Er vermittelt Pädagogik-Studierenden und angehenden Lehrkräften, wie sie mit Rechtsextremismus umgehen oder Betroffene etwa rechter Gewalt beraten können. Im Interview spricht Pädagoge Christian Pfeil über Gründe, aus denen sich Menschen der Szene zu- oder wieder abwenden – und was ihn motiviert, den Ausstieg zu begleiten.
Sie sind Pädagoge und beschäftigen sich in Forschung, Lehre und Praxis mit dem Ausstieg aus rechtsextremen Szenekontexten. Wie sind Sie zu dem Thema gekommen?
Prägend war für mich ein Vorfall vor ungefähr 20 Jahren, als eine Person aus meinem Umfeld von Neonazis zusammengeschlagen wurde. Wenige Tage später las ich einen Artikel über ein Aussteigerprogramm, das sich in Berlin gründete. Damals war ich gerade auf der Suche nach einem Thema für meine Diplomarbeit in Oldenburg und kam so auf das Thema Aussteiger-Biografien. Ich habe dann in Berlin auch einen Aussteiger interviewt – es war eine der ersten Diplomarbeiten in Deutschland zu dem Thema.
Und Sie blieben dabei.
Danach waren für mich so viele Fragen offen, dass ich auch noch promoviert habe, und zwar zu Ausstiegsprozessen. Es war schon damals sehr schwer, da überhaupt in Kontakt zu kommen mit Personen. Auch wenn es heute bundesweit mehr als 30 Ausstiegsprogramme gibt, liegt es nahe, dass sie ihre Klientinnen und Klienten, aber auch die Mitarbeitenden gewissermaßen zu beschützen versuchen. Seit Sommer 2020 koordiniere ich neben meiner Uni-Tätigkeit das Ausstiegsprogramm „Distance – Ausstieg Rechts“ für den Nordwesten Niedersachsens, und Sie werden von unserem gesamten Team an Beratenden zum Beispiel keine Fotos finden.
Welche Erkenntnisse haben Sie in Ihrer Forschung gewonnen – wie sehen Motive für einen Ausstieg aus oder wie haben sie sich möglicherweise verändert?
Kein Mensch wacht morgens auf und sagt: Ich will jetzt Nazi werden. Das passiert nicht. Und genauso wacht kein Rechtsextremist oder keine Rechtsextremistin morgens auf und sagt: Ich möchte jetzt aussteigen. Das sind Prozesse, die dauern. Eine Turboradikalisierung gibt es nicht, das ist ein Hinwendungsprozess, der dauert, und genauso ist es ein längerer Weg zurück. Menschen wenden sich der rechtsextremen Szene zu, weil sie etwas suchen. Da geht es meist – zumindest anfänglich – weniger um die Ideologie als vielmehr und vor allem um Gemeinschaft. Auch geht es darum, bestimmte Mängel im eigenen Leben zu kompensieren. Wenn man in einer Aussteigerbiografie liest, „Ich bin da so hineingeschlittert“, muss man sich klarmachen, dass das so nicht stimmt: Es ist eine bewusste Hinwendung, und jeder und jede entscheidet jeden Tag aufs Neue, ob er oder sie in der Szene bleibt.
Vielleicht kann man es so eher auch vor sich selber rechtfertigen?
Genau. In ihrer eigenen Darstellung sind die Betreffenden oft zwar „da reingerutscht“, aber beschreiben ihren Abwendungsprozess als aktiv und gesteuert. Hinter diesem steht ein Konglomerat an Motiven. Es sind oft Menschen, die in der Szene enttäuscht wurden und werden. Dass sie feststellen: Das, was mir die ganze Zeit vorgebetet wird – preußische Sekundärtugenden wie Kameradschaft, Zusammenhalt bis zum Tod, dieser ganze Wust an großen Worten – stimmt so nicht, stattdessen erleben Leute innerszenische Gewalt. All das sind Tropfen, die in ein Fass fallen. Und irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem das Fass überläuft und die Menschen feststellen: So kann und will ich nicht weitermachen.
Und dann beginnt erst der Ausstiegsprozess.
Zumindest die erste Intention, der Gedanke ist da. Oftmals spielt auch der Wunsch nach einer Normalbiografie eine Rolle, denn sich im Rechtsextremismus zu engagieren bedeutet ja auch immer: Man steht mit einem Bein im Knast. Der Konflikt mit Staatsgewalt, mit Polizei und Justiz ist programmiert, schon der Hitlergruß ist strafbewehrt. Dann ist klar, wenn ich diesen Weg weitergehe, kann ich mir den Traum vom bürgerlichen Leben abschminken. Wenn sich solche Menschen an ein Aussteigerprogramm wenden, geht es darum, sie auf ihrem Weg zu begleiten – und gleichzeitig die Ideologie anzugehen, denn das ist meistens erst der zweite Schritt.
Aber ein Schritt, der aus Ihrer Sicht wichtig ist, um sich vollends lösen zu können?
Da sind sich die meisten Ausstiegsprogramme hierzulande einig: Es reicht nicht, die Leute nur aus der Szene herauszuholen, dass sie nicht mehr straffällig werden. Es muss die Ideologie aus den Köpfen, um sicherzustellen, dass sie nicht das Gedankengut weiter teilen oder in die Szene zurückgehen. Und es ist ein bisschen so wie in Sekten: Wenn nicht die ganze Zeit durch das Umfeld diese rechtsextreme Ideologie gestützt und aufrechterhalten wird, besteht auch die Chance, diese abzuarbeiten.
Was sind ideologische Kernpunkte, die besonders schwer zu knacken sind?
Das Gedankengut basiert auf Ideologien von Ungleichwertigkeit, die man unter gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit subsummieren kann. Ablehnung von Homosexuellen oder Geflüchteten spielt eine Rolle, sozialdarwinistische Bilder, sexistische Bilder, Rassismus und Antisemitismus. Das Schwierige: Wenn Menschen diese Ideologie jahrelang verinnerlicht haben, sind ihre Lösungsansätze für Probleme auch nicht mehr sozialkonform. Da gilt es dann, jemandem beizubringen, wie man sich adäquat in der Gesellschaft bewegt. Und zwar, ohne sich ständig strafbar zu machen – wie etwa ein Aussteiger, den ich interviewt habe und der es sich nach Jahren zunächst kaum abgewöhnen konnte, jedes einzelne Telefonat mit einer explizit antisemitischen und nationalsozialistischen Grußformel zu beenden.
Gibt es weitere Hürden?
Ein Ausstieg kann eine hohe psychische Belastung bedeuten, die es aufzufangen gilt. Die praktische Soziale Arbeit erfolgt typischerweise in einem gut geknüpften Netzwerk, zu dem auch die Psychotherapie gehört. Denn die Angst, wie die Szene reagiert, kann eine Rolle spielen – also die Sorge etwa vor körperlichen Angriffen, aber auch schlicht vor der Isolation. Daneben haben wir es bei manchen ausstiegswilligen Personen mit Suchterkrankungen wie Alkoholismus oder auch mit Überschuldung zu tun. Auch da gibt es Hilfe.
Stichwort Einstieg: Bei den sogenannten Corona-Spaziergängen befürchten viele eine rechtsextreme Unterwanderung. Beobachten oder befürchten Sie da tatsächlich einen Zulauf?
Dass diese Bewegung von Rechtsextremen mindestens unterwandert ist, sieht man einfach daran, welche Akteure mitmachen und welche Narrative bedient werden. Das ist teilweise antisemitisch und demokratiefeindlich, und ich würde da zumindest in Teilen eine Radikalisierung attestieren. Ob diese sogenannten Spaziergänge allerdings den rechtsextremen Netzwerken Zulauf bescheren, dazu kann ich noch nichts sagen. Tatsächlich haben wir uns bei „Distance“ aber als Schwerpunkt für dieses Jahr auch die Beratungsarbeit im Kontext von Verschwörungserzählungen vorgenommen.
Wie bereiten Sie Ihre Studierenden – zukünftige Lehrkräfte, Pädagoginnen und Pädagogen – darauf vor, mit solchen Phänomenen später in ihrer Berufspraxis umzugehen?
Erst einmal geht es darum zu klären: Was ist Rechtsextremismus überhaupt, was ist Rechtspopulismus, woran erkenne ich das und wie hat sich das entwickelt? Und dann geht es ganz in die praktische Auseinandersetzung: Wie gehe ich mit Stammtischparolen um? Wie entschlüssele ich Verschwörungsnarrative? Wie gehe ich beispielsweise mit einem rechtsextremistischen Vorfall in einer Jugendeinrichtung oder in der Schule um? Da geht es mir nicht nur darum, dass die Studierenden die einschlägigen Paragraphen kennen, sondern dass sie auch wissen, wo es Hilfe gibt. So wissen viele Lehrkräfte – auch wenn sie schon seit Jahren im Schuldienst sind – nicht, dass es in allen Bundesländern eine mobile Demokratie-Beratung gibt, an die sie sich wenden können.
Es geht also um praktisches Handwerkszeug auf der Basis von Wissen.
Ja. Wenn eine Lehrkraft vor einer Schulklasse steht, und ein Zehntklässler leugnet den Holocaust und führt vermeintliche „Beweise“ an, sollte der Lehrer oder die Lehrerin vorbereitet sein, sonst steht er oder sie einfach ziemlich dumm da. Es geht mir vor allem immer auch darum, dass die Studierenden eine Haltung entwickeln. Zum Beispiel, dass man bei rechtsextrem auffälligen Jugendlichen die eigene Ablehnung dieser Ideologie ganz klipp und klar machen und ihnen dennoch zugleich verdeutlichen kann, dass man sie als Menschen unabhängig davon als wertvoll wahrnimmt. Eine solche Haltung muss jede und jeder für sich klar haben, das predige ich gefühlt in jeder Sitzung.
Wenn ich an Ihr eigenes praktisches Tun denke, stelle ich es mir aufwändig und auch frustrierend vor: Dann haben Sie es geschafft, eine Person bei ihrem Ausstieg aus dem Rechtsextremismus zu begleiten – und gleichzeitig steigen andere wieder ein. Ein Kampf gegen Windmühlen?
In dieser Hinsicht wäre ich tatsächlich froh, wenn ich arbeitslos wäre, aber das ist eine Sache, da kommen wir als Gesellschaft nicht raus. Was mich motiviert? Zum einen ist da ein Mensch auf einem Leidensweg, der – bei aller Abscheu für diese Ideologie und Ablehnung möglicher begangener Taten – einen Anspruch auf Hilfe hat. Jeder Mensch hat eine zweite, dritte, vierte Chance verdient, sonst könnten wir den Laden auch gleich dicht machen. Und zum anderen produziert Rechtsextremismus immer Gewalt, in welcher Form auch immer – und jede Person, die wir da rausholen, schwächt die Szene und verringert die Zahl der Betroffenen. Das ist wichtige Präventionsarbeit.
Interview: Deike Stolz