• Sieht Oldenburgs Inklusionsprozess als "vorbildhaft": Dr. Holger Lindemann. Foto: Daniel Schmidt

Inklusion: "Es geht nicht mehr um das Ob, es geht um das Wie"

Er gestaltet den Inklusionsprozess an Oldenburger Schulen mit und begleitet ihn zugleich wissenschaftlich. Im Interview spricht Dr. Holger Lindemann über Visionen und Sorgen, über neuen, anderen Unterricht und den Weg als Ziel.

Er gestaltet den Inklusionsprozess an Oldenburger Schulen mit und begleitet ihn zugleich wissenschaftlich. Im Interview spricht Dr. Holger Lindemann über Visionen und Sorgen, über neuen, anderen Unterricht und den Weg als Ziel. 

FRAGE: Wie verstehen Sie den Begriff Inklusion?

LINDEMANN: Inklusion umschreibt die Vision, dass alle Menschen gleichberechtigt an allen Bereichen der Gesellschaft teilhaben können. Unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, sozioökonomischem Status, sexueller Orientierung, Familienstand oder einer möglichen Beeinträchtigung. Die Idee besteht darin, dass alle da, wo sie halt gerade sind, gemeinsam leben, lernen, arbeiten. Die Inklusion basiert auf einem Zwischenschritt, nämlich der Integration: Bestimmte Gruppen sind ausgeschlossen, und denen soll die Teilhabe ermöglicht werden. Inklusion bedeutet dann, von vorneherein erst gar niemand auszuschließen. Wenn man das niedersächsische Schulgesetz anschaut, definiert es Inklusion als die Idee, dass Schülerinnen und Schüler mit einer Beeinträchtigung jetzt an die Regelschulen kommen. Das ist aber immer noch der alte Gedanke von Integration und schließt zudem viele Personengruppen aus, auf die sich Inklusion ebenfalls bezieht.

FRAGE: Das Schulgesetz greift also aus Ihrer Sicht zu kurz?

LINDEMANN: Genau. Unsere Idee in der Oldenburger Schul- und auch Stadtentwicklung ist es, dass Inklusion alle betrifft. Das heißt, es geht nicht nur um Beeinträchtigungen, sondern auch um die genannten Aspekte wie Alter, Geschlecht, Herkunft, aber auch um Unterschiede in Lebensstil, Interessen und Neigungen. Bezogen auf Schule geht es um die Frage, wie jeder Mensch es hinbekommen kann, sich in einer vielfältigen Gruppe ganz verschiedener Menschen gut zu entwickeln, gut zu lernen und sich wohl zu fühlen.

FRAGE: Welche Fragen wirft die Inklusion noch auf?

LINDEMANN: Inklusion, so wie wir sie definieren, beschäftigt sich zum Beispiel auch damit, wie das Kollegium an einer Schule miteinander umgeht. Wie geht man mit älteren Kolleginnen und Kollegen um? Wie bekommt man Eltern mit Migrationshintergrund dazu, sich aktiv einzubringen und Schule mitzugestalten? Wie schafft man es, dass Schülerinnen und Schüler, die sozioökonomisch benachteiligt sind, an allem teilhaben können, was Schule bietet? Auch die sexuelle Orientierung ist – gerade an weiterführenden Schulen – ein ganz wichtiger Punkt, der bei Jugendlichen zu Ausgrenzung führen kann. Und diese Sensibilisierung für das Wahrnehmen und Wertschätzen von Unterschieden, aber auch das Herstellen von Gemeinsamkeiten, ist eine grundlegende Herausforderung von Inklusion. Die inklusive Gesellschaft, in der wir alle wertschätzend, friedlich und zufrieden zusammen leben, ist eine Vision, die letztendlich vielleicht nicht erreichbar ist. Aber sie ist ein Ziel, auf das man sein Handeln ausrichten und auf dessen Basis man gängige Praxis immer wieder hinterfragen kann.

FRAGE: Müsste das Schulgesetz denn um diese ganzheitliche Perspektive ergänzt, nachgebessert werden?

LINDEMANN: Meines Erachtens ja. Weil die bisherige eingeschränkte Sichtweise sehr schnell Fronten schafft: Behinderte und Nichtbehinderte; die – und wir. Und dann sagt sich mancher, das hat ja mit mir gar nichts zu tun. Das geht aber darauf zurück, dass die inklusive Schule auf einer UN-Konvention von 2008 beruht, die für den Personenkreis der Menschen mit Beeinträchtigung verabschiedet wurde. Nach der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 gab es beispielsweise 1969 eine UN-Konvention gegen Rassismus, 1981 gegen die Diskriminierung von Frauen, 1990 über die Rechte von Kindern, 2007 über den Schutz kultureller Ausdrucksformen. Auch wenn die Menschenrechte Stück für Stück präzisiert werden, sollte man sie im Gesamtprozess betrachten: Es geht immer um das Zusammenleben aller Menschen. Im Grunde genommen sind das alles nur Fußnoten und Ergänzungen der allgemeinen, grundlegenden Menschenrechte.

FRAGE: Inwieweit ist der Oldenburger Inklusionsprozess – auf Schule bezogen und darüber hinaus – einzigartig? Könnten oder sollten sich andere Kommunen davon etwas abgucken?

LINDEMANN: Der hiesige Inklusionsprozess ist insofern vorbildhaft, als wir uns mit allen relevanten Personengruppen zusammensetzen, nicht nur als sogenannte Expertengruppe. Zur Arbeitsgruppe „Inklusion an Oldenburger Schulen“ gehören mehr als 80 Vertreterinnen und Vertreter aus Schulen, Verwaltung, Politik, Eltern- und Schülervertretungen, Gewerkschaft, Behindertenbeirat, verschiedener Organisationen, die versuchen, gemeinsame Lösungen für die Stadt zu finden. Das macht uns stark. Wir wollen erreichen, dass weder einzelne Schulen noch einzelne Lehrer oder Eltern alles für sich individuell durchkämpfen müssen, sondern wir versuchen eben stadtweite Lösungen zu entwickeln. Es ist schon so, dass sich das als Erfolg versprechender Weg kommunaler Entwicklung zeigt. Inklusion ‒ also die Beteiligung aller ‒ ist nicht nur das Ziel, sondern auch der Weg.

FRAGE: Gerade ist ein von Ihnen herausgegebenes Buch zum Inklusionsprozess in Oldenburg erschienen. Darin werben Sie dafür, nicht die Kinder nach ihrem etwaigen Förderbedarf zu „etikettieren“, sondern den Blick zu weiten. Muss der Bedarf der Schulklassen oder Schulen insgesamt mehr in den Mittelpunkt rücken?

LINDEMANN: Derzeit ist der „sonderpädagogische Unterstützungsbedarf“, wie es im Schulgesetz heißt, maßgeblich. Und dahinter steht immer noch die Idee: Ich habe eine einzelne Person, die einen Individualanspruch auf bestimmte Leistungen hat. Wohingegen ich sagen muss, in vielen Punkten haben ja gerade die Lehrkräfte den Unterstützungsbedarf, damit sie die Schülerinnen und Schüler als Gruppe unterrichten können. Oder der Rest der Klasse hat einen Unterstützungsbedarf, damit sie mit einem Schüler, der sich zum Beispiel aggressiv verhält, gut umgehen kann. Der Blick richtet sich bislang aber immer noch fast ausschließlich auf die Individualansprüche. Und im besten Sinne eines Wandels könnte man sagen: Damit Schule als Gesamtsystem gut funktioniert, braucht sie Sozialarbeiter, sonderpädagogische Fachkräfte, Therapeuten und so weiter. Und nicht ein einzelner Schüler braucht eine Assistenz, sondern die Klasse braucht eine Assistenz – jemanden, der da, wo er gerade gebraucht wird, zur Stelle ist. Sei es zum Unterrichten, zur Lernunterstützung, für Pflegeleistungen oder wozu auch immer eine weitere Lehr- oder Hilfskraft gebraucht wird. Sinnvoll wäre also eine von vorneherein auf die Schule und ihr Umfeld bezogene Ausstattung mit den unterschiedlichsten Fachkräften.

FRAGE: Nun endet ja das erste Schuljahr, in dem die Eltern von Erst- und Fünftklässlern die Wahl hatten zwischen Regel- und Förderschule – wie ist das aus Ihrer Sicht gelaufen?

LINDEMANN: Oldenburg hat sich, unter Beteiligung aller Schulen, dafür entschieden, keine sogenannten Schwerpunktschulen zu benennen. Das heißt: Alle Schulen haben gleichzeitig mit der Inklusion begonnen. Für viele Schulen ist das der Beginn einer großen Umstellung. Von daher ist die jahrgangsweise Einführung der inklusiven Schule sinnvoll. Rein zahlenmäßig betrachtet kommen wir in Oldenburg für das erste sogenannte inklusive Schuljahr auf 40,1 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit Unterstützungsbedarf, die inklusiv beschult werden – bezogen auf die erste und fünfte Klasse. Das ist im Vergleich mit anderen Kommunen ganz gut, obwohl diese Quote natürlich wenig über Qualität aussagt.

FRAGE: Und wie sieht es mit der Qualität aus?

LINDEMANN: Es gibt viele Schulen, die schon seit Jahren im regionalen Integrationskonzept sind und sehr gute Arbeit machen. Ihr Vorsprung ist ein unheimlich großer Erfahrungsschatz im Unterrichten heterogener Lerngruppen. Für die ist das nichts Neues. Andere Schulen haben jetzt vielleicht zwei oder drei Schüler in der ersten Klasse bekommen. Bei einigen Schulen gibt es noch Bedenken, wie man im Unterricht allen Kindern gerecht werden kann und auch bei einigen Eltern die Sorge, ihre Kinder würden im gemeinsamen Unterricht „untergehen“.

FRAGE: Ist diese Sorge berechtigt?

LINDEMANN: Im Einzelfall sind Sorgen, gerade zu Beginn einer solch grundlegenden Umstellung von Schule und Unterricht, natürlich nachvollziehbar. Auf lange Sicht zeigen Studien jedoch, dass gerade Kinder mit einem Unterstützungsbedarf im Lernen an der allgemeinen Schule bessere Schulabschlüsse erreichen und umfangreichere Fähigkeiten entwickeln als an der Förderschule. Gerade am Anfang ist es wichtig, die Zusammenarbeit mit den unterstützenden Förderschullehrerinnen und -lehrern aufzubauen – langfristig werden sie dann integraler Bestandteil der Kollegien an den allgemeinen Schulen.

FRAGE: Im Zuge der Inklusion rücken ja oftmals organisatorische Dinge in den Vordergrund – personelle Fragen, bauliche Veränderungen und so weiter. Droht dann manchmal der Unterricht als „Kerngeschäft“ darunter zu leiden, gerade bei Lehrern, die noch nicht die Erfahrung mit heterogenen Lerngruppen haben?

LINDEMANN: Ich glaube erst einmal, dass das Kerngeschäft, der Unterricht, sich verändert und sich auch verändern muss. Nicht nur im Zuge der Inklusion, sondern auch der zunehmenden Ganztagsschulen – der Idee, den Schultag mit weiteren Angeboten des sozialen Miteinanders anzureichern. Das Unterrichten zunehmend heterogener Lerngruppen bedeutet auch ein Abrücken von der Idee, als Lehrerin oder Lehrer alle Fäden in der Hand halten zu müssen. Stattdessen vermittelt man Lerninhalte im Team oder gibt mehr Verantwortung auch an die Schülerinnen und Schüler oder an Schülergruppen ab. Es geht darum, in vielen Prozessen stärker zu moderieren und zu organisieren als zu instruieren. Diese Form des Unterrichtens, die Differenzierung und Individualisierung, gehören oft noch nicht zum Alltag. Aber das ist der Kern inklusiven Unterrichts: anders zu unterrichten.

FRAGE: Inwieweit wird das schon umgesetzt?

LINDEMANN: Für viele Lehrerinnen und Lehrer ist das Neuland, das muss man ganz klar so sehen. Für Schulen, die ihren Unterricht schon lange auf heterogene Gruppen und die Vielfalt der Menschen ausgerichtet haben, ist das Alltag. Bis hin zur Abschaffung des Klingeltakts oder zur Entwicklung individualisierter Lehrpläne und einer ganz anderen Form der Lernkultur. Ein Potenzial, das nach meiner Ansicht häufig unterschätzt wird, ist, was die Schülerinnen und Schüler untereinander tun können, wenn sie eine Idee davon haben, wie individuelles Lernen im sozialen Miteinander funktioniert. Aber dahin zu kommen, bedeutet am Anfang ‒ und das darf man nicht kleinreden ‒ eine Menge Mehrarbeit und auch den Willen zur Veränderung.

FRAGE: Ihre umfangreiche Begleitforschung des Inklusionsprozesses zum Beispiel mit Schüler- und Lehrerbefragungen legt nahe, dass das persönliche Erleben für die Offenheit gegenüber inklusivem Unterricht wichtiger ist als Information. Wie lässt sich denn dieses persönliche Erleben schaffen? Mit Hospitationen?

LINDEMANN: Im Ergebnis ist die persönliche Erfahrung am wirksamsten. Die können Sie aus keinem Buch ablesen, das kann Ihnen auch keine Schulung bieten – Sie müssen letztendlich Praxis erleben. Ich bin auch davon überzeugt, dass ich niemanden zu einem Verfechter inklusiven Unterrichts machen kann, indem ich ihm Forschungsergebnisse vorlege oder schlaue Texte, sondern indem ich mit ihm zu einer Hospitation gehe in einer Schule, wo es gut funktioniert. Es gibt auch gute Dokumentationen, Filme, die zeigen, wie Inklusion gelingen kann. Es gibt den Jakob-Muth-Preis, mit dem Schulen für gelingende Inklusion prämiert werden, und das muss man sich anschauen. Die Idee ist also gewissermaßen: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Die Bereitschaft, es zu machen und sich auch als Gruppe der Beteiligten zusammenzusetzen und einen eigenen Plan zu entwickeln, es umzusetzen. Denn die Frage, ob Inklusion kommt oder ob das wichtig und richtig ist, die stellt sich nicht mehr. Es geht um ein Menschenrecht. Es geht nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie.

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(Changed: 27 Feb 2024)  | 
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