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"Das Tagebuch als Rettungsanker"
Mirjam Pressler über Anne Frank, die sich als knapp dreizehnjähriges Kind in nur zwei Jahren zur Schriftstellerin entwickelt
„Zwei jüdische
Mädchen - Fiktion und Realität. Zu Shylocks Tochter und Anne Frank“
- unter dieses Thema stellte Mirjam Pressler ihre zweite Vorlesung der von der
EWE Stiftung finanzierten Poetik-Professur für Kinder- und Jugendliteratur
an der Universität Oldenburg. Mirjam Pressler ist eine der wichtigsten deutschen
Autorinnen für Kinder- und Jugendliteratur, Trägerin zahlreicher Literaturpreise
und gefragte Übersetzerin literarischer Werke. Ende der 1980er Jahre übersetzte
sie das Tagebuch der Anne Frank für eine kritische Gesamtausgabe und gab
1991 eine neu zusammengestellte und erweiterte Leseausgabe heraus. Unter dem Titel
„Ich sehne mich so“ verfasste sie eine Biographie über das kurze
Leben des jüdischen Mädchens. Nachfolgend der zweite, Anne Frank gewidmete
Teil ihrer Vorlesung vom 12. Januar 2006 in Auszügen
Anne hatte
vier Wochen vor dem Untertauchen ihren dreizehnten Geburtstag gefeiert, sie bekam
unter anderem ein Tagebuch geschenkt, das sie sofort als ihr „wohl schönstes
Geschenk“ beschrieb. Bis zum Untertauchen führte sie Tagebuch, wie man
es von einem Mädchen ihres Alters erwartet konnte, danach gewann ihr Tagebuch
immer mehr an Bedeutung und Anne wurde zu einer obsessiven Chronistin ihres tristen
Alltags.
Vierzig Jahre lang war das Bild Anne Franks von der Leseausgabe
bestimmt worden, die ihr Vater nach dem Krieg aus ihren beiden Tagebuchfassungen
zusammengestellt hatte. Dabei hat er - zum Teil aus nachvollziehbaren Gründen
- ausgewählt und gekürzt. Diese Ausgabe war auch die Grundlage für
alle Übersetzungen. Erst nach Erscheinen der Historisch-Kritischen Ausgabe
war die Zeit gekommen, das Bild Anne Franks zu erweitern. Das ist durch die neue
Leseausgabe geschehen, die um ein Drittel umfangreicher ist als die erste, und
vor allem durch eine neue deutsche Übersetzung.
Um es ganz deutlich
zu sagen: Die erste deutsche Übersetzung, die Ende der vierziger Jahre von
Anneliese Schütz, einer aus Berlin stammenden siebzigjährigen Journalistin,
verfasst worden war, wurde Anne Frank nicht gerecht. Anne hat ihr Tagebuch in
einer sehr lockeren, gesprochenen Sprache geschrieben, die deutsche Übersetzung
wirkt dagegen betulich und selbst für die damalige Zeit seltsam altertümlich.
Die Übersetzerin hat auch Änderungen in der Syntax und der Wortwahl
vorgenommen. Ein Beispiel: Anne schrieb: „Wirklich, glaube ja nicht, dass
es einfach ist, der unerzogene Mittelpunkt einer Versteckerfamilie zu sein, bei
der sich jeder ständig in alles einmischt.“ (S. 84)
Übersetzung
Schütz: „Ja, Kitty, es ist keine Kleinigkeit, der schlecht erzogene
Mittelpunkt, sprich Blitzableiter, einer stets kritisierenden und erziehenden
Untertaucher-Familie zu sein.“
Das Beispiel spricht für sich.
Als
ich anfing, eine Biographie über Anne Frank zu schreiben, überlegte
ich lange, wie man sich einem Leben nähert, das nicht einmal sechzehn Jahre
gedauert hat, sechzehn Jahre, von denen sie zwei Jahre selbst dokumentiert und
kommentiert hat. Und wie schafften es die Untergetauchten in dieser sowohl räumlichen
als auch geistigen Enge, über zwei Jahre lang so etwas wie Alltag zu organisieren?
Wie waren ihre Beziehungen untereinander und zu den Helfern? Wie reagierten sie
auf die Einflüsse von außen? Was wird im Tagebuch der Anne Frank vielleicht
nur angedeutet und leicht überlesen? Wegen dieser Fragen entschied ich mich
für eine andere Art Biographie, die man wohl eher als Soziogramm bezeichnen
könnte, und ging außerdem stärker auf die politischen Fakten ein,
die zum Untertauchen und schließlich zum Tod Anne Franks führten.
Außerdem
bewegten mich zwei weitere Fragen: Wie hat sich Anne, die als knapp dreizehnjähriges
Kind anfing, Tagebuch zu schreiben, in nur zwei Jahren zu einer Schriftstellerin
entwickelt? Und wie wurde sie in diesen zwei Jahren von einem Kind zu einer jungen
Frau?
Ihre Wünsche und Sehnsüchte, ihre Enttäuschungen und
ihre Kränkungen teilt sie nur ihrem Tagebuch mit, das sie - auch dies ein
literarischer Akt - personifiziert und zur Freundin macht, der sie den Namen Kitty
gibt. Diese Freundin wird zu ihrer Vertrauten, ihr teilt sie alles mit, was sie
für bemerkenswert hält. Annes ganze Sehnsucht nach Freundschaft, nach
Intimität und vertrauten Gesprächen konzentriert sich in der Zeit des
Untertauchens auf Kitty.
Ihre Welt schrumpft zusammen auf nicht einmal
fünfzig Quadratmeter, die Wände des Hinterhauses sind eng, das Leben
ist eintönig: Tag für Tag dieselben Menschen, dieselben Stimmen, dieselben
Gerüche, immer wieder die gleichen Gespräche, die gleichen Streitereien.
Etwas Abwechslung bieten höchstens ein paar schnelle, verstohlene Blicke
durch einen Spalt im Vorhang, aber sie sind gefährlich und daher selten.
Dieser
Mangel an Ablenkung, der mit einem Mangel an Bewegung einhergeht, an Nahrung,
an Anregung und Freude, hätte leicht zu einer gewissen Abstumpfung des Geistes
und der Sinne führen können. Für Anne Frank wurde das Tagebuch
zum Rettungsanker, an den sie sich klammerte, um nicht in einem grauen, stumpfsinnigen
Alltag unterzugehen.
Das Versteck als Bühne
Anne Frank
musste sich die Abwechslung, die ihr die Lebensbedingungen versagten, selbst herstellen,
den Ersatz für den Umgang mit Gleichaltrigen, die Anregungen, die sie sonst
durch Schule und Freunde bekommen hätte. Das tat sie schreibend. In ihrem
Alltag passierte nicht viel, ihr Leben wurde von den Beschränkungen und Einengungen
des Hinterhauses bestimmt, von notwendiger, aber langweiliger Routine. Umso erstaunlicher
ist es, wie sie es schaffte, Belanglosigkeiten zu dramatisieren. Ihre Kunst besteht
darin, aus Nichts etwas zu machen, das enge Versteck zu einer Bühne umzufunktionieren,
auf der sie - ganz allein für sich - ein kleines Welttheater inszenierte.
Die Episoden, die sie beschrieb, waren nicht wirklich interessant, im Grunde
nichts anderes als Nörgeleien und Streitereien und die unvermeidlichen Konsequenzen
eines zu engen, zu entbehrungsreichen Alltags. Trotzdem gelang es Anne, aus diesem
Minimum an tatsächlichem Geschehen lebendige und oft sogar spannende Szenen
zu gestalten, mit Einleitung, Hauptteil und Schluss. Diese Szenen sind manchmal
ernsthaft, dann wieder komisch, aber immer bildhaft und für ihre Leser nachvollziehbar.
Sie erzählt Geschichten über das Leben im Hinterhaus und erweist sich
dabei als scharfsinnige, kritische Beobachterin, außerdem zeigt sie ein
ausgeprägtes Talent, sich auf den Kern des Erzählten zu konzentrieren
und Unwichtiges wegzulassen, eine Fähigkeit, die besonders erstaunlich ist,
wenn man bedenkt, dass sie, als sie ihr Tagebuch schrieb, gerade mal dreizehn,
vierzehn Jahre alt war. Der Gefahr, in Selbstmitleid zu versinken oder sich in
nebensächlichen Details zu verlieren, erlag sie nie, obwohl das eigentlich
angesichts der Umstände und ihres Alters zu erwarten gewesen wäre.
Sie
baute sich aus Worten eine Welt, die ihr - zumindest in der Phantasie - die Möglichkeit
bot, ein anderes, interessanteres Leben zu führen. Sogar ihre Liebe zur Natur,
die im Laufe der Zeit stärker zutage trat, speiste sich aus den Blättern
der Kastanie, die sie manchmal durch die Dachluke sah, aus einer vorbeiziehenden
Wolke, aus einem bisschen Mondschein, und trotzdem schaffte sie es, aus diesen
wenigen Bruchstücken eine romantische Weltsicht und große Gefühle
zu entwickeln.
Die Schriftstellerin
Schreiben war für
Anne Frank weit mehr als nur ein Zeitvertreib, als Unterbrechung der Langeweile.
Sie hatte ganz offenbar den Willen (und natürlich auch die Begabung), ihr
Leben und Denken in eine Form zu bringen, es so zu verdichten, dass es auf ein
Blatt Papier passte. Und das ist es, was sie als Schriftstellerin ausweist.
Sie
wurde getrieben von einem ausgeprägten Wunsch zur Selbstdarstellung, von
einer großen Sehnsucht danach, ihre Welt zu verstehen und ihre Position
darin zu bestimmen. Schreibend erkannte und differenzierte sie ihr Verhältnis
zu den Menschen ihrer Umgebung, zu den Umständen und Bedingungen ihres Lebens.
Schreibend erklärte sie sich die Welt, schreibend fand sie ihren Weg durch
das Gestrüpp der widersprüchlichen und unberechenbaren Beziehungen,
die das Hinterhaus beherrschten.
Wie stark und wie bewusst ihr Gestaltungswillen
war, stellt man fest, wenn man das ursprüngliche Tagebuch mit der zweiten,
zur Veröffentlichung bestimmten Version vergleicht, die sie Anfang 1944 begonnen
hat. Der Unterschied zwischen einem persönlichen Tagebuch und einem für
die Öffentlichkeit bestimmten Text war ihr durchaus bewusst. Sie schrieb
also nicht einfach ihr Tagebuch ab, sie fasste Einträge zusammen, ließ
Details weg, die sie für langweilig hielt, und schrieb sehr viel Einträge
neu dazu. Für ein Mädchen ihres Alters setzt das, außer einem
ausgeprägten Gestaltungswillen, ein gehöriges Maß an produktiver
Distanz und Selbstkritik voraus. Neben dieser nun wirklich schriftstellerischen
Arbeit führte sie ihr erstes Tagebuch weiter, und je näher sie der aktuellen
Zeit kam, umso ähnlicher wurden sich die Einträge des ursprünglichen
Tagebuchs und der zweiten Version.
Sie war eine Schriftstellerin, weil
sie leidenschaftlich schrieb, weil sie sich schreibend eine Welt erschuf, die
ihr das bot, was ihr das Leben aufgrund der Umstände nicht bieten konnte.
Weil sie sich und ihr Leben darstellen und erklären wollte, nicht nur sich
selbst, sondern auch anderen. Sie wollte „nicht umsonst gelebt haben“,
sie wollte Spuren hinterlassen. Das ist diesem sehr jungen Mädchen besser
gelungen als den meisten erwachsenen Schriftstellern.
Zwei Jahre waren
es nur, in denen das Tagebuch schreibende Mädchen zur Schriftstellerin wurde.
Und zwei Jahre waren es nur, in denen sich die anfangs Dreizehnjährige vom
Kind zur Frau entwickelte, die bereits ihre ersten Erfahrungen mit der Liebe machte.
Die
Liebesgeschichte mit Peter und Annes ehrliche und kritische Auseinandersetzung
mit ihren Gefühlen ist einer der wichtigsten Gründe dafür, dass
das Tagebuch auch heute noch so gern gelesen wird. Es ist die beste und ehrlichste
Beschreibung einer Pubertät, die ich kenne. Wenn ein Erwachsener über
die Zeit des Heranwachsens schreibt, egal, ob über seine eigene oder die
einer fiktiven Person, sind seine Einsichten und Wahrnehmungen durch vielfaches
Erzählen und Nachdenken gefiltert, die Akzente haben sich, da er (oder sie)
von späteren Erfahrungen weiß, verlagert, oft führt der zeitliche
Abstand auch zu einer romantischen Verklärung. Anne hatte nicht die Chance
zu einer solchen Verklärung, sie hat ihre Liebesgeschichte nur um wenige
Monate überlebt, Monate, die sie in den Konzentrationslagern Auschwitz und
Bergen-Belsen verbrachte, wo sie, vermutlich im März, einer Typhusepidemie
zum Opfer fiel. Ihr Todesdatum ist nicht bekannt, auch nicht, in welchem der Massengräber
von Bergen-Belsen sie liegt.
Annes Tagebuch ist nicht nur die literarische
Hinterlassenschaft eines sehr jungen Mädchens, sondern auch ein historisches
Dokument, weil Anne Frank zum Symbol der sechs Millionen Juden wurde, die dem
Naziregime zum Opfer fielen. Man muss aufpassen, darf sie nicht zu sehr herausheben
aus der Masse ihrer Leidensgenossinnen und -genossen, darf sie nicht zu sehr idealisieren.
Sie war nicht nur eine - zweifellos begabte - Schriftstellerin, sie war auch ein
jüdisches Mädchen, eine von vielen. Und mit den anderen, nie berühmt
gewordenen Opfern verband sie die Realität ihrer Existenz und deren Auslöschung.
Ihr Leben und Sterben als eine von Millionen ist wichtig und darf über dem
Tagebuch nicht vergessen werden.
Anne Frank hat ihren Weg gefunden, sie
hat sich in ihr Inneres zurückgezogen. Als ihr Leben von außen bedroht
war, hat sie selbst den Wert ihres Lebens bestimmt, mit einer Weitsicht, die uns
heute erschauern lässt. Am 5. April 1944 schrieb sie in ihr Tagebuch: „O
ja, ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen. Ich will den
Menschen, die um mich herum leben und mich doch nicht kennen, Freude und Nutzen
bringen. Ich will fortleben, auch nach meinem Tod.“