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Ein Studium fürs Leben

Skizze einer Antwort auf den Bologna-Prozess / Von Sascha Spoun


"Fachhochschulisierung der Universität?“ – unter dieser Fragestellung diskutierten Dr. Sascha Spoun, Präsident der Leuphana Universität Lüneburg, und Prof. Dr. Stephan A. Jansen, Präsident der Zeppelin University Friedrichshafen, am 6. Juni 2007 im Hörsaalzentrum. Veranstalter war die Hochschullehrergruppe „Universität im Umbruch“, die aus Mitgliedern der Fakultäten II und IV besteht. Nachfolgend Auszüge aus einem Beitrag von Spoun, der in Lüneburg versucht, im Rahmen des Bologna-Prozesses einen eigenen Weg zu gehen, von dem er sich ein besonderes Profil für die Heide-Universität verspricht.

Die Idee der Universität war und ist eine universale. Diesem Anspruch Rechnung zu tragen und damit ein der heutigen globalisierten Welt angemessenes Angebot zu skizzieren, ist Aufgabe einer modernen Universität.

Die Sorbonne-Initiative 1998 und die Bologna-Erklärung 1999 sollten dabei helfen, eine Antwort der europäischen Hochschulen auf die veränderte Situation weltweit zu finden. Doch müssen Prozess, Inhalte und erste Ergebnisse dieses „Bologna-Prozesses“, mit dem die Studienangebote der Universitäten auf die gestuften Bachelor- und Master-Studiengänge umgestellt werden, sehr kritisch gesehen werden. Denn sie gehen, zumindest in den deutschsprachigen Ländern, weit an den Erfordernissen einer Bildung und Ausbildung für das 21. Jahrhundert vorbei…

"Im Kern geht es um eine allgemeine humanistische Bildungsidee".
Foto: Wilfried Golletz

 

Zwar wurde mit der Umsetzung der Bologna-Reformen das Organisationschaos manch bisheriger Studiengänge beseitigt und vielen Regeln des Bologna-Prozesses Genüge getan. Doch wenn heute über ein Bachelor-Studium gesprochen wird, dann häufig mit kritischem Unterton. Viele wollen sich am liebsten zurückziehen, innerlich entfernen von der täglichen Praxis der Institution Universität, die doch eigentlich leuchtende Augen aller Beteiligten hervorrufen sollte. Jeder scheut den mit den neuen Studiengängen verbundenen bürokratischen Aufwand, die Massen an Prüfungen, die Fremdbestimmung durch Akkreditierungen, die Zersplitterung in den Modulen, die starke Verschulung der Studieninhalte. Viele vermissen die inhaltliche Größe, den Weitblick, eine umfassende Bildungsidee und die Voraussetzungen für ein wirkliches Studium, das die Entfaltung individueller Fähigkeiten und Fragen der Studierenden als Maßstab für Qualität nimmt, nicht aber normierte Strukturen.

Auf der anderen Seite gehen inzwischen selbst Fachhochschulen über die Bachelor-Abschlüsse hinaus und streben nach Master-Angeboten. Jeder Bachelor-Studiengang will mit einem konsekutiven Master fortgesetzt werden, weil niemand an seine eigenständige Bedeutung glaubt. Sich an einer Universität mit der Erstausbildung zu befassen, kommt fast einem Verrat an der vernachlässigten Forschung und den ungeschriebenen universitären Regeln gleich. Zugleich wird die öffentliche Debatte über die Ergebnisse von Bologna, die heute die Realität unserer Hochschulen prägen, extrem verkürzt geführt. Neben einer unmittelbaren Praxisausrichtung und einer möglichst kurzen Ausbildungszeit werden nur noch Studienplatzzahlen und ihre möglichst effiziente Nutzung bei möglichst gleich bleibender finanzieller Ausstattung zum Thema des öffentlichen Diskurses.

Der emotionale Rückzug der Lehrenden aus dem Erststudium erscheint da nur konsequent. Außer Undank und einem „vollgelaufenen Vorfluter“ namens Bachelor, auf den dann das vermeintlich echte Studium folgt, ist aus dieser Sicht nichts zu erwarten…

Noch ein Problem kommt hinzu: In der Euphorie der Bologna-Reformen wurden inzwischen an deutschen Hochschulen mehr als 8.800 Bologna-Studiengänge geschaffen. Von diesen sind viele Bachelor soweit spezialisiert, dass sie nur mehr als schlechter Ersatz einer Lehre in einem Unternehmen, denn als Studium dienen können…


College als Herz der Universität

Wirft man einen Blick auf sehr gute Universitäten in der durch die Globalisierung so kleinen Welt, erkennt man, dass das College als Ort der „undergraduate education“ das Herz vieler Universitäten darstellt, das zu überzeugen weiß. Dieses Herz auch im Land der Entstehung der Forschungsuniversität Humboldtscher Ideale wieder schlagen zu lassen, ist eine wichtige Aufgabe für die universitäre Bildung in Deutschland und eine Chance für die Entwicklung attraktiver Hochschulen.

An der Leuphana Universität Lüneburg bezeichnen wir mit dem Wort College – in Abgrenzung zum vielfältigen (angelsächsischen) Sprachgebrauch – eine Bildungsidee, die in der Universität als ein wichtiger Teil ihrer Aktivitäten systematisch organisiert ist. Das College beschreibt ein inhaltlich umfangreiches, miteinander vernetztes Studienangebot für den ersten Studienabschluss (Bachelor). Einzelne Haupt- und Nebenfächer sind wichtige Elemente, konstituieren das Studium aber nicht alleine. Vielmehr bestimmen allgemeine Prinzipien jenseits der verschiedenen Fächer die Erscheinung des College maßgeblich. Im Kern geht es um eine allgemeine humanistische Bildungsidee als Maxime für das Studium, die freie, verantwortlich handelnde Menschen die Zivilgesellschaft im 21. Jahrhundert gestalten lässt…

Studium hat zunächst mit der Entwicklung einer Haltung zu tun, einer Haltung der Offenheit, des Entdeckungsgeistes, des Mutes zu Neuem und des Hinterfragens von Altem. Im Studium sollen Fähigkeiten erworben werden, die helfen, das eigene Leben und gesellschaftliche Aufgaben verantwortlich und in Freiheit gestalten zu können, während des Studiums und auch danach. Absolventinnen und Absolventen sollen mit kommenden gesellschaftlichen und persönlichen Herausforderungen sorgsam und erfolgreich umgehen können, weil sie die notwendige Urteilsfähigkeit entwickelt haben, um kulturelle, technische, natürliche, soziale, religiöse, demographische und politische Ursachen verstehen und Veränderung gestalten zu können. Es geht folglich nicht alleine um Berufsbefähigung, sondern um Persönlichkeitsbildung und um eine Lebens- und Entwicklungsbefähigung, die produktive Beiträge für die Gesellschaft in verschiedenen Formen ermöglicht und zu diesen auch verpflichtet. Entsprechend grundsätzlich ist das Curriculum, um Annahmen zu erschüttern, Gewohnheiten aufzubrechen, den Dingen auf den Grund zu gehen, neue Orientierung finden zu können und sich Herausforderungen zu stellen, die die eigenen Möglichkeiten übersteigen.

Anhand von sechs Prinzipien lassen sich die Unterschiede zu anderen Diplom- oder Bachelor-Studienangeboten beschreiben und so die Idee des College näher fassen. Zu diesen Prinzipien gehören (1) ein umfassendes Bildungsziel, (2) das Prinzip von Lernen als Lebenshaltung, (3) Freiheit als Leitmaxime, (4) der Zugang und die Zulassung von Studierenden, (5) die Lehrinhalte und (6) die Didaktik.


Umfassendes Bildungsziel

Als zentrale Frage stellt sich, wie die intellektuelle, persönliche und moralische Entwicklung der Studierenden so gefördert werden kann, dass sie selbständig lebenslang im Sinne des Ideals eines aktiven Bürgers der Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts lernen und leben. Die Antworten dazu leiten sich aus der mit der Universität insgesamt verbundenen Bildungsidee ab, im Fall der Leuphana Universität Lüneburg beschrieben durch die drei Leitlinien: Humanismus, Nachhaltigkeit, Handlungsorientierung.

Humanismus: Das Studium orientiert sich an den Werten und der Würde des Individuums, insbesondere an Toleranz, Gewissensfreiheit und Gewaltlosigkeit als Prinzipien des sozialen Umgangs. Entsprechend gibt es keine übergeordnete Ideologie, sondern die Überzeugung, dass sich der Mensch aus eigenem Antrieb entwickeln kann und deshalb auch Mensch ist. Dieses Verständnis wird sowohl aus antiken Quellen, Heraklit, Protagoras, Cicero, solchen der Aufklärung wie auch aus der Humboldtschen Universitätsidee geprägt. Es ist damit universell und der Humanität im Sinne der Menschenliebe als einem wünschbaren Zustand verpflichtet …

Lernen als Lebenshaltung

Ein College umfasst mehr als nur Lehrveranstaltungen: Alle Lernchancen im Studium und außerhalb, d.h. vor dem Studium und parallel zu diesem, werden miteinander verbunden und aufeinander bezogen, um so die Lebensphase als Student sowie auch die nachfolgenden anzureichern und den Habitus lebenslangen Lernens aus möglichst vielen Angeboten zu entwickeln. Im Studium selbst müssen sowohl fachliche wie fachfremde Themen Lerngegenstände sein und in idealer Weise aufeinander bezogen und miteinander verbunden werden. Insgesamt entsteht so eine emotional bewegende, das Denken und Handeln erweiternde Lebenserfahrung, die prägend wirkt und an die man sich auch gerne erinnert. Lernen bezieht sich folglich nicht auf Wissen oder fachliche Gegenstände alleine, sondern auf alle zum erfolgreichen Leben notwendigen Verhaltensweisen, Fertigkeiten, Kenntnisse, Werthaltungen etc. Entsprechend wird der Lernprozess als der kognitive Aufbau einer Welt der Lernenden verstanden und nicht als die Vermittlung von Inhalten.


Freiheit als Leitmaxime

Ein überzeugendes Studienangebot ist dem Gedanken der Freiheit verschrieben, aber nicht der Freiheit der Leistungsversagung oder des Organisationschaos, sondern der inhaltlichen Freiheit. Studierende dürfen sich mit Leidenschaft in voller Tiefe scheinbar irrelevanten Fragestellungen und Themen ohne unmittelbarer beruflicher Nützlichkeit hingeben. Denn diese entsteht durch eine systematische wie intensive Studienarbeit während mehrerer Jahre, die zu einer Lebens-, Entwicklungs- und Berufsfähigkeit bei Studienabschluss führt, nicht durch die Ausrichtung eines jeden Kurses an seiner vermeintlichen Nützlichkeit mit Blick auf eine gerade aktuelle Vorstellung von Berufstätigkeit. Vielmehr orientieren sich die Lehrveranstaltungen, die idealerweise den Forschungsarbeiten der Lehrenden entsprechen, an methodischer Strenge, fachlichen Erfordernissen und dem generellen Bildungsziel. Dieses freiheitliche Lernen bereichert die menschliche Existenz und ist eine der Leistungen unserer Zivilisation – und in diesem Sinne ganz besonders „nützlich“.

Zugang und Zulassung

Das hier skizzierte Studium ist einerseits hoch attraktiv, andererseits benötigt es persönliche Voraussetzungen der Interessierten wie auch institutionell besondere Rahmenbedingungen, um gelingen zu können. Häufig wird dies – angesichts beschränkter Ressourcen an den Universitäten – eine spezielle Zulassung der Studierenden erfordern. Diese muss transparent sein mit eindeutigen Anforderungen. Nur dann kann das Zulassungsverfahren ein echtes und klares Signal an Schülerinnen und Schüler über die Anforderungen senden, so dass auch so genannte bildungsferne Interessenten eine Chance bekommen, sich darauf einzustellen. Und es muss mehrstufig sein, um verschiedenen Anforderungen Rechnung tragen zu können. Die für das Leuphana College geplanten Wege nutzen die innerhalb der gesetzlichen Rahmenbedingungen anwendbaren Erfahrungen anderer Hochschulen, wie der deutschen Begabtenförderinstitutionen, die auf vergleichbare Weise seit Jahrzehnten öffentliche Stipendien vergeben.

Als Prädikator für den Studienerfolg hat sich der Abiturdurchschnitt als sehr gut erwiesen, weshalb auf die Durchschnittsnote und nicht einzelne Fächer abzustellen ist. Außerdem ist besonders talentierten und engagierten Interessierten durch Berücksichtigung entsprechender extracurricularer Aktivitäten, bzw. beruflicher Erfahrungen, eine Chance zu geben. Damit können sich Schülerinnen und Schüler, die sich durch besonderes, ungewöhnlich viel Zeit in Anspruch nehmendes Engagement auszeichnen, ebenfalls qualifizieren, auch wenn darunter der Abiturnotendurchschnitt gelitten haben könnte.


Klare Fachstruktur

Im Leuphana College wird das Studium klar strukturiert sein und aus vier Teilen bestehen: dem Hauptfach (Major), das der Hälfte der Studienleistungen entspricht, dem Nebenfach (Minor), dem gemeinsamen ersten Semester und dem Komplementärstudium, die jeweils ein Sechstel der Studienleistungen umfassen (je 30 von 180 Credits). Damit umfasst der übergreifende Teil des Curriculums, der das College als Ganzes prägt, ein Drittel der Studienleistungen – ein Fundament zu Studienbeginn und ein Teil der folgenden Semester in Form eines aufsteigenden Astes. Bildlich gesprochen ergibt sich ein charakteristisches „L“, das die Haupt- und Nebenfächer inhaltlich umfasst. Dies zwingt die Major- und Minorfächer dazu, viel kritischer Umfang und Vorgehen der bisherigen Studien in Frage zu stellen, erlaubt kein Zusammenstauchen des vierjährigen Diploms auf einen dreijährigen Bachelor mehr, sondern erfordert Konzentration auf die wesentlichen Prinzipien des Faches und anschließende Auswahl innerhalb des Majors zur Vertiefung entsprechend der Idee inhaltlicher Freiheit. Mit den Minors können die Studierenden ihr Hauptfach inhaltlich vertiefen bzw. um zusätzliche fachliche Schwerpunkte ergänzen. Und im Komplementärstudium erfahren sie eine Ermutigung, gemeinsam mit Kommilitonen anderer Fächer fremde Perspektiven einzunehmen und so die Bedeutung und die inhaltliche Tragweite ihrer Haupt- und Nebenfächer in verschiedenen sich wandelnden Kontexten einschätzen und beurteilen zu lernen…


Hochschuldidaktik und gute Lehre

Die Entwicklung der Hochschuldidaktik betrifft viele wichtige Fragen guter Lehre, welche die Praxis im College prägen. Dazu gehört insbesondere die Frage, wie Habitus und Verhalten der Studierenden gefördert werden können, um den anspruchsvollen Zielen zu entsprechen. Anders formuliert: Was muss getan werden, damit die Studierenden und Absolventinnen und Absolventen wie selbstverständlich ihre Aufgaben und Rollen in der Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts im eingangs beschriebenen Sinne wahrnehmen? Oder noch anders: Wie können jenseits eines kurzen deklaratorischen Wissens im Moment der Prüfung die erlernten Ideen, Prinzipien, Methoden etc. längerfristig eingesetzt werden und Teil des persönlichen Handelns werden?

Presse & Kommunikation (Stand: 06.09.2024)  | 
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