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Das aktuelle Interview

"Adorno konnte wie eine Treibhausblüte heranwachsen"

Stefan Müller-Doohm über Adorno und seine Biographie zum 100. Geburtstag des großen Soziologen und Musiktheoretikers

Stefan Müller-Doohm (rechts) im Gespräch mit Reinhard Schulz.

Foto: Wilfried Golletz

Nach sechsjähriger Forschungsarbeit hat der Oldenburger Soziologe Prof. Dr. Stefan Müller-Doohm seine umfangreiche Biographie über den großen Soziologen Theodor W. Adorno (1903 - 1969) abgeschlossen, dessen 100. Geburtstag sich 2003 jährt. Im August erscheint das über 1000 Seiten starke Werk Müller-Doohms „Adorno. Eine Biographie“ beim Frankfurter Suhrkamp-Verlag. Aber es wird nicht nur in deutscher Sprache erscheinen, sondern auch ins Englische, Französische, Italienische, Spanische, Chinesische, Japanische und Koreanische übersetzt. Das internationale Interesse an Adorno zeigt sich auch an den zahlreichen Einladungen, die Müller-Doohm erreichen. Er wird über den Mitbegründer der „Frankfurter Schule“ u.a. in Tel Aviv, Peking, Barcelona, Madrid und Zürich sprechen. Der Geschäftsführer der Karl-Jaspers-Vorlesungen zu Fragen der Zeit, Dr. Reinhard Schulz, sprach für das UNI-INFO mit Müller-Doohm.

UNI-INFO: In der Süddeutschen Zeitung“ war zu lesen: „Wer den ganzen Adorno will, muss Müller-Doohm lesen. Er bietet die einzige umfassende Darstellung seines Lebens“ und an anderer Stelle: „Müller-Doohms persönliches Bild entsteht...“. Besteht da nicht ein Widerspruch?

MÜLLER-DOOHM: Mein persönliches Bild von Adorno zu entwerfen, ist nicht Absicht dieser Biografie. Ziel ist vielmehr, die Lebensgeschichte des Philosophen und Komponisten nachzuzeichnen. Dazu musste ein aufwendig recherchierter Quellenkorpus erstellt werden, der die objektive Grundlage der Biografie darstellt. Die Lebensgeschichte, die die Person repräsentiert, wird aber von mir wiederum in den Kontext der Zeitgeschichte gestellt. Die Zeitgeschichte spiegelt sich im Werk. Im Zentrum der Adorno-Biografie steht also das Kraftfeld dieser drei Aspekte.

UNI-INFO: Sie mögen Jazz. Adorno verspürte zeitlebens eine heftige Abneigung dagegen. Der Frankfurter Jazz-Gitarrist Volker Kriegel hat einmal in einer Satire Adornos Abneigung auf seine fehlenden Englischkenntnisse zurückgeführt. Was halten Sie von dieser These?

Stefan Müller-Doohm,
Aodorno. Eine Biographie

Mit zahlreichen Abbildungen, 1032 Seiten. Jubiläumspreis bis Ende 2003 ca. 29,90

Auslieferung: August 2003

MÜLLER-DOOHM: Adorno sprach während seiner Emigrationsjahre in Eng­land und Amerika gut Englisch. Er hat auch in dieser Sprache publiziert. Und was die Jazzanalysen angeht, so denke ich, man sollte sie nicht ganz von der Hand weisen - trotz der Notwendigkeit, sich kritisch damit auseinander zu setzen - also ganz im Geiste von Adorno. Aus der eigenen Erfahrung würde ich sagen, dass Adornos sozialpsychologische Beschreibungen der Jazz-Fan-Gemeinde trotz aller polemischen Überzeichnungen ihren Wahrheitsgehalt haben und etwas Wichtiges treffen - wie das Starwesen, das es ja auch in dieser Musikgattung gibt, und die Fixierung auf den Sound oder die Selbstinszenierung des Andersseins. Alles das sind Aspekte, die eine zutreffende Beschreibung geben. Als Problem bleibt aber bestehen, dass Adorno die Weiterentwicklung dieser Musikgattung nicht wirklich verfolgt und die Unterhaltungsmusik mit Jazz verwechselt hat. Er hat nicht gesehen, was den Jazz eigentlich ausmacht: als die Musik der Schwarzen. Das hat er nicht zur Kenntnis genommen und lag deshalb einer Reihe von Fehlschlüssen auf.

UNI-INFO: Wie ist demgegenüber der Einfluss der Musik, insbesondere der „modernen Klassik“, auf die kritische Theorie Adornos einzuschätzen?

MÜLLER-DOOHM: Für Adorno ist die Tatsache, dass er als Komponist gearbeitet hat, ganz zentral. Ich glaube, seine Soziologie und Philosophie kann man erst verstehen, wenn man sich klar macht, dass er in der Tradition der Zweiten Wiener Schule komponiert hat. Etwa die Vorstellung eines variierenden Denkens in Konstellationen erklärt sich aus der Musik, ebenso die Idee, dass jeder Gedanke gleich nah zum Mittelpunkt stehen soll.

UNI-INFO: Adorno hat einmal sinngemäß gesagt: Wer weiß, was ein gutes Gedicht ist, wird schwerlich eine gut bezahlte Stelle als Texter in einer Werbeagentur bekommen. Sehen Sie das auch so?

MÜLLER-DOOHM: Werbung ist Teil der Kulturindustrie, und ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der ein Bewusstsein von Lyrik hat, wirklich Chancen in dieser Branche hätte. Ein Symptom dafür ist, was vom Bildungsauftrag der Universitäten übrig geblieben ist. Adorno hat immer wieder moniert, dass innerhalb der Universitäten es nur noch darauf ankommt, technisch verwertbares Wissen herzustellen, und dass möglichst schnell eine verwertbare Arbeitsmarktqualifikation vermittelt wird. Alles das beobachten wir heute ja als eine weitaus extremere Tendenz als damals, als Adorno noch lebte.

UNI-INFO: Der Suhrkamp-Verlag legte 2001 Adornos „Minima Moralia“ fünfzig Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung neu auf. Dort finden sich die berühmten Sätze: „Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht des anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Hat eine Philosophie, für die „das Ganze das Unwahre“ ist, wie Adorno sagt, auch eine heute noch zeitgemäße Erklärungskraft?

MÜLLER-DOOHM: Einerseits haben die Zeitdiagnosen, die Adorno entwickelt hat, auch heute noch ihren Stellenwert. Ich würde etwa die Kulturindustrie-Analyse als Beispiel nennen oder auch seine Theorie einer Krise des Subjekts oder auch seine Vermutung einer globalen Ausbreitung des Kapitalismus. Auf der anderen Seite kommt es nicht so sehr auf die konkreten Inhalte der Analyse bei Adorno an, weil er immer darauf bestanden hat, zu zeigen, dass aller Wahrheit ein Zeitkern innewohnt. Ich sehe das Innovative bei Adorno in seiner spezifischen Art und Weise des Denkens, d. h. in der dialektischen Methode, sich mit gesellschaftlichen Phänomen auseinander zu setzen, sie von innen her zu entschlüsseln, um so ihre jeweilige soziale Bedingtheit verständlich zu machen. Das ist viel bedeutender als die einzelnen Aussagen zur Gesellschaft, wenngleich auch von denen heute noch manches zu lernen ist.

UNI-INFO: Wie viele andere Intellektuelle wird auch Adorno unter „Genieverdacht“ gestellt. Stimmen Sie dem zu?

MÜLLER-DOOHM: Jüngst hat sich Jürgen Habermas in diesem Sinne geäußert. Das Ingeniöse hängt zusammen mit der Vielfalt der Arbeitsfelder und Tätigkeitsbereiche, in denen Adorno sich virtuos entfalten konnte. Er war Komponist, er war Soziologe, er war Philosoph, er war Literaturkritiker und hatte eine imponierende Bildung, die heute unvorstellbar ist. In der Schule übersprang er mehrere Klassen und ging schon mit 17 Jahren zur Universität. Als 21-jähriger hatte er seinen Doktor-Phil. in der Tasche. Woher kommt so was? Eine große Rolle hat sicher die Familie gespielt. Der Vater von Adorno, ein jüdischer Weinexporteur, schuf die ökonomische Grundlage und hat die ganzen fantasievollen Entwicklungsschritte von Adorno wohlwollend begleitet - auch die Marotten, die der junge Intellektuelle früh schon mit seiner Überbegabung hatte. Bedeutend für Adornos Entwicklung waren vor allem die beiden Frauen, die ihn erzogen haben: seine leibliche Mutter Maria und ihre Schwester Agathe. Die Mutter war vor der Ehe Sängerin und repräsentierte die Musikalität in der Familie, während Agathe sich der literarischen Erziehung des Kindes angenommen hat und sehr früh schon mit Adorno beispielsweise Baudelaire las. Adorno konnte wie eine Treibhausblüte - so hatte er das selber genannt - in einer bildungs- und wirtschaftsbürgerlichen Familie heranwachsen.

UNI-INFO: Ist die Biografie für einen Soziologen ein geeignetes Mittel, um sich einen Zugang zur modernen funktional differenzierten Gesellschaft zu verschaffen, indem sie dem längst verabschiedeten Aufklärungssubjekt versucht neues Leben einzuhauchen?

MÜLLER-DOOHM: Dass das Aufklärungssubjekt, d. h. die Idee des zwanglosen Zwangs des besseren Arguments verabschiedet sei, will ich überhaupt nicht akzeptieren. Durch die Kritik von Aufklärung und Vernunft hindurch halten wir ja nicht zuletzt dank Adorno an diesen Prinzipien fest. Zum anderen: Soziologen sind geradezu prädestiniert dazu, Biografien zu schreiben. Warum? Weil man anhand von Biografien sehr anschaulich zeigen kann, wie das Wechselspiel zwischen Besonderem und Allgemeinem, zwischen Individuum und Gesellschaft aussieht. Es lässt sich sozusagen am Material demonstrieren, wie die Gesellschaft sich in die Person einschreibt, wie die Personen wiederum als Handlungsakteure zurückwirken auf die Gesellschaft und ihre Geschichte. Im Übrigen kommt hinzu, dass ich versucht habe, eine Art Soziologie des Intellektuellen zu schreiben, mich also ganz in meinem Metier bewegt habe.

UNI-INFO: Gab es bei der Beschäftigung mit Adorno auch etwas zu lachen und was hat er selbst vom Lachen gehalten?

MÜLLER-DOOHM: Adorno war auf der einen Seite ein sehr ernster Mensch, auf der anderen Seite ein sehr spontaner, der durchaus auch lachen konnte und auch Anlass zum Lachen gegeben hat, wenn er z.B. in privater Runde lange über seine Beobachtung eines vietnamesischen Hängebauchschweins im Frankfurter Zoo berichtete. In meiner Studienzeit in Frankfurt hat er ein Seminar über die Soziologie des Lachens durchgeführt. Da haben wir Studierende auf der Grundlage von Feldstudien, also durch die Analyse von Situationen, in denen gelacht worden ist, gelernt, was es heißt, soziologisch Alltagssituationen zu analysieren. Ich selbst musste bei meiner Arbeit an der Biografie über einen Briefwechsel von Adorno mit dem Zoodirektor Grzimek schmunzeln. Adorno kritisiert in langen Ausführungen die Großwildjagd und solidarisiert sich mit dem Zoodirektor. In diesem Briefwechsel macht er dann auch Vorschläge, welche Tiere für den Frankfurter Zoo angeschafft werden sollten - etwa ein Pandabär-Pärchen und ein Hirscheber. Das waren einige der Tiere, die er als Kind mochte.

UNI-INFO: Am 4. Juni werden Christoph Gödde und Henri Lonitz vom Theodor W. Adorno Archiv den Karl Jaspers Förderpreis der Stiftung Niedersachsen erhalten. Sie haben sich selbst dafür stark gemacht. Welche Bedeutung hat ihre Editionsarbeit der Werke Adornos und Benjamins?

MÜLLER-DOOHM: Der Nachlass ist ja in Frankfurt im so genannten Theodor W. Adorno Archiv aufbewahrt. Und ohne die jetzt seit Jahren kontinuierlich vorgenommene Editionsarbeit könnte wohl kein Autor eine fundierte Adorno-Biografie schreiben. Die mit dem Jaspers-Preis-Ausgezeichneten sind ja mitverantwortlich für die vorbildliche Herausgabe der Briefwechsel von Ador­no - etwa mit Thomas Mann, mit Max Horkheimer und mit Walter Benjamin und mit Alban Berg und jetzt auch in nächster Zeit mit den Eltern. Das sind nicht nur Quellen allerhöchster Güte, sondern zeitgeschichtliche Dokumente.

UNI-INFO: Sie sagen, Adornos Aktualität besteht darin, dass Aspekte seiner Gesellschaftstheorie für die Gegenwart gültig sind und seine soziologische Reflexionsweise nach wie vor produktiv ist. Was macht das Faszinierende der Person für den Zeitgenossen aus?

MÜLLER-DOOHM: Adorno beeindruckt durch die Kraft der Formulierung und die höchst individuelle Weise, mit der er geschrieben hat. Sein Engagement für die Erziehung zur Mündigkeit hat für die Pädagogik geradezu revolutionäre Auswirkungen gehabt und war ein entscheidender Impuls für die Hochschulreform. Bedeutender ist aber: Mit seiner These zur Erziehung nach Auschwitz hat er die vakante Position des moralische Fragen thematisierenden öffentlichen Intellektuellen besetzt und als Modell überliefert.

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Presse & Kommunikation (Stand: 06.09.2024)  | 
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