Pressemitteilungen

13. Juni 2001  174/01

60 Jahre nach dem deutschen Überfall
Ehemalige Sowjetbürger bewundern die deutsche Mülltrennung

Oldenburg. Am 22. Juni 1941 begann mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion der Große Vaterländische Krieg, der am 8. Mai 1945 mit dem Sieg der Alliierten und der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands endete. Grund genug, der Frage nachzugehen, wie heute, 60 Jahre danach und zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, die Menschen in der ehemaligen Sowjetunion Deutschland und die Deutschen sehen. Der Oldenburger Organisationsberater und interkulturelle Trainer Dr. Leo Ensel (Universität Oldenburg) hat in den letzten Jahren diese Frage intensiv erforscht und jetzt dazu eine Veröffentlichung vorgelegt. Dabei bediente sich der Pädagoge einer ungewöhnlichen Untersuchungsmethode: Er führte Seminare durch, in denen die ehemaligen Sowjetbürger im szenischen Spiel zeigten, wie sie die Deutschen und im Vergleich dazu sich selbst sehen.

Ausgelassen und mit einer Maß Bier bewaffnet prosten drei Deutsche sich im Hofbräuhaus zu. - Nein, hier haben nicht Amerikaner oder Japaner ihre erste spontane Deutschland-Assoziation geäußert, sondern - Russen! Auch die nächste von Russen spontan assoziierte Deutschlandszene überrascht: Weder die Verbrechen der Hitler-Wehrmacht noch das Schicksal sowjetischer Zwangsarbeiter werden thematisiert, sondern - das deutsche Mülltrennen. Die Deutschen sind so ordnungsliebend, dass sie sogar noch ihren Abfall sortieren. Eine Lehrerin in Lipezk (500 km südlich von Moskau): "Selbst den Hundedreck sammeln sie in Päckchen!" - "Wir sind ordentlich, wir achten auf die Umwelt", bringen die Russen diese zeitgemäße Variante deutscher Ordnungsmanie auf den Punkt. Aufgefordert, eine analoge russische Gegenszene zu entwickeln, werfen die Russen den Abfall wild in die Gegend. Kommentar: "Es ist eh schon alles dreckig!" Und die Frauen in den Nachfolgestaaten der UdSSR lassen sich von einer Überzeugung schon gar nicht abbringen: Die Hausarbeit verrichten in Deutschland Männer und Frauen gemeinsam, wenn nicht sogar der Mann es ist, der seine berufstätige Frau nach einem stressigen Arbeitstag liebevoll bekocht.

Wer nun allerdings glaubt, die Menschen in der ehemaligen Sowjetunion würden die Deutschen mittlerweile einseitig idealisieren, irrt: Von Moskau bis Almaty im fernen Kasachstan sieht man die Deutschen nicht nur als ordnungsliebende, umweltbewusste und emanzipationsfreudige Biertrinker, sondern auch als zurückhaltend, unflexibel, etwas langweilig, schlecht gekleidet. Eine Moskauer Lehrerin: "Deutsche Frauen schenken ihrem Äußeren zu wenig Aufmerksamkeit, obwohl sie mehr Möglichkeiten haben als die Russinnen. Sie kleiden sich nicht so elegant, sondern billiger als wir" - und nicht zuletzt gelten sie als sparsam bis geizig. Für die letztere Eigenschaft existiert im kollektiven Unbewussten der ehemaligen Sowjetbürger eine nahezu archetypische Urszene: Während am Ende einer feuchtfröhlichen Kneipenrunde Russen und Kasachstaner untereinander wetteifern, wer nun die Rechnung für alle bezahlen darf - "Die weite Seele kennt keine Sparsamkeit" - , sehen sie die Deutschen mühselig mit dem Taschenrechner beschäftigt, den präzisen Betrag für jeden einzelnen auszurechnen. Höhnischer kasachstanischer Kommentar: "Jeder zahlt für sich allein - jeder stirbt für sich allein." Mangelnde Lockerheit diagnostizieren Russinnen und Kasachstanerinnen auch ihren deutschen Geschlechtsgenossinnen. Eine 22-jährige russische Studentin aus der Schwarzerde-Region: "Die streiten sich noch darüber, ob das Sternzeichen ‚Wassermann' besser in ‚Wasserfrau' oder in ‚Wassermänn-In' umbenannt werden muss!" Deutschen Männern dagegen wird angekreidet, sie wüssten nicht mehr, wie man sich einer Frau gegenüber benimmt. Kein Wunder, dass nur wenige Russinnen sich vorstellen können, mit einem Deutschen verheiratet zu sein. Eine junge Verkäuferin: "Ich kann nicht so geregelt leben wie in einem Krankenhaus. Außerdem habe ich keine Lust, im Restaurant mein Essen selbst zu bezahlen. In Russland ist das die Pflicht des Mannes! Super, wie?"

Diese Szenen stammen aus einem Forschungsprojekt, das Leo Ensel auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion durchführte. Zwischen 1996 und 1999 erkundete er in Russland und Kasachstan an Universitäten und Goethe-Instituten die Deutschlandbilder russischer und kasachstanischer GermanistInnen. Dabei bediente er sich einer ungewöhnlichen Untersuchungsmethode: Statt Meinungen in Fragebögen oder Interviews abzufragen, führte er Seminare durch, in denen die ehemaligen Sowjetbürger im szenischen Spiel zeigten, wie sie die Deutschen und im Vergleich dazu sich selbst sehen. Der Oldenburger Wissenschaftler veranstaltete vier Seminare mit ca. 60 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, dazu kamen 25 Einzelinterviews.

Sechzig Jahre nach dem Überfall der Hitler-Armee auf die Sowjetunion und zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges deuten die Forschungsergebnisse, so der Autor, "auf eine bemerkenswerte Entdramatisierung der Deutschlandbilder in der postsowjetischen Welt hin". In Russland wie in Kasachstan konnte Ensel, wenn auch etwas unterschiedlich akzentuiert, nahezu die gleichen Kategorien nachweisen. Es sind in der Hauptsache zwei völlig gegensätzliche Deutschlandbilder, die den Blick der ehemaligen Sowjetbürger auf die Deutschen bestimmen: Zum einen dominiert auch in dieser Region noch das wohlvertraute Bild von den klassischen ‚analen' Eigenschaften der Deutschen, euphemistisch auch ‚preußische Tugenden' genannt. Hier legen die Deutschen nach wie vor großen Wert auf Pünktlichkeit, sie arbeiten fleißig und konzentriert, sind sparsam bis geizig und sie legen eine Ordnungs- und Sauberkeitsliebe an den Tag, die bisweilen schon starre, kaltherzige und selbstgerechte Züge annimmt. So manifestiert sich die Liebe zu Sauberkeit und Ordnung vor allem in der lauthals selbstgerechten Empörung gegenüber denjenigen, die sich diese Prinzipien nicht ganz so zu Herzen nehmen: Wer Papier auf die Straße wirft, kann sicher sein, sofort zur Rede gestellt zu werden, und wenn abends im Haus zu laut gefeiert wird, holt man gleich die Polizei. Hier werden die Deutschen also immer noch so gesehen, als seien sie direkt einem psychoanalytischen Lehrbuch zum analen Charakter entsprungen.

Allerdings bekommt dieses ‚klassische' Deutschlandbild sowohl in Russland wie in Kasachstan besonders bei der jüngeren Generation der unter 30-Jährigen zunehmend Konkurrenz durch ein anderes Bild, das diesem diametral entgegen steht. Es sind dies die lockeren, hedonistischen und demokratischen Deutschen sowie Bilder vom deutschen Sozialstaat. In den entsprechenden Bildern und Szenen widmen sich die Deutschen ausgiebig dem Bierkonsum und schunkeln zu rheinischer Karnevalsmusik, sie bereisen als Touristen sämtliche Länder der Erde und legen mehr Wert auf sportlich-bequeme Kleidung. Zudem interessieren sich die Deutschen für Politik, praktizieren in der Schule einen lockeren, demokratischen Unterrichtsstil, sie haben die traditionellen Geschlechterrollen etwas aufgeweicht und verhalten sich umweltbewusst aus Überzeugung. So verzichten sie auf Pelzmäntel, sortieren ihren Müll und sparen Wasser. Bewundert wird ohne Ausnahme das Leben der - aus russischer und kasachstanischer Sicht - sorglosen deutschen Rentner. Eine Germanistin aus Almaty: "Die alten Frauen in Deutschland sehen so schön aus, so sorgenlos!"

Zugleich werden die Deutschen allerdings auch als sehr individualisiert, vereinzelt und distanziert gesehen. Deutsche gelten in diesem Zusammenhang als egozentrische Einzelgänger, die wenig Anteil am Leben anderer nehmen. Eine 22-jährige russische Verkäuferin: "Der wichtigste Mensch für einen Deutschen ist immer er selbst!" Dazu passt, dass die unterschiedlichen Generationen in Deutschland kaum noch Kontakt miteinander haben. Dass die Mehrzahl der Deutschen in Kleinstfamilien oder allein lebt, ruft vor allem auf kasachstanischer Seite immer wieder großes Erstaunen bis Unverständnis hervor.

Bezogen auf den 2. Weltkrieg herrscht nahezu einhellig folgende Meinung vor, die eine kasachische Universitätsdozentin so auf den Punkt bringt: "Dass die heutigen Deutschen für den 2. Weltkrieg verantwortlich sein sollen, erscheint mir so sinnvoll wie die Verantwortung aller Frauen für die Sünde unserer Urmutter." Man empfindet gegenüber den Deutschen keinen Hass, sondern ist sich einig, dass heute in Deutschland eine andere Generation lebt, die an einem Krieg gegen die ehemalige Sowjetunion kein Interesse hat. Ein 25-jähriger LKW-Fahrer aus der russischen Provinz: "Ich zweifele daran, dass Deutschland jetzt einen Krieg führen würde. Das Lebensniveau ist recht gut, und sie sind nicht so dumm, es in Gefahr zu bringen." Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass der 2. Weltkrieg und die Gräueltaten der Deutschen vergessen wären. Besonders die russischen Männer verweisen in diesem Zusammenhang nicht ohne Stolz auf die ihrer Ansicht nach auch heute ungebrochene Schlagkraft ihrer Armee.

Ensels Forschungsergebnisse sind veröffentlicht in dem gerade erschienen Band "Deutschlandbilder in der GUS", BIS-Verlag Oldenburg, DM 20.- (ISBN: 3814207769). Das Buch ist zu beziehen über Tel.: 0441 / 798-2261; Fax: -4040, E-Mail:

Kontakt: Dr. Leo Ensel, Universität Oldenburg, Fachbereich Physik, Tel.: 0441/798-3565, Fax: -3698, Tel. privat: 0441/82525, Handy: 0160-4546734, E-Mail:

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