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Inhalt 4/2008
Thema
Umwege werden als Versagen gewertet
Die psychosoziale Situation von Studierenden im neuen BA/MA-Studiensystem der Universität / Von Wilfried Schumann
Veränderte Beratungsarbeit: Wilfried Schumann im Gespräch mit einem Studenten. Foto: Wilfried Golletz
Die im Augenblick mit großem Tempo voranschreitende Veränderung der deutschen Hochschullandschaft bringt gravierende Veränderungen für die alltägliche Lebens- und Lernsituation von Studierenden mit sich. Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Akzentuierung des Leistungsgedankens und aus dem Bemühen um eine Beschleunigung und klare Strukturierung des Studiums für die psychosoziale Befindlichkeit von Studierenden? Hierzu stellt Wilfried Schumann, Leiter der Psychosozialen Beratungsstelle der Universität und des Studentenwerks Oldenburg, im Folgenden einige Erfahrungen vor.
Ausbildungsinstitution statt Lebenswelt
Die mit dem Studierendenstatus seit jeher verbundenen psychischen Entwicklungsaufgaben wie die Ablösung von der Familie und die Suche nach einer eigenen erwachsenen Identität bleiben für Studierende natürlich auch bei veränderten Studienstrukturen bestehen. Dennoch scheinen heute neue Wege gewählt zu werden, um diese Herausforderungen zu meistern. In früheren Zeiten suchten Studierende Identität oftmals durch kritische Abgrenzung von Eltern und Autoritäten. Auch die Hochschulen erlebten in diesem Kontext vielfältige Formen von Protest und Auseinandersetzung, in denen Studierende mit der Alma Mater darum rangen, auf welchen Werten wissenschaftliches und gesellschaftliches Handeln beruhen sollten.
Dagegen erleben wir heute in der Beratung von BA/MA-Studierenden sehr viele junge Menschen, die die Hochschule nur noch als Ausbildungsinstitution und nicht mehr als Lebenswelt mit vielfältigen Möglichkeiten kulturellen und politischen Engagements wahrnehmen. Ihr oberstes Ziel ist es, diese Institution regelgerecht und mit guten Noten zu durchlaufen, um die Teilhabe an gesellschaftlichen Karriereversprechen zu sichern. Als bestes Mittel gegen Zukunftsängste erscheint es, die eigenen individuellen Bildungsoptionen zu wahren und im Wettstreit mit der Konkurrenz möglichst erfolgreich abzuschneiden.
Ein Fallbeispielaus der Praxis
Wie sich psychische Probleme von Studierenden unter den veränderten Studienbedingungen darstellen, soll durch einen Fallbericht illustriert werden, der exemplarisch steht für eine Symptomatik, die in den letzten Jahren immer häufiger zu beobachten ist:
Bettina ist 21 Jahre alt und studiert im 2. Semester 2-Fach-Bachelor mit dem Ziel, Gymnasiallehrerin zu werden. Sie weiß, dass sie für den Übergang ins Masterstudium eine BA-Abschlussnote von 2,5 benötigt. Für sie ist klar, dass sie ihren Berufswunsch Lehrerin aufgeben muss, wenn sie dieses Kriterium verfehlt.
Der zeitliche Umfang von Lehrveranstaltungen, für die Anwesenheitspflicht besteht, liegt bei fast 30 Stunden. Bettina hat im ersten Semester mit enormem Arbeitsaufwand versucht, die Studienanforderungen zu bewältigen und hat auch zufrieden stellende Noten erreicht. Im zweiten Semester stellten sich dann Schlafstörungen ein, sie konnte kaum noch abschalten und hat schließlich eine Modulabschlussklausur nicht bestanden. Zur Vorbereitung zweier noch ausstehender Klausuren hat sie sich zu ihren Eltern begeben, wo sie – wie sie es nennt – einen Nervenzusammenbruch hatte. Alles erschien ihr plötzlich zu viel, sie fühlte sich völlig kraftlos und hatte Weinkrämpfe, konnte sich überhaupt nicht mehr stabilisieren. Die Eltern brachten sie zum Hausarzt, der ihr starke Beruhigungsmittel gab und sagte, sie sei ein Fall für den Psychologen.
Wenige Tage später kommt sie zum ersten Mal in die Beratung. Nachdem sie ihre Situation geschildert hat, sagt sie, sie selbst wäre nie auf die Idee gekommen, zu einem Psychologen zu gehen, aber der Arzt und die Eltern hielten das für sinnvoll. Aus ihrer eigenen Sicht habe sie kein psychologisches Problem, sie habe lediglich ein Problem mit ihrem Studium.
Auf die Frage, ob sie angesichts ihrer Erschöpfung und ihrer Überforderungsgefühle die Dinge etwas langsamer angehen könne, reagiert Bettina gereizt, fast aggressiv. Das sei inakzeptabel! Wenn sie jetzt Prüfungen nicht bestehe und Module nicht abschließen könne, würde das bedeuten, dass sie ein ganzes Jahr verliere, weil erst dann wieder das Modul angeboten würde. Das wolle sie auf keinen Fall, sie wolle nicht wie eine Bummelstudentin dastehen. Außerdem müsse sie jedes Semester Studiengebühren zahlen, da sei eine Verzögerung des Studiums erst recht nicht hinnehmbar.
In Hinblick auf ihre soziale Einbindung berichtet Bettina, dass sie nur wenig gute Kontakte zu Mitstudierenden hat, überwiegend nimmt sie diese eher als Konkurrenten im Kampf um den Zugang ins Masterstudium wahr. Liebesbeziehungen sind auch kein Thema, dafür habe sie schließlich keine Zeit.
Im Rahmen der psychologischen Exploration wird auch Bettinas Familiensituation angesprochen. In dieser Hinsicht gebe es überhaupt keine Probleme. Ihre Eltern würden sie überhaupt nicht drängen, die wollten lediglich, dass sie glücklich sei. Sie selbst wolle auch endlich wieder glücklich sein, aber dafür müsse sie nun einmal dieses Studium hinbekommen, dann wäre alles o.k.
Verschiebung der Themen
Diagnostisch gesehen weist Bettina viele Merkmale eines Burn-out-Syndroms auf. Sie ist begabt und leistungsstark, wollte jedoch die Anforderungen des Studiums „zu perfekt“ meistern und hat dabei die Grenze der eigenen Kräfte dauerhaft überschritten.
Ähnlich gelagerte Fälle gibt es derzeit häufiger. In der Beratungsarbeit zeichnen sich bei den Themen der Studierenden weitere deutliche Verschiebungen ab: Während die „klassischen“ Beratungsthemen aus dem persönlichen Bereich in ihrem Umfang nahezu unverändert sind, nehmen die Anfragen wegen Leistungsstörungen, Prüfungsangst, Stressbeschwerden und Problemen mit dem Zeitmanagement stetig zu. Außerdem wird die Beratung verstärkt schon am Studienanfang aufgesucht, während in der Vergangenheit Studierende eher in der Endphase des Studiums in die Beratung kamen.
Studierende setzen sich heute sofort bei Studienbeginn unter Druck, ihr Studium zielstrebig und mit maximalem Erfolg zu absolvieren. Wenn bei der Einstellung auf die neue Lehr- und Lernsituation Schwierigkeiten auftreten, wird dies sehr schnell als persönlicher Misserfolg empfunden.
Gewinner des Wandels
Gewinner des Systemwandels sind alle Studierenden, die sich klare Strukturen und Vorgaben wünschen und die früher vielleicht an zu großer Freiheit bei der Organisation ihrer Studienbemühungen gescheitert wären. Gute Erfahrungen mit der neuen Studienstruktur machen in der Regel auch diejenigen Studierenden, die ihr komplettes Zeitbudget für das Studium verfügbar haben, die finanziell gut abgesichert sind (dieser Faktor gewinnt immer mehr an Bedeutung), die zeitlich und lerntechnisch gut strukturiert arbeiten können und die eine klare inhaltliche Ausrichtung für ihr Vorankommen wünschen. Weiterhin günstig wirken sich aus: eine gewisse Stressfestigkeit, Toleranz gegenüber Unzulänglichkeiten und Unsicherheiten, die mit der Situation als „Pioniergeneration“ verbunden sind, und gute Auffassungsgabe und strategisches Verhalten in Hinblick auf Prüfungsanforderungen.
Probleme mit dem BA/MA-System
Das BA/MA-System ist vor allem problematisch für:
• Studierende, die sich aufgrund ihrer familiären Situation oder wegen unzureichender materieller Absicherung und der Notwendigkeit des Gelderwerbs ihrem Studium nicht uneingeschränkt widmen können. Daten aus der 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks zeigen, dass es sich hierbei keineswegs um zu vernachlässigende Randgruppen handelt: ca. 7 Prozent der Studierenden haben Kinder und 44 Prozent der Studierenden im Erststudium investieren wöchentlich mehr als 9 Stunden Zeit in Erwerbstätigkeit.
• Studierende mit Unsicherheiten bezüglich des eigenen Leistungsvermögens, mit Prüfungsängsten und einem Hang zu perfektionistischem Verhalten geraten im neuen System unter großen Druck, da die Möglichkeit reduziert ist, durch das zeitliche Strecken von Prüfungsleistungen Entlastung zu schaffen.
• Studierende, die am Studienbeginn in ihrer Studienfachwahl unsicher waren und zunächst eine Zeit der Orientierung und des Hineinschnupperns in den universitären Lehrbetrieb benötigen würden, um eine endgültige Entscheidung zu treffen, finden dafür kaum noch Möglichkeiten. Hinzu kommt, dass Studierende immer stärker von der Mentalität geprägt sind, keine falschen Entscheidungen treffen zu dürfen, und dass Umwege nicht als produktive Erfahrung, sondern ausschließlich als Versagen gewertet werden.
• Studierende, die auf die durch den quotierten Übergang zum Masterstudium geschaffene Konkurrenzsituation mit „Einzelkämpfertum“ reagieren.
• Studierende, die es nicht schaffen, die noch ungewisse Anerkennung des BA-Abschlusses im beruflichen Feld mit optimistischer Pionierhaltung anzugehen, erleben massive Zukunftsängste.
• Studierende, die verunsichert sind hinsichtlich der für den Übergang ins Masterstudium maßgeblichen Leistungen und Quoten, erleben dies als starke Belastung. Sie reagieren auf Leistungen im unteren Bereich schnell mit Gedanken an Studienabbruch.
Veränderungen in der Beratungsarbeit
Nach wie vor dominieren in der Tätigkeit der Psychosozialen Beratungsstelle als Kernbereiche die Beratung bei persönlichen und psychischen Problemen und Krisen, die Unterstützung Studierender beim Aufbau eines tragfähigen sozialen Netzes und die Förderung Gesundheit erhaltender Strategien bei der Bewältigung psychischer Belastungen, die mit der Studienphase einhergehen.
Darüber hinaus wurde an der Universität Oldenburg auf die veränderte Nachfragesituation mit einer Ausweitung präventiver Angebote zur Lösung studienbezogener Probleme reagiert. Mittlerweile gibt es unter dem Titel „Starker Start ins Studium“ eine ganze Reihe von Vorträgen und Workshops, die Studierende dabei unterstützen, die für das Gelingen des Studiums notwendigen Kompetenzen zu entwickeln.Auch die Form der Einzelberatung hat sich gewandelt. Während in der Vergangenheit längere Beratungsprozesse vorherrschten, kommt es heute häufiger vor, dass Studierende im Verlauf ihrer Studienzeit mehrfach die Beratung aufsuchen, um jeweils mit zwei bis drei Gesprächen aktuelle Probleme zu lösen. In zunehmendem Maße kommen Studierende mit ganz klar begrenzten Problemstellungen und Zielvorgaben in die Beratung. Sie erhalten dementsprechend ein Coaching, d.h. eine klar strukturierte Begleitung bei der Umsetzung ihrer Ziele.
Künftige Entwicklungen
Was ist zu erwarten, wenn das Durchschnittsalter der Studienanfänger demnächst absinken wird, sobald diejenigen Jahrgänge an die Hochschulen kommen, die ihr Abitur nach 12 Jahren absolviert haben? Es ist davon auszugehen, dass die Bindung der Studierenden an ihr Elternhaus verstärkt wird und dass die für die Studienphase notwendigen Ablösungsprozesse sich verzögern werden. Hinzukommt, dass viele Familien – oftmals in einem finanziellen Kraftakt – die Studienbeiträge für ihre Kinder aufbringen, um ihnen die Verschuldung durch Kreditmodelle zu ersparen. Aus Kostengründen werden noch mehr Studierende als bisher im Haushalt der Eltern wohnen bleiben und zum Studienort pendeln. Die Folge: Viele Studierende werden sich über den gesamten Studienverlauf unter starkem Legitimationsdruck gegenüber ihren Familien sehen. Fehlentscheidungen bei der Studienfachwahl oder Fehlschläge und Umwege im Studium dürfen dann eigentlich nicht mehr vorkommen oder werden sogleich als familiäre Katastrophen empfunden – hier ist jede Menge Arbeit für die psychologische Beratung absehbar.
Ansatzpunkte für Verbesserungen
Nach ersten Erfahrungen mit Problemschwerpunkten im neu strukturierten System ergeben sich aus der Sicht der psychologischen Beratung verschiedene Ansatzpunkte zur Verbesserung der psychosozialen Situation Studierender:
• Die BA-/MA-Studiengänge müssen in Hinblick auf inhaltliche Überfrachtung und Überreglementierung von Studienabläufen überprüft werden.
• Studierende brauchen mehr Möglichkeiten zur Orientierung zu Beginn und zur Entschleunigung des Studiums, denn nicht alle können das gleiche Tempo gehen.
• Das Teilzeitstudium sollte durch entsprechende Studienordnungen „legalisiert“ werden, wird jedoch (z. B. für studierende Eltern) erst durch eine entsprechende Neuregelung des BAFöG wirklich studierbar.
• Der im BA-Studium enthaltene Professionalisierungsbereich sollte psychoedukative Aspekte wie Stressmanagement und gesunden Umgang mit Leistungsanforderungen als Ausbildungsbestandteile integrieren.
Studierende werden im aktuellen System mit massiven Leistungsanforderungen konfrontiert. Im Gegenzug muss durch Lehre und Serviceeinrichtungen sichergestellt werden, dass durch die intensive Begleitung und Beratung Studierender Rahmenbedingungen geschaffen werden, die ein Gelingen des Studiums ermöglichen und die berücksichtigen, dass psychosoziales Wohlbefinden Grundlage jeder akademischen Erfolgsstory ist.