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Die Unmöglichkeit der Distanzierung von der Natur
Hans-Peter Dürr über die Zusammenhänge von Physik, Philosophie
und Politik und die Grundlagen der Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft
Prof. Dr. Hans-Peter Dürr, international renommierter Kernphysiker
und Träger des Alternativen Nobelpreises von 1987, hat die philosophische
Ehrendoktorwürde des Fachbereichs 5 Philosophie, Psychologie, Sportwissenschaft
der Universität erhalten. Der langjährige Direktor des Münchener
Max-Planck-Instituts für Physik und Astrophysik wurde für sein
wissenschaftliches Lebenswerk und sein gesellschaftspolitisches Engagement
ausgezeichnet. In seiner Dankesrede, die hier in gekürzter Fassung
wiedergegeben ist, durchmisst Dürr die Stationen seiner intellektuellen,
wissenschaftlichen und moralischen Biographie.
Mein Hauptmotiv, Physik zu studieren, hatte damit zu tun, dass ich mich
eigentlich für die Philosophie entschlossen hatte. Ich wollte erkennen,
was die Welt im Innersten zusammenhält. Und dann landet man bei der
Atomphysik oder bei den noch kleineren Einheiten der Atome, bei den Atomkernen
oder den Elementarteilchen. Ja, es war zunächst einfach meine Neugier
als junger Mensch, die Dinge besser verstehen zu wollen.
Panzerfaust und Wasserstoffbombe
Aber nach Kriegsende hatte sich diese Neugierde in etwas verwandelt,
das direkt existenziell für mich wichtig wurde . Ich war so deprimiert
am Ende des Krieges, dass ich gar nicht mehr wusste, woran man sich noch
orientieren sollte. Es gab einen absoluten Vertrauensbruch zu den Erwachsenen,
die uns in diese Situation gebracht hatten. Ich war 15-jährig noch
mit Panzerfaust und Pistole in den Krieg geschickt worden, um die alten
Festungen zu verteidigen. Das hat bei mir eine ganz empfindliche Spur
hinterlassen. Immer wenn ich von Solidarität höre, werde ich
unendlich misstrauisch, besonders wenn bedingungslose Hingabe und Opfer
verlangt werden. Selbst die Erwachsenen, denen ich Vertrauen entgegen
gebracht hatte, hatten keinen Durchblick.
All dies hat mich dazu geführt, etwas machen zu wollen, bei dem ich
auf das Urteil der Erwachsenen nicht angewiesen war. Und das bedeutete,
dass ich zwar philosophisch arbeiten wollte, aber eine geerdete Philosophie
anstrebte. Und das war für mich die Physik, die beweisen kann, was
richtig und was falsch ist.
Ich habe mir nach dem Kriege Werner Heisenberg als Vorbild genommen. Im
Juni 1946 hat er einen Vortrag vor Göttinger Studenten gehalten,
in dem er von einem Neuaufbruch sprach, davon, dass die Wissenschaft die
Möglichkeit hat, Menschen zusammenzubringen. Das hat mich sehr aufgerichtet,
und ich nahm mir vor, eines Tages gemeinsam mit Werner Heisenberg zu arbeiten.
Ich habe daraufhin zunächst einige Kurse an der Volkshochschule belegt
und immer wieder war von Heisenberg und der neuen Physik die Rede. Ich
wollte das alles verstehen: Unschärferelation, die Operatormechanik
oder Matrizenmechanik.
Ich bin dann nach Amerika an die Universität Kalifornien gegangen.
Dort lehrte Edward Teller. Er lag damals mit Oppenheimer im Streit, ich
wusste aber nichts davon. Für mich war Teller als Professor interessant,
der einen Doktoranden suchte. Es stellte sich heraus, dass Teller 1930
seinen Doktor in Leipzig bei Heisenberg gemacht hat. Das war für
mich der Grund, bei Teller zu bleiben.
Ich ahnte damals nicht, dass diese Entscheidung mich wieder in die Nähe
zur Politik brachte, was ich unbedingt hatte vermeiden wollen. Als Vater
der Wasserstoffbombe stand Teller selbstverständlich im Zentrum politischer
Verwicklungen, wofür gerade auch der Streit mit Oppenheimer steht.
Da habe ich erkannt, dass Erkenntnis sich nicht nur darum dreht, was die
Welt im Innersten zusammenhält, sondern dass ihr eine Ambivalenz
innewohnt und dass man mit dieser Erkenntnis auch Bomben bauen kann. Erkenntnis
ist ambivalent, sie kann zu Verfügungs- oder Orientierungswissen
beitragen.
Die Verantwortung, Fragen zu stellen
In diesem Zusammenhang wurde mir bewusst, dass ich wieder vor der schwierigen
Frage der Verantwortung stand: Auf was soll man sich einlassen und auf
was darf man sich nicht einlassen.
Mich hat damals die Schuldfrage enorm umgetrieben. Ich habe sehr darunter
gelitten, dass ich gewissermaßen von außen her, vom Ausland
her, wie ein Krimineller angesehen wurde. Als Deutscher kam man sich immer
ein bisschen eigentümlich vor, man gehörte dieser Gruppe von
Menschen an, die schreckliche Dinge gemacht hatten. Innerlich habe ich
das nicht gut verkraftet. Ich hatte durch diese Zeit erst meine ganze
Jugend verloren und mußte nun noch den Vorwurf ertragen, auch noch
daran Schuld zu sein.
In dieser Zeit habe ich Hannah Ahrendt getroffen. Sie hat 1955 in Amerika
ihren Vortrag über Totalitarismus gehalten. Ich kam mit ihr sehr
intensiv ins Gespräch und habe von ihr ganz Wesentliches gelernt.
Sie gab mir gewissermaßen die Sicherheit zurück. An die amerikanischen
Studenten gerichtet sagte sie, dass die Schuld, die einer Gruppe von außen
zuordnet wird, stets größer ist als die Schuld, die die Leute
in dieser Gruppe wirklich haben. In Deutschland habe man damals nicht
die Möglichkeit gehabt, frei zu sprechen. Wenn man über die
Erfahrungen, die man mache, nicht rede, wisse man nicht recht, ob es wirklich
Erfahrungen wären. Sie sagte: Wir sind auf den menschlichen Dialog
angewiesen, um richtige Erfahrung machen zu können. Wenn alles in
einem selber bleibt, weiß man hinterher kaum noch, ob man das wirklich
erlebt hat, besonders wenn schreckliche Dinge um einen herum geschehen.
Das war das eine.
Das zweite, dass sie sagte, war: Die Schuld des Einzelnen ist viel größer
als man es selbst einschätzt. Darüber haben wir uns lange ausgetauscht.
Ich fühlte mich total unschuldig und missbraucht. Sie erwiderte,
die eigentliche Schuld besteht nicht darin, dass man große Verbrechen
begangen hat, sondern dass man Dinge sieht und erlebt, von denen man weiß,
dass sie nicht richtig sind und doch nichts dagegen unternimmt. An dieser
Stelle fängt die eigentliche Verantwortung an: Wenn du etwas siehst,
das du für nicht in Ordnung hältst, musst du es nicht unbedingt
ändern. Aber du musst anfangen zu fragen. Du musst diejenigen, die
es tun, fragen, warum sie das tun. Es kommt darauf an, dass wir Fragen
stellen, dass wir nachfragen und den Anderen erklären lassen. Denn
damit stoßen wir das Wesentliche an, damit das, was wir tun, auch
bewusster wird - mir sowie demjenigen, den ich befrage.
Das hat mich eigentlich zu einem Grenzgänger gemacht. Ich bin jemand,
der stets nachfragt. Das ist nicht sehr angenehm für die meisten,
denn dieglauben, wenn man diese Fragen stellt, tue man so, als wisse man
es besser. Nein, man weiß es nicht besser. Aber man möchte
von denen, die glauben, es besser zu verstehen, eine Antwort haben. Das
ist so ähnlich wie bei den Sokratischen Dialogen. Sokrates stand
auf dem Marktplatz und fragte alle: Warum tust du dies und jenes. Darin
liegt eigentlich die Hauptverantwortung.
Das Gespräch mit Ahrendt hat mich, was in den acht Jahren nach dem
Krieg nicht passiert ist, innerhalb weniger Wochen zu einem anderen Menschen
gemacht. Aus jemandem, der sagte "Ohne mich. Ich werde mich nie wieder
irgendeiner Sache hingeben, wenn ich nicht ganz genau weiß, was
damit gemeint ist", von dieser Ohne-mich-Haltung hat es mich verwandelt
in jemanden, der sich bis zum heutigen Tag voll engagiert.
Nach Deutschland bin ich hauptsächlich zurückgekehrt, um dies
Schlüsselerlebnis in meine Heimat zurückzutragen. Bei Werner
Heisenberg wurde ich Wissenschaftler, fasziniert wie alle von der neuen
Physik, aber auch von der Art und Weise, wie Heisenberg die Physik betrieben
hat. Er sagte immer: Wissenschaft wird von Menschen gemacht. Und das Wesen
der Wissenschaft ist der Dialog, immer wieder der Dialog. Da passiert
das Wesentliche und nicht nur beim Studium der Bücher. Ich habe dann
mit ihm über die fundamentale Dynamik der Materie Arbeiten geschrieben
- eine ganz aufregende Zeit.
Beziehungsstrukturen und sonst gar nichts
Aber das Wesentliche war, dass ich bei Heisenberg sehr viel gelernt
habe und wirklich Einblick in die tiefen Hintergründe der neuen Physik
erhielt. Diese Physik war nicht einfach nur ein neues Paradigma, sie hat
eine ganz andere Grundstruktur, die sich nur schwer mit der Sprache erklären
lässt, die wir uns in unserer Lebenswelt angeeignet haben. Sie hat
eine ganz andere Struktur, keine ontologische Struktur. Im Hintergrund
dieser Wirklichkeit gibt es nichts, was wirklich existiert, sondern es
gibt nur die Bewegung. Es gibt nichts, was existiert, sondern es sind
lediglich Operatoren da, also Ausdrücke für die Metamorphose,
die Bewegung. Es gibt nur Verbundenheit. Aber Worte drücken das nur
unvollkommen aus. Verbundenheit, da fragt man sofort, was ist womit verbunden.
Diese Problematik hat mich zur Frage geführt, wie eigentlich diese
neue Sichtweise mit anderen Vorstellungen in der Geschichte der Wissenschaft
zusammenhängt.
Im Prinzip ist das meiste dessen, was heute in unserem Denken eine Rolle
spielt, früher irgendwann schon einmal aufgetaucht. Aber doch auf
eine spezifisch andere Art. Meist - ich will das mal so ausdrücken
- hat jemand einen Zipfel der Wahrheit erwischt und ist dann der Versuchung
erlegen, die Erklärung zu verabsolutieren und ist damit ins Abseits
geraten, weil eine solche Verabsolutierung eben nicht funktioniert. Dann
ist ein Anderer aufgetreten und hat gesagt, dieses und jenes fehlt doch,
und hat versucht, es in ein anderes Korsett hineinzustopfen, was immer
misslingt.
Ich habe den Eindruck, dass vielleicht der wesentliche Unterschied zu
den alten Vorstellungen in dem besteht, was wir aus der modernen Physik
gelernt haben: Dass wir vor Widersprüchen keine Angst haben sollen
und nicht versuchen sollen, diese Widersprüche auf einer gewissen
Ebene sozusagen loszuwerden. Es muss auf eine Art geschehen, bei der man
eigentlich auf eine neue Ebene gehen muss, so dass diese Widersprüche
nicht in dem eigentlichen Sinne auftreten, sondern sich in dieser anderen
Form dann auf gewisse Weise auflösen, aber auf eine Art und Weise,
die nicht so einfach nachzuvollziehen ist.
Heisenberg hat das mal in seinem Buch "Der Teil und das Ganze"
ausgedrückt. Er sagte, die moderne Physik, die Quantenphysik, die
ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie man etwas mit aller Klarheit
verstanden haben kann. Und mit dieser Klarheit meinte er, dass wir als
Physiker ja immer noch die Sprache der Mathematik haben, mit der wir Dinge
sehr klar ausdrücken können. Viele, die nicht genügend
von der Mathematik verstehen, haben leicht den Eindruck, sie habe mit
Rechnen zu tun. Aber die Mathematik ist letztlich eine Sprache, die keine
Aussagen über das trifft, was ist. Ihre Aussagen betreffen das Wie,
nicht das Was. Deshalb ist sie ideal geeignet für eine Betrachtungsweise,
in der das Was, die Materie, verschwindet und es lediglich auf die Beziehungsstrukturen
ankommt. Und Heisenberg sagt weiter: Von den Resultaten kann man nur in
Form von Gleichnissen und Bildern sprechen. Die Alltagssprache besitzt
nicht die Genauigkeit. Das heißt, für mich ist die moderne
Physik ein Denkbeispiel, wie wir diese Schwierigkeit auflösen können,
wenn Widersprüche auftreten.
Abrüstungsdialoge und nachhaltige Ökologie
Nachdem ich in München Institutsdirektor wurde, kam ich wieder
in die politische Situation. Als Wissenschaftler war ich zu sehr abgelenkt
durch meine Wissenschaft. In dem Augenblick, wo Wissenschaftler öffentliche
Verantwortung übernehmen, kommen sie wieder in die politischen Sachen
herein. Ich habe mich dann in den Abrüstungsverhandlungen sehr engagiert,
weil ich als Kernphysiker zu den Wissenschaftlern gehört habe, die
sich Gedanken gemacht haben, wie man es einrichten kann, dass die Atomwaffen
nicht in einem großen Krieg enden. Hier haben wir immer wieder ungeheuer
viel gesprochen, West und Ost, miteinander in Dialogen versucht, diese
Dinge zu klären.
Ich habe auch auf diese Dialoge im Zusammenhang mit den Fragen der Ökologie
gesetzt. Denn aus der modernen Physik geht hervor, dass Mensch und Natur
in einem ganz anderen Verhältnis stehen. Mensch und Natur bilden
eine viel nähere Einheit, als die alten Denkweisen annahmen. Das
hat mich dann eben auch in diese ganzen ökologischen Fragestellungen
hereingebracht. Der Mensch kann sich nicht einfach distanzieren von der
Natur, als ob sie etwas für ihn Außenstehendes sei. Die Natur,
um die es hier geht, ist seine eigene Lebensgrundlage. Wir müssen
uns um das kümmern, was wir heute Nachhaltigkeit nennen.
An die Grundlagen der Natur anküpfen
Wir verstehen mehr als wir begreifen. Das ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt,
weil wir Teil dieser Natur sind, die nicht nur im Materiellen angesiedelt
ist, sondern tiefere Ebenen hat, die nicht mit der begreifbaren und materiellen
Ebene zusammenhängen. Das gibt uns die Möglichkeit, eine Sprache
zu entwickeln, die über das Begreifbare hinausgeht und doch von uns
verstanden werden kann.
Diese Überlegungen haben mich dazu geführt, die Frage dieser
Machtförmigkeit unserer Gesellschaft aufzuwerfen. Wir haben oft den
Eindruck, die Aggressivität des Menschen sei etwas, das tief und
fest in der Natur verankert ist. Wir gehen davon aus, dass es die menschliche
Zivilisation ist, durch die der Machttrieb gebändigt und Aggression
sublimiert wird, dass nur durch die Zivilisation eine Gesellschaft möglich
wird, in der die Mitglieder nicht aggressiv aufeinander losgehen.
Aber es ist gerade umgekehrt. Im Grunde der Natur ist diese Gegensätzlichkeit
gar nicht vorhanden, sondern die Verbundenheit. Wir können daher
unmittelbar an die Grundlagen der Natur anknüpfen. Wir verstehen
sie und die Verbundenheit nicht mehr, die im Hintergrund existiert. Der
Machttrieb hat etwas damit zu tun, dass wir abgekoppelt sind von dieser
Verbundenheit, deshalb in Angst leben und versuchen, unsere Sicherheit
in der Welt zu finden, indem wir uns immer mehr mit Dingen umgeben.
Mir kommt es manchmal vor, als ob wir durch die Nacht laufen und Angst
haben, weil es so dunkel ist. Wir glauben, aus der Dunkelheit kommt etwas
auf uns zu, das uns gefährlich werden kann. Und dann kommen wir auf
die Idee, uns eine Taschenlampe zuzulegen, weil wir glauben, je heller
das Licht der Taschenlampe ist, umso weniger Angst müssen wir haben.
Und es passiert genau das Umgekehrte: Wenn Sie mit der Taschenlampe durch
die Nacht gehen, haben Sie noch mehr Angst, denn das, was außerhalb
des Scheinwerfers liegt, ist noch viel schwärzer als vorher. Wenn
Sie Angst haben, schalten Sie Ihre Taschenlampe aus, dann sehen Sie ein
bisschen weniger, aber Sie können die ganze Welt sehen, die um Sie
herum ist! Das Bild ist in dem Sinne gemeint, dass wir annehmen, dass
die Wirklichkeit so ist, dass sie für uns wissbar ist, dass das,
was wir Wissen nennen, auf die Wirklichkeit anwendbar ist. Aber das ist
nicht der Fall. Es ist nur für einen gewissen Teil anwendbar. Die
Wirklichkeit ist viel größer. Warum soll sie sich kümmern
darum, so beschaffen zu sein, dass wir sie verstehen, sie begreifen können.
Aber weil wir Teil der Wirklichkeit sind, haben wir trotzdem Zugang auch
zu dieser Wirklichkeit.