen Spieler des FC Bayern („mia san mia“) im tragischen Verlauf der vergangenen Saison auch das Selbstbewusstsein abhanden gekommen, das man gegen eine italienische Auswahlmannschaft immer benötigt – vor allem, wenn man in Rückstand gerät. Zumal ein Mittel, mit dem sich auch in mäßiger Form Spiele gewinnen lassen, der ansonsten so vielseitigen deutschen Elf nicht zur Verfügung stand: Bei Standardsituationen fehlte ihr jede Durchschlagskraft.

Spielphilosophien sind längst losgelöst aus nationalem Rahmen
. Mit Italien und Spanien zogen unbestreitbar die beiden besten Mannschaften des Turniers ins Finale ein. Sie stehen für unterschiedliche Spielphilosophien, die sich aus nationalen Fußball-Traditionen längst gelöst haben. Die spanische Mannschaft ist ein vergleichsweise homogenes Gebilde, das in einer Kombination aus technischen Fertigkeiten und verinnerlichter Taktik „Totaalvoetbal“ in neuem Gewand präsentiert. Die italienische Mannschaft ist taktisch nicht minder versiert, doch vereint sie höchst unterschiedliche Spielertypen in einem variablen Spielsystem, das anders als zu Zeiten des Catenaccio nicht auf die Verriegelung des Strafraums festgelegt ist. Ihre Fähigkeit, blitzartig von der Defensive in die Offensive umzuschalten, führte zu den spektakulären Toren des Ausnahmestürmers Mario Balotelli im Halbfinale.

Internatenzöglinge und Anarchofußballer.


Bis zum Endspiel stellte die Squadra Azzurra den herausragenden Spieler des Turniers: Andrea Pirlo, ein Stratege und Künstler ohnegleichen. Der 33-jährige spielte wie am Fließband punktgenaue Pässe über 40, 50 Meter – und absolvierte im Unterschied zu seinen Vorgängern, den großen Regisseuren der 1970er Jahre, zugleich die enorme Laufleistung von durchschnittlich zwölf Kilometern pro Spiel. „Typen“ wie Pirlo, Balotelli oder auch Cassano fügen dem funktionalistischen Systemfußball in Internaten planmäßig ausgebildeter Jungprofis jene Extraportion an Verrücktheit und Überraschung hinzu, die der Entwicklung des Fußballs eine neue Note geben könnte. Es wäre auch im Hinblick auf den Unterhaltungswert nicht das Schlechteste, läge die Zukunft des Fußballs in der Variabilität und Synthese ungleichzeitiger Spielideen.

Den Weg dorthin wiesen einmal mehr die Spanier: Ihr 4-6-0-System wurde aufgrund der Verletzung von David Villa aus der Not geboren. Doch es könnte so zukunftsweisend sein, wie es Jonathan Wilson bereits nach der WM 2010 in seinem lesenswerten Buch „Revolutionen auf dem Rasen“ prognostizierte. Als Reaktion auf die Gegenmaßnahmen der Konkurrenz haben die Spanier ihr Kurpassspiel um eine taktische Variante bereichert: Mit überraschenden Flügelwechseln bewiesen sie, dass ihnen auch der lange Pass nicht fremd ist.

Gestaltende Kraft und Planung vereint.
Mit Xavi und Iniesta verfügen die Spanier zudem über Spieler, die blitzschnell das Potential einer Situation zu erfassen und in technischer Perfektion umzusetzen in der Lage sind. In ihren Aktionen zeigt sich eine spielerische Kreativität, die ohne Überlegungssicherheit aus dem Augenblick heraus geboren wird. In dieser gestaltenden Kraft vereint sich Planung mit einer in langen Jahren eingeschliffenen Intuition. Sie führt, wie beim 1:0 gegen die überforderten Italiener, zu überwältigenden „Kunstwerken des Augenblicks“, wie es Christoph Bausenwein einmal ausgedrückt hat, bei denen alles so zusammen passt, dass sie durch nichts gestört werden können. Es sind keine Kreationen aus dem Nichts, sondern sie kommen zustande, wenn Spieler mit einem ausgeprägten Raum- und Ballgefühl, ausgezeichneten technischen Fertigkeiten und einem fein abgestimmten taktischen Spielsinn zusammenspielen. Diese Fähigkeiten erlauben es, traumwandlerisch in der Gegenwart das Zukünftige vorzubereiten. Die Kontingenz des Fußballspiels verlangt diese Kreativität. Sie muss mühsam erarbeitet werden. Wie in anderen Unsicherheitszonen der Gesellschaft auch. Prof. Dr. Thomas Alkemeyer ist Sprecher des Graduiertenkollegs „Selbst-Bildungen", Dr. Nikolaus Buschmann ist Kollegiat.

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