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Uni-Info Kopf

Nicht charismatisch, sondern authentisch

Bestseller-Autor Hilbert Meyer über die Konsequenzen aus PISA, guten Unterricht und das Erfolgsgeheimnis seiner Bücher

Bücher für alle Lehrer in Deutsch-
land: Schulpädagoge Hilbert Meyer. Foto: Nadine Diekmann

Prof. Dr. Hilbert Meyer ist seit 1975 Hochschullehrer für Schulpädagogik an der Universität Oldenburg. Der Wissenschaftler wurde geprägt von seiner Lehrerzeit an der Volksschule Ocholt - und von der 68er-Bewegung, mit der er besonders in seiner Doktorandenzeit an der Freien Universität Berlin (1967/68) in Berührung kam. Ein Relikt dieser Zeit: Er duzt auch heute noch in der Universität seine studentischen und anderen Gesprächspartner - und lässt sich dementsprechend duzen. Meyer stammt aus Lauenburg/Pommern und ist im Ammerland aufgewachsen. Er hat mehrere Standardwerke zur Didaktik und Schulpädagogik verfasst. Sein jüngstes Buch heißt „Was ist guter Unterricht?“
UNI-INFO: In diesen Tagen beklagte sich meine jüngere Tochter, die die 12. Klasse besucht, sehr heftig über einige Lehrer, die so furchtbar weich und unstrukturiert seien, alles durchgehen ließen und wenig forderten. Eigentlich seien die strengeren Lehrer besser, meinte sie. Deckt sich das mit deinen Erkenntnissen?
MEYER: Eine klare Strukturierung des Unterrichts steht tatsächlich an der Spitze der empirisch nachgewiesenen Merkmale guten Unterrichts. Klare Strukturierung ist allerdings nicht identisch mit Strenge. Wichtig ist vielmehr, Grenzen zu setzen und den Schülern deutlich zu sagen, welche Ziele sie in der Stunde erreichen sollen und wie der Lernprozess vonstatten gehen soll. Anders formuliert: Unterricht ist dann gut, wenn der „rote Faden“ auch für die Schüler klar erkennbar ist. Ein gut strukturierter Unterricht kann bei älteren Schülerinnen und Schülern sogar methodisch langweilig und im Klima kühl sein, aber dennoch kommt ein hoher kognitiver Lernerfolg heraus. Ein weiteres Element für guten Unterricht besteht darin, dass Schüler und Lehrer ein Arbeitsbündnis eingehen müssen. Grundsätzlich sollte der Lehrer oder die Lehrerin die Haltung einnehmen: Ich bin etwas anderes als „Stoffvermittler“. Meine Aufgabe besteht darin, den Schülern beim Lernen zu helfen.

Lehrer und Entertainer

UNI-INFO: Also müssen Lehrer gar nicht besonders ausgeprägte Persönlichkeiten mit einem starken Charisma sein, wie dies etwa in dem Film „Der Club der toten Dichter“ suggeriert wird?
MEYER: Es ist schon so, dass ein Lehrer, der nicht von seinem eigenen Fach begeistert ist, die Schüler schlecht erreichen kann. Aber er muss nicht der Zampano, der große Entertainer vor der Klasse sein. Entscheidend ist, dass er authentisch wirkt. Dafür haben Schüler ein feines Gespür. Sie riechen es förmlich, wenn ein Lehrer Angst vor ihnen hat, wenn er unehrlich ist und „Schülerorientierung“ heuchelt.
UNI-INFO: Kann man lernen, ein guter Lehrer zu sein, oder ist es, überspitzt gesagt, eine Gabe, die angeboren ist?
MEYER: Ich glaube nicht daran, dass Lehrer-Persönlichkeiten geboren werden oder dass sich das positive Lehrer-Schüler-Verhältnis quasi naturwüchsig einstellt. Man kann an seiner Persönlichkeit arbeiten. Allerdings ist zu bedenken, dass die Persönlichkeitsentwicklung mit 19 oder 20 Jahren weitgehend abgeschlossen ist. Deswegen machen auch die z.T. sehr strengen Auswahlverfahren für Lehramtsstudenten, die in anderen Ländern üblich sind, Sinn. Man will so sicherstellen, wirklich die richtigen zu bekommen. An der Uni Helsinki wird z.B. nur jeder zehnte Bewerber für einen Studienplatz im Gymnasiallehramt angenommen.
UNI-INFO: Befürwortest du denn, dass auch die deutschen Universitäten ihre Lehramtsstudenten auf diese Weise aussuchen?
MEYER: Ja, wenn es denn eine seriöse Prüfung wird, die möglichst breit angelegt ist. So werden die Bewerber in Helsinki auch durch die Simulation zukünftiger Berufssituationen gestestet, und das ist mit Sicherheit sehr sinnvoll. Das Problem ist nur, dass wir etwa für die Hauptschule gar keinen großen Bewerberpool hätten, aus dem wir schöpfen könnten. In Finnland, bekanntlich ja PISA-Sieger, und anderen Ländern ist eben der gesellschaftliche Stellenwert des Lehrerberufs weit höher als hierzulande.
UNI-INFO: Noch einmal zu meiner Tochter. Sie ist auch wenig von Gruppenarbeit überzeugt. Da wird viel gequatscht und es kommt wenig dabei heraus, sagt sie. Und was sagt die Forschung?
MEYER: Seit über 25 Jahren ist bekannt, dass das Image der Gruppenarbeit bei Schülern und auch bei der Mehrzahl der Lehrerinnen und Lehrer schlecht ist. Nur die Theoretiker favorisieren diese Unterrichtsform. Gerade Gruppenarbeit muss vom Lehrer sehr sorgfältig vorbereitet werden. So sollten die Arbeitsaufträge so formuliert werden, dass sie nur in der Gruppe vernünftig zu lösen sind. Und daran hapert es eben oft.
UNI-INFO: Und wie beurteilst du den Frontalunterricht?
MEYER: Generell kann man sagen: Es gibt guten und schlechten Frontalunterricht genauso wie guten und schlechten Gruppenunterricht. Viele Schüler beurteilen den Frontalunterricht, der ungefähr 75 Prozent des Unterrichts in der Sek. I und Sek. II ausmacht, als „lehrreich, aber langweilig“. Das Ziel muss deshalb sein, ihn lebendiger zu gestalten.
UNI-INFO: Deine Göttinger Kollegin Christina Krause hat unlängst heftig kritisiert, dass durch die Abschaffung der Orientierungsstufe und die damit verbundene frühe Selektion der Druck auf die Schüler stark zunehmen würde. Sie befürchtet eine deutliche Zunahme von stressbedingten psychischen Störungen. Teilst du ihre Auffassung?
MEYER: Ja. Ich habe von vielen Grundschullehrerinnen gehört, dass sie dies beobachten, wobei der Druck oft von denjenigen Eltern ausgeht, die sicherstellen möchten, dass ihre Kinder zum Gymnasium kommen. Meine grundsätzliche Position zu der Debatte um die Schulformen ist - und dies wird durch viele empirische Studien unterstützt -, dass leistungsstarke Schüler nicht geschwächt werden, wenn sie mit leistungsschwächeren zusammenarbeiten, während aber leistungsschwache entscheidend geschwächt werden, wenn sie unter sich bleiben. Dies trifft insbesondere die Hauptschüler.

Schweine wiegen

UNI-INFO: PISA ist zurzeit ja wieder in der Diskussion. Anlass ist eine neue Studie, in der Deutschland wieder schlecht abschneidet. Was ist denn nun eigentlich seit der ersten PISA-Studie vor drei Jahren geschehen?
MEYER: Im Klassenzimmer nach meiner Einschätzung noch so gut wie gar nichts, während gleichzeitig der Image-Schaden für den Lehrerberuf riesig ist. Ansonsten hat sich die Kultusbürokratie in Form der Kultusministerkonferenz darauf verständigt, erst einmal genauer zu messen. Einer der PISA-Autoren sagte dazu selbstkritisch: „Vom vielen Wiegen ist noch kein Schwein fetter geworden.“ Aber genau das findet jetzt in Deutschland statt: Das Wiegen und Messen und auch das schärfere Kontrollieren, etwa durch die Einführung des Zentralabiturs und der Vergleichsarbeiten, hat Konjunktur. Das reicht aber nicht. Die Qualität des alltäglichen Unterrichts, und das heißt insbesondere des Frontalunterrichts, muss erhöht werden, wenn wir in der PISA-Rankingliste vorankommen wollen.
UNI-INFO: Was würdest du denn tun, wenn du Kultusminister wärst?
MEYER: Vorweg: ich bin froh, es nicht zu sein. Ich würde als erstes die Lehrerfortbildung verdreifachen und verpflichtend machen. Deutschland ist europaweit das einzige Land, das sich den Luxus leistet, auf die Fortbildungspflicht der Lehrer zu verzichten. Ich würde die Rahmenbedingungen für Fortbildung verändern, d.h. jede Schule müsste ein spezielles Fortbildungsprogramm entwickeln und die Lehrer müssten über die geleistete Fortbildung im Kollegium Rechenschaft ablegen. Lehrerfortbildung ist einfach der Schlüssel für mehr Erfolg auf der ganzen Linie.
UNI-INFO: Um die Zukunft der Lehrerfortbildung steht es nicht gut ...
MEYER: Überhaupt nicht. Derzeit wird die Lehrerfortbildung in Niedersachsen zerschlagen und die Verträge mit den zuständigen Einrichtungen werden gekündigt, so auch hier im Hause mit dem Oldenburger Fortbildungszentrum. Die Frage ist für mich: Wieviel Porzellan muss man unbedingt zerschlagen, damit die Landesregierung sich in der Bildungspolitik ein neues Profil verschafft?
UNI-INFO: Hast du noch weitere Vorschläge?
MEYER: Die Entkopplung von Schulform und Besoldungsstufe wäre ein entscheidender Schritt nach vorne. Der Lehrerberuf ist sehr kompliziert und anspruchsvoll geworden, gerade auch in der Grund- und Hauptschule, sodass die starken Unterschiede im Studium zwischen Grundschul- und Gymnasiallehramt - mit der Folge der unterschiedlichen Bezahlung - überhaupt nicht zu rechtfertigen sind.
UNI-INFO: Und was wären die wichtigsten Konsequenzen aus PISA?
MEYER: Ich halte es nicht für sinnvoll, die Schulsysteme anderer Nationen einfach zu kopieren, ohne die spezifischen Bedingungen vor Ort zu berücksichtigen. Allerdings ist schon bemerkenswert, dass die Mehrzahl der PISA-Siegerländer integrative Schulsysteme hat. Unseren größten Mangel im Vergleich zu anderen Ländern sehe ich vor allem darin, dass hier nicht das Prinzip herrscht, jedem Schüler eine bestmögliche Förderung zukommen zu lassen. Sitzen bleiben lassen und Zensuren verteilen sind viel zu bequeme und nachweislich ineffektive Methoden, um Schülern beim Lernen zu helfen. Wenn wir die Schüler aus Risikogruppen frühzeitig so lange fördern könnten, bis sie dann doch noch lesen und schreiben gelernt haben, würde die Gesellschaft auf längere Sicht viel Geld sparen. Spätere Förderung ist immer viel teurer. Außerdem ist es gesellschaftspolitisch nicht in Ordnung, dass wir für die Sek. II-Schüler im Verhältnis erheblich mehr Geld ausgeben als für die Grund- und Hauptschüler.
Auffällig ist auch, dass hierzulande viele Lehrer über die vermeintlich zu großen Leistungsunterschiede in den Klassen jammern, während Heterogenität in anderen Ländern, etwa durch die Zusammenlegung verschiedener Altersgruppen und die Integration der Lern- und Geistigbehinderten, künstlich erhöht wird.
UNI-INFO: Wie stehst du zur Einführung der Bachelor-/Masterstudiengänge?
MEYER: Der Bachelor bringt für die Lehrerausbildung einige qualitative Verschlechterungen. Ich bin der Beauftragte für das sogenannte Praktikumsmodul im Bachelor-Studiengang und stelle fest, dass unsere Kapazitäten dort gegenüber der bisherigen Ausbildung deutlich reduziert sind. Ich rechne mit einer Verschlechterung der Ausbildungsbedingungen des sog. Professionalisierungsbereichs im Bachelor und bin mir nicht sicher, ob das alles in der Master-Phase nachgeholt werden kann. Außerdem ist es mit Sicherheit von Nachteil, dass die, die ein Lehramt studieren möchten, jetzt im Bachelor erst ab dem dritten bzw. vierten Semester Pädagogikveranstaltungen besuchen dürfen. Ein Vorteil ist sicherlich die deutliche Zäsur zwischen Bachelor und Master, so dass diejenigen, die merken, dass der Lehrerberuf doch nicht richtig für sie ist, besser als bisher in eine andere Berufsrichtung wechseln können.
UNI-INFO: Du bist ja nun auch ein Bestseller-Autor, legendär ist dein „Leitfaden zur Unterrichtsvorbereitung“, der 1979 erschienen ist, und praktisch im Bücherschrank jedes Pädagogikstudenten stand ...
MEYER: Ein Buch, das seinerzeit heiß umkämpft war. Da gab es einen sehr ungewöhnlichen Erlass des damaligen Kultusministers Werner Remmers, in dem der damalige Uni-Rektor Rainer Krüger aufgefordert wurde, dafür zu sorgen, dass dieses Buch nicht in der Lehrerausbildung eingesetzt wird. Das hat der natürlich zurückgewiesen.

Abitur geschafft

UNI-INFO: Auch dein neuestes Werk, „Was ist guter Unterricht?“, läuft gut an, wie zu hören ist. In welchen Auflagenhöhen bewegen sich denn deine Bücher?
MEYER: Hintereinander gelegt würden sie wohl von Oldenburg bis Hamburg reichen, meinte kürzlich der Chef meines Hausverlags. Insgesamt sind von meinen Büchern knapp 900.000 Exemplare verkauft worden.
UNI-INFO: Das ist ja fast unglaublich ...
MEYER: Ja, das ist sehr viel, ich wundere mich manchmal selbst darüber. Statistisch gesehen hat jeder Lehrer in Deutschland ein Buch von mir. Aber hohe Auflagen - das kann man auch an der Bild-Zeitung studieren - sagen noch nichts über die Qualität eines Produkts, wohl aber über die Bedürfnisse der Käufer. Ich vermute, dass meine Bücher gar nicht immer wegen der darin vertretenen Theorien geschätzt werden, sondern weil sie als verständlich und praxisnah gelten.
UNI-INFO: Also bist du ein reicher Mann ...
MEYER: Das relativiert sich schon, bei Licht betrachtet. Im wesentlichen haben wir das Honorar in die Ausbildung unserer vier Kinder gesteckt.
UNI-INFO: Dein Leben dreht sich ja nun, so ist jedenfalls mein Eindruck, fast 24 Stunden um das Thema Schule. Warst du denn selbst ein guter Schüler?
MEYER: Nein. Ich hatte noch in der 12. Klasse im Zeugnis stehen: „Neigt zu undisziplinierter Mitarbeit“. Und als meine Mutter die Lehrer gefragt hat, was das denn hieße, hat man ihr geantwortet, ja, er ist wohl bei der Sache, aber er hält sich nicht an die Regeln. Heute hätte man wahrscheinlich gesagt: typisch ADS-Kind. Aber das bin ich sicher nicht (lacht).
UNI-INFO: Das Abitur hast du geschafft?
MEYER: Ja, allerdings mit mittelmäßigen Leistungen, Mathe 4 minus, Latein 4 minus. Nur in Sport hatte ich eine 1. Erst die Hochschul-Examina sahen dann besser aus.
UNI-INFO: Du gehörst ja zu den dienstältesten Hochschullehrern an der Uni Oldenburg. Wie lange wirst du denn den Studierenden noch erhalten bleiben?
MEYER: Ich bin 1975, als noch die mittelalterlichen Privilegien der Emeritierung vergeben wurden, zum Professor ernannt worden. D.h. ich darf bis zum 68. Lebensjahr arbeiten. Weil Arbeit - frei nach Karl Marx - ein gutes Mittel zur Selbstverwirklichung ist, werde ich die Möglichkeit wahrscheinlich auch ausschöpfen und bis 2008 hier arbeiten.
UNI-INFO: Viel Spaß noch und außerdem Dank für das Interview.
MEYER: Keine Ursache. Und grüß‘ deine Tochter. Sag’ ihr, es reicht, wenn sie wenigstens einen Lehrer hat, mit dem sie sich identifizieren kann.

Das Interview führte Andreas Wojak.

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Presse & Kommunikation (Stand: 06.09.2024)  | 
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