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Aus Wissenschaft und Forschung
Schnittstelle von Neurobiologie und Kognitionsforschung
Sieben Oldenburger Projekte an neuem Sonderforschungsbereich beteiligt
Ende vergangenen Jahres gab die Deutsche Forschungsgemeinschaft grünes Licht für den Sonderforschungsbereich (SFB) Neurokognition (s. Uni-Info 9/95). Zielsetzung und Projekte des SFB liegen an der Schnittstelle von Neurobiologie und Kognitionsforschung, und entsprechend ist es das Ziel des SFB, die neuronalen Grundlagen kognitiver Prozesse zu erforschen. Der SFB umfaßt gegenwärtig 13 Teilprojekte, die wiederum in drei Projektbereiche gruppiert sind: Experimentelle Neurobiologie, Theoretische Neurobiologie und Neuropsychologie/Psychophysik. An allen drei Projektbereichen beteiligen sich WissenschaftlerInnen aus Bremen und Oldenburg. An der Universität Oldenburg sind folgende Teilprojekte angesiedelt:Interaktive Neuronen
Neuronale Kodierungsprozesse und synaptische Plastizität in den plexiformen Schichten der Retina (Prof. Dr. Reto Weiler, FB Biologie)
Eine der zentralen Funktionen unseres Gehirns ist es, durch die Interaktion von erregbaren Neuronen (Nervenzellen) für uns relevante Informationen zu generieren. In der Netzhaut, einem an die Peripherie verlagerten Hirnteil, läßt sich dies besonders deutlich veranschaulichen: hier werden aus der einfachen, lichtquantenabhängigen Erregung der Photorezeptoren innerhalb zweier synaptischer Schichten komplexe visuelle Informationen über die Räumlichkeit, Bewegung, Kontrast und Farbe generiert. Dabei sind etwa 50 Grundtypen von Neuronen beteiligt, die eine Vielzahl von interagierenden Netzwerken bilden und mittels ca. 20 chemischen Neurotransmittern miteinander kommunizieren.Diese Netzwerke sind darüber hinaus nicht starr, sondern passen sich laufend den Anforderungen neu an. Wir wissen sehr viel über die Einzelaktivität der beteiligten Neurone, jedoch kaum etwas über ihre Interaktionen. Hier setzt dieses Projekt an, indem versucht wird, mit einer neuen Technik - optical imaging - die mittels Fluoreszenzfarbstoffen sichtbar gemachte Erregung von einem ganzen Retinaabschnitt aufzuzeichnen. Durch die Verwendung eines konfokalen Laser-scanning-Mikroskops können dabei Aussagen über die neuronalen Interaktionen im Online-Verfahren gewonnen werden. Diese, so hoffen wir, werden es uns erlauben, grundlegende Mechanismen der neuronalen Kodierung zu verstehen.
Sehprothese für Blinde
Raum-zeitliche Kodierung visueller Information in retinalen Ganglienzellpopulationen (PD Dr. Josef Ammermüller, FB Biologie)
Die Frage, wie sich die Zellen des Nervensystems untereinander verständigen und wie die Umwelt im Gehirn repräsentiert wird, erlangt in letzter Zeit vermehrt praktische Bedeutung. Das Verständnis der "Neuronensprache" ist Grundlage für künstliche Umwelt-Hirn-Schnittstellen. An Anwendungen, z. B. in Form von Hör- oder Sehprothesen, wird international in verschiedensten Labors intensiv gearbeitet. In diesem Projekt des SFB dient der periphere Gehirnteil Netzhaut als Modell zur Untersuchung dieser Frage. Das Methodenspektrum, mit dem versucht wird, die Signalverarbeitung in diesem Hirnteil besser zu verstehen, reicht von Simultanmessungen der elektrischen Aktivität Dutzender retinaler Ganglienzellen mit neuen Multielektrodenanordnungen auf Siliziumbasis über histologische Untersuchungen der Verschaltung der Retinazellen bis zur Simulation und Modellierung der Informationsverarbeitung im Computer.Die Verarbeitung der Datenflut der elektrischen Aktivitätsmessungen verlangt neu zu entwickelnde Auswertungsmethoden, die in Zusammenarbeit mit Physikern (Dr. Pal Rujan) und Psychologen (Dr. Wolfgang Möckel) entwickelt werden. Ergebnisse dieses Projektes dienen in Zusammenarbeit mit Prof. Normann von der University of Utah (Salt Lake City, USA) zur Entwicklung einer Sehprothese für Blinde.
Die Sprache des Gehirns
Repräsentation und Kodierung sensorischer Informationen in Spike-Trains (PD Dr. Pal Rujan, FB Physik)
Das was unser Gehirn "sieht" und "hört" sind eigentlich Millionen kleiner elektrischer Impulse, welche als Spikes bekannt sind. Diese Impulse stammen aus Ganglionzellpopulationen, dem "Ausgang" verschiedener Sinnesorgane (Netzhaut, Ohr etc). Wer die Sprache des Gehirns verstehen möchte, muß zunächst die Bedeutung solcher "Spike-Trains" untersuchen. Bei dem Projekt von Dr. Josef Ammermüller (s.o.) werden mit Hilfe eines 100-kanaligen Silizium-Multi-Elektroden-Arrays die Spike-Signale benachbarter Neuronen als Antwort auf genau definierte Stimuli parallel gemessen. Unser strategisches Ziel besteht darin, viele offene Fragen über den Spike-Code mit gezielten Experimenten und entsprechenden mathematischen Modellen zu beantworten.Neben der technischen Realisierung eines Online-Multikanal-Auswertungssystems interessiert uns insbesondere die Frage, wie eine statistisch relevante Abbildung zwischen physikalischen Eigenschaften des sensorischen Reizes (Farbe, Größe, Intensität, Bewegung, Höhe, Pitch, etc.) und zeitlich-räumlicher Spike-Korrelationen entsteht. Das entscheidende Kriterium ist dabei, ob aus den Spike-Trains der tatsächlich eingesetzte Stimulus rekonstruierbar ist. Sollte ein solches Verfahren erfolgreich sein, eröffnen sich neue Perspektiven auch für medizinische Anwendungen, z.B. für Neuroprothesen.
Subjektives Hören objektiv gemessen
Zusammenhang zwischen psychoakustischen Modellgrößen und akustisch evozierten Potentialen (Prof. Dr. Volker Mellert, Prof. Dr. Dr. Birger Kollmeier, FB Physik)
Das Projekt untersucht die neuronale Darstellung von Schallintensität und Modulationen des Schallsignals. Die kognitive Komponente bildet dabei die Lautheitsempfindung, d.h. die Fähigkeit unseres Gehörs, verschiedene Frequenzen und verschiedene Zeitverläufe eines Schallsignals in den subjektiven Eindruck eines "akustischen Objekts" umzusetzen, das eine bestimmte Lautheit besitzt. Die neuronale Komponente ist das akustisch evozierte Hirnstamm-Potential, das mit einer Elektrode an der Schädeloberfläche abgeleitet wird. Der "neuro-kognitive" Zusammenhang zwischen diesen beiden Komponenten wird durch das zeitliche Verhalten und die Intensitätsabhängigkeit des akustisch evozierten Potentials untersucht. Ein langfristiges Ziel des Vorhabens ist die "objektive" Messung der subjektiven Lautheitswahrnehmung, die für eine Vielzahl von Bereichen (vom akustischen Umweltschutz bis hin zum akustischen Design von Produkten) eine große Bedeutung aufweist.Räumliches Hören
Analyse und Modellierung der auditorischen räumlichen Abbildung beim Menschen (Prof. Dr. Dr. Birger Kollmeier, FB Physik)
In diesem Projekt geht es um das räumliche Hören und seine Realisierung im Zentralnervensystem. Dabei will die AG Medizinische Physik erforschen, ob es eine Abbildung gibt zwischen dem "äußeren" Raum, der durch das Hörsystem akustisch wahrgenommen werden kann, und der "inneren" Raumrepräsentation, d.h. den im Gehirn von der räumlichen Wahrnehmung hervorgerufenen Erregungsmustern. Dazu werden einer Versuchsperson Geräusche von unterschiedlichen Raumrichtungen angeboten. Zugleich wird das EEG (Elektroenzephalogramm) von der Schädeloberfläche der Person abgeleitet. Der "Trick" besteht nun in der "virtuellen Akustik", d.h. die verschiedenen Schallrichtungen werden der Versuchsperson vom Computer vorgetäuscht, obwohl der Schall in Wirklichkeit immer über denselben Kopfhörer angeboten wird. Neben einem besseren Verständnis des menschlichen Hörvermögens in komplexen räumlichen Hörsituationen versprechen sich die Wissenschaftler von diesem Projekt Fortschritte bei der Diagnostik und Rehabilitation von Schwerhörigen.Abbild der äußeren Welt
Visuell-auditorische Interaktion bei einfachen und gerichteten manuellen Reaktionen und Augenbewegungen (Prof. Dr. Hans Colonius, Fach Psychologie)
Wie die von den Sinnesorganen zunächst getrennt voneinander übermittelten Informationen zu einem Gesamtabbild der äußeren Welt integriert werden ("sensorische Integration"), ist eine zentrale Fragestellung dieses Projektes. Damit ein Organismus auf die sich ständig verändernden Bedingungen seiner Umgebung adäquat reagieren kann, muß eine interne Repräsentation der Umwelt gebildet werden. In diesem Projekt geht es insbesondere um die Lokalisierung von Ereignissen, die sowohl akustisch als auch visuell dargeboten werden. Es werden manuelle Reaktionszeiten gemessen, und es werden die Ausführungszeiten und Trajektorien zielgerichteter Augenbewegungen (Sakkaden) auf audiovisuelle Reize erhoben. Das Projekt strebt an, neurophysiologische Erkenntnisse und Hypothesen über die Mechanismen, die der intersensorischen Integration zugrunde liegen, mit experimentalpsychologischen Verhaltensdaten in Einklang zu bringen. Neben der grundlagenwissenschaftlichen Erkenntnis können die Ergebnisse des Projektes auch für angewandte Fragestellungen relevant sein, wie z. B. die Arbeitsplatzgestaltung bei Kontroll- und Überwachungstätigkeiten oder die Rehabilitation.Theoretische Reflexion
Theoretische Probleme der Neurokognition (Prof. Dr. E. Scheerer, FB Psychologie)
Dieses Projekt, das aus äußeren Gründen nicht in die Anfangskonzeption des SFB einbezogen werden konnte, jedoch - seine Genehmigung vorausgesetzt - im Laufe des Jahres 1996 beginnen wird, setzt die in der DFG-Forschergruppe begonnene Tradition der theoretischen Reflexion von Grundlagenproblemen fort und hat insofern gegenüber den anderen Projekten beratende und integrative Aufgaben. Es behandelt die folgenden Problemkreise:1. Unter welchen Voraussetzungen kann auf der Ebene von neuronalen und "künstlichen", d. h. modellierten Netzwerken von "Kognition" (d. h. Erkenntnis), "Repräsentation" (d. h. innerer Abbildung oder Darstellung) und "Bedeutung" sinnvoll (d h. nicht metaphorisch) gesprochen werden, und in welcher Beziehung steht die neurale Realisierung dieser Begriffe zu ihrer psychologischen Realität?
2. Aufgrund welcher Kriterien lassen sich verschiedene Sinnessysteme (Sehen, Hören usw.) voneinander abgrenzen, und aufgrund welcher Mechanismen und auf welchen Ebenen findet eine Integration der verschiedenen Sinnessysteme in "intermodale" Repräsentationen statt?
3. Welches sind die minimalen Kriterien dafür, daß ein Sinneseindruck zu Bewußtsein gelangt?
Diese Themen bilden derzeit den Gegenstand einer intensiven, internationalen Grundsatzdiskussion, die allerdings entweder relativ abstrakt-physiologisch oder jeweils vom Standpunkt einzelner Disziplinen geführt wird. Hier möchte das Projekt durch eine konsequent interdisziplinäre Vorgehensweise Abhilfe schaffen, indem die Ergebnisse verschiedener Disziplinen unter einem einheitlichen theoretischen Gesichtspunkt integriert werden. Dieser Gesichtspunkt besteht darin, daß der Bereich des Geistigen nicht vom Bereich des Natürlichen abgetrennt oder ihm gegenübergestellt, sondern als spezifische Funktion bestimmter Prozesse des Nervensystems in seiner physischen und sozialen Umgebung gefaßt wird.