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"Man muss doch den Sprung wagen!"
Rolf Hochhuth über Karl Jaspers als politischen Schriftsteller und Klassiker: zeitlos gültige Warnrufe und überzeitliche Bedeutung
Anlässlich des 125. Geburtstags von Karl Jaspers hielt der Schriftsteller Rolf Hochhuth im Oldenburgischen Staatstheater eine engagierte Rede, die hier in Auszügen wiedergegeben wird. Hochhuth hatte den Existenzphilosophen 1963 in Basel kennen gelernt. Der verteidigte damals vehement Hochhuths Dokumentarschauspiel „Der Stellvertreter“, das sich kritisch mit dem Schweigen von Papst Pius XII. angesichts des Holocausts auseinandersetzt. In seiner Festrede beschäftigte sich Hochhuth mit Jaspers als politischem Schriftsteller und öffentlichem Intellektuellen und ging, wie dieser, mit Politik und Politikern hart ins Gericht.
Gab es je einen Philosophen, in dessen Werk sich zeitlos gültige Warnrufe finden? So aktuell, als seien sie uns vom Autor, der doch seit Jahrzehnten tot ist, erst heute früh zugegangen? Wegen brandbedrohlicher politischer Nachrichten in der Tagesschau?
Sicher gab es das vor Jaspers noch nie!
Aktualität und Klassizität
Beispiel: Am Sonntag vor acht Tagen die aufscheuchende Meldung. CDU/CSU führten eine verschärfende Erneuerung der Notstandsgesetze im Schilde, verharmlosend angekündigt, das heißt: getarnt als „Sicherheitsstrategie“, mit Einsätzen der Bundeswehr sogar gegen die eigene Bevölkerung! Ein neuer Terrorakt des „Schöpfers“ der so genannten Vorbeuge-Haft, des Innenministers Schäuble, gegen die – ohnehin schon laufend verwässerte – Verfassung der Bundesrepublik!
FDP und SPD haben vehement dagegen protestiert – aber nun das ganz Erstaunliche: Sie können jedes einzelne ihrer Argumente wortwörtlich den zwei Büchern von Jaspers entnehmen, deren Ursprung ja – ihre direkte Veranlassung – einst die von F. J. Strauß verlangten Notstandsgesetze waren!
Und das werden FDP- und SPD-Politiker auch tun, freilich ohne noch zu ahnen, dass sie sich mit jedem ihrer Einwände gegen Schäuble auf Karl Jaspers berufen, wenn ihnen die Erhaltung unserer Demokratie am Herzen liegt.
Denn exakter, endgültiger, weil überzeitlich bedeutend, als Jaspers das schon getan hat in seinen zwei Schriften über unseren Staat – „Wohin treibt die Bundesrepublik“ und „Antwort an meine Kritiker“ – kann niemand für Freiheit und Unabhängigkeit argumentieren – unabhängig übrigens auch von Europa, besonders von dem jetzt für uns sehr riskant werdenden NATO-Bündnis.
Auch nenne ich deshalb Jaspers den Klassiker – zweifellos der einzige neben Thomas Mann unter allen Autoren, die Deutschland im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat (so viele einzelne klassische Werke auch andere Deutsche im selben Zeitraum geschaffen haben) –, weil neben den Büchern dieses Oldenburgers ebenso wie allein neben denen des Lübeckers –, auch ihre Persönlichkeiten, da zeitweise aufs Höchste bedroht, zu einem integrierenden Bestandteil unserer vaterländischen Geschichte geworden sind!
Wie symbolisch, dass Jaspers ausgerechnet „Existenzphilosophie“ genau in jenem Jahr schrieb, in dem ihm vom Hitler-Staat die berufliche Existenz genommen wurde: 1937 – verbunden mit dem Verbot, noch zu publizieren.
War doch Karl Jaspers Autor, seit ihn 1908 seine Dissertation „Heimweh und Verbrechen“ zum Dr. med. gemacht hat – bis ins Jahr seines Todes 1969, als Hans Saner unter dem Titel: „Provokationen“ die Gespräche und Interviews herausbrachte. ...
Philosophie und praktische Politik
Weil mancher fragt, wie ich an Jaspers gelangte: „Der große Mann“ – nur einen Zeitgenossen übrigens, Winston Churchill, hörte ich Jaspers jemals so apostrophieren –, gab mir die Ehre, er war 80, zum letzten Mal im Leben zum Rundfunk zu fahren, um dort mit Walter Muschg, dem Autor der „Tragischen Literaturgeschichte“, mit dem Münster-Pfarrer Buri und dem katholischen Studenten-Seelsorger meinen „Stellvertreter“ zu verteidigen – der ohne deren Beistand weggefegt worden wäre , in Basel, der zweiten Stadt, in der er 1963 gespielt wurde. Ein Fackelzug von viertausend Teilnehmern gegen das Stück zwang hundert Polizisten, das Theater außen – und zwang hundert, es innen zu verteidigen; immer war Polizei auch auf der Bühne, die Schauspieler vor den Krawallern zu schützen; nur bei Licht konnte gespielt werden.
Erst seit den Machtworten, anders kann man die nicht nennen, von Jaspers und seinem Schüler Golo Mann, war so weit Ruhe, dass wenigstens siebzehn ausverkaufte Vorstellungen gespielt werden konnten – dann waren die Nerven der Intendanz und der Darsteller verschlissen...
Politik – das hat Jaspers oft gesagt, öfter je älter er wurde – sie erlaubt keinem mehr, sich ihr zu entziehen. …
Jaspers verkörperte die Geschichte der Deutschen vom Ausgang des Kaiserreichs bis mitten in die BRD und den Kalten Krieg, der ja allein dank des Vorhandenseins der Atombombe, die Jaspers so intensiv beschäftigt hat, nicht zum Heißen ausartete, dessen Schauplatz damals natürlich Deutschland geworden wäre …
Jaspers blieb bei der Politik, bis er 1967, zwei Jahre vor seinem Tode, seine „Antwort“ – so der Titel – an jene Kritiker veröffentlichte, die ihm sein kühnes Buch „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ so rüde wie anmaßend um die Ohren gehauen haben; auch ganz unsachlich-kleinstkariert beleidigt, weil nun ein Philosoph praktische Politik schrieb!
Das gehört sich nicht hierzulande; das gefährdet die angeblich alleinige Zuständigkeit unserer Gewählten, die sich erstmals, zum biblischen Zorn von Jaspers, schon mit Einführung der Fünf-Prozent-Klausel einen entscheidenden Verfassungsbruch geleistet hatten, nur um ja „unter sich“ zu bleiben. Aber fünf Prozent sind sehr viel für Newcomer – wenn die keine Wahlkampf-Gelder vom Staat kriegen, fast unerreichbar viel. …
Barometer für Gefährdungen
Wenn man jetzt „Wohin treibt die Bundesrepublik“ wie eine Neuerscheinung liest, so ist das den zwei nahezu unfassbaren Tatsachen zu danken, erstens, dass es ihr großer Autor fertig brachte, die zur Brandt-Kiesinger-Epoche aktuelle Tagespolitik – vor allem die Notstandsgesetze, die den Philosophen zu seinem Aufstand gegen die Bonner Politik aufgeputscht haben –, so darzustellen, dass es noch heute uns und sogar die Jungen, die schon gar nicht mehr wissen, wer die damals Führenden waren, als zeitlos gültige Problematik aufschreckt.
Und dass zweitens und folglich die Verpflichtungen noch keineswegs eingelöst sind, die vor vier Jahrzehnten Jaspers uns Deutschen auferlegt hat – sofern wir jetzt überhaupt noch den Wunsch haben, vor der Parteien-Oligarchie, die uns beherrscht, die Staatsform Demokratie zu bewahren ... . Diese zwei Jaspers-Fibeln bleiben also Barometer für die Gefährdungen, denen immer erneut eine weitgehend intakt gebliebene Demokratie ausgesetzt ist: Unersetzlich! Denn sie wechseln nur, diese Gefahren, ihr Personal, werden aber nie harmloser, ob sie damals Globke und Strauß hießen oder heute Steinbrück und Schäuble ... Ob, womit sie unsere Freiheit abdrosseln, Notstands- oder Ermächtigungs-Gesetz getauft wird oder Sicherheitsrat ...
Doch als endlich bei uns einige Beherzte das Mitrede-Recht, das Referendum, einführen wollten, sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Hitler-Kriegs – da gingen Kanzler Schröder und sein Außenminister die 300 Meter aus ihren Ämtern – ich habe mich kundig gemacht – gar nicht erst hinüber zur Abstimmung ins Parlament: So wesensfremd, so widerwärtig ist ihnen der Gedanke, auch das Volk dürfe mitbestimmen! …
Thomas Mann und Karl Jaspers
Ich will nur die eine Frage heute Abend gründlicher umkreisen: Warum der Klassiker Karl Jaspers für meine Generation in Deutschland und auch noch für die meiner Söhne neben dem Klassiker Thomas Mann der einzige Autor ist – Jaspers von der Nordsee ist acht Jahre jünger als der Lübecker von der Ostsee – von denen, die hierzulande Kunst oder Philosophie machen, aber auch Politik ... , deren Verhalten wegweisend-vorbildhaft ist – dank ihres Tuns, ihres Denkens und ihres politisch-ethischen Verhaltens, besonders während der Nazi-Diktatur.
Beiden war nicht an der Wiege gesungen, geboren in ein Zeitalter schier ewigen Friedens, dass sie erst auf der Höhe des Lebens ins Politisch-Kriegerische hineingerissen würden: Thomas Mann war 39, Karl Jaspers 31, als der erste der Weltkriege sie überfiel – aber doch verschonte: Beide mussten, obgleich im so genannten „wehrfähigen“ Alter, nicht einrücken, beide hörten keine Kugel pfeifen – wurden aber doch jäh aus ihren bürgerlich-friedlichen Existenzen geistig aufgescheucht durch Probleme, die stets erst mit dem Krieg ihren letzten Ernst bekamen. …
Doch durchaus vergleichbar und vorbildlich wie sonst nichts – gerade auch für alle heutigen und morgigen Autoren noch – ist der kämpferische Geist, erst des Lübeckers, dann des Oldenburgers: Beide haben als Konservative angefangen, aber wurden durch anti-aufklärerische, das heißt durch Diktatur-Politik ethisch zu Aktivitäten genötigt, zu Schritten in die Öffentlichkeit, die sie dann erst selber als Autoren auf die volle Höhe brachten, weil ihre Natur, ihr politisches Ethos, ihre Epoche sie dazu gezwungen haben: der legitimste Weg.
Bis ins Biographische hinein sind die beiden Hanseaten Engverwandte: Zunächst nur deshalb unter Hitler zu Verfemten geworden, weil mit Jüdinnen verheiratet ... Wer wie ich beide gekannt hat, Gertrud Jaspers und Katja Mann, der weiß, wie viel ihre Männer diesen höchst markanten Damen zu verdanken hatten, nicht zuletzt den Kritikerinnen in ihnen beiden. Jaspers, daran erinnerte neulich Hans Saner, sagte: „Gertrud hat mich den Kleinheitswahn gelehrt.“ (…)
Immer stand bei Jaspers das Zyankali auf dem Nachttisch, dazu eine „Bitte um Maßnahmen der Euthanasie“ an den herbeigerufenen Kollegen, sollten die Häscher schon eingedrungen sein, Gertrud zu deportieren, bevor sie beide tot waren. Der Zettel mit Leukoplast auf dem Nachttisch ist noch vorhanden. Selbst das natürlich noch eine Illusion von Jaspers im Nazi-Heidelberg: Denn kein Mediziner würde gewagt haben, seinem verfemten Kollegen die endgültige Spritze zu setzen unter den Augen der Killer … .
Lebensfreundlichkeit und Verzweiflung
Lebensfreundlichkeit – ich will die Stärke dieses Gefühls, dieser Energien, die ihn noch kurz vor seinem 86. Geburtstag – drei Tage später starb Jaspers – leiteten, mit seinem späten Erlebnis verdeutlichen.'
Es war schon Herbst, 68, nach seinem ersten Schlaganfall, wir sprachen über Schopenhauer, nicht zum ersten Mal. Ich wusste, dass Jaspers nicht nur ihn, sondern auch alle, die Schopenhauer zu sehr faszinierte – mich zum Beispiel –, mit zurückhaltender Ironie dafür verachtete. Denn Schopenhauer, wie immer er war, lebensfreundlich war er nicht, und wer ihn zu seinem Meister macht, der kehrt all‘ dem den Rücken, für das der Staatsbürger, der Mensch überhaupt sich engagieren soll. Dann besonders, fand Jaspers, wenn es um die Welt, die Öffentlichkeit, also die Politik, wieder einmal so bestellt ist, dass Schopenhauerianer mit Resignation oder auch Pathos – es gibt ja ein Pathos der Resignation –, jedenfalls mit der großen, müden Gebärde des Verneigens, sich wegwenden. Das verachtete Jaspers, das war ihm das schlechthin Unentschuldbare. Selbst wenn man verzweifelt war, man hatte kein Recht, sich darin einzurichten. Jaspers zitierte mehrfach Goethes brutalen Satz: „Wer nicht verzweifeln kann, der muß nicht leben.“
Nun lobte Jaspers Schopenhauer zunächst mit einem Sarkasmus, dass man sich genierte, so in dessen Bann zu stehen. Schließlich sagte er: „Er bleibt natürlich immer noch eine sozusagen amüsante Lektüre – aber wodurch wirkte er denn? Durch politische Verantwortungslosigkeit, durch seine Verachtung des Menschen, des Lebens, der Geschichte, des Staates, von dem er aber doch seine ererbte Lebensrente gegen Revolutionäre geschützt haben wollte: Sein Bild der Welt verpflichtet zu gar nichts, jedes Tier stand ihm näher als jeder Mensch.“
Das konnte ich nicht bestreiten, durfte aber andeuten, dass er ja selber, Jaspers, in den letzten Wochen, und das war primär nicht das Resultat seiner Krankheit – krank war er ja 86 Jahre lang, allerdings war er nun zum ersten Mal arbeitsunfähig – , dass er ja selbst sehr oft jetzt vom sozusagen endgültigen Pessimismus beherrscht gewesen sei. In diesem Sommer hatte man ihn zuweilen sagen hören, zum ersten Mal: „Mit der Politik bin ich fertig, lassen wir das! Die Deutschen haben die Einheit verspielt, die Bismarck sein Nürnberger Spielzeug nannte, als er sie ihnen geschenkt hatte; und sie werden ihre Demokratie verspielen, das zweite Nürnberger Spielzeug, das ihnen von den Westmächten geschenkt wurde.“ …
So konnte ich doch einen unzulänglichen Versuch wagen, vor dem Mann, der „die Antwort ... auf die Frage, was Transzendenz sei, indirekt im Erhellen der ... Unmöglichkeit einer dauernden richtigen Welteinrichtung, des universalen Scheiterns“ gesucht hatte –, so konnte ich vor Jaspers, der hier völlig ruhig seinem raschen Ende klar entgegensah, auch die Hoffnungslosigkeit Schopenhauers verteidigen: „Sie selbst sind ja auch ohne Hoffnung!“
Jaspers sah mich an, dann richtete er, wie er zu antworten begann, sich im Bett auf und sagte mit Leidenschaft, dass ihm die Tränen in die Augen traten: „Aber das darf man doch nicht zeigen! Man darf sich doch nicht zurückfallen lassen – man muß doch den Sprung wagen, auch ins Dunkle, auch ohne Sicherheit, auch ohne Hoffnung. Hoffnungslosigkeit hilft doch keinem Menschen!“