Hochschulzeitung UNI-INFO

Inhalt 4/2011

Thema

55.000 Anrufe nach dem Tschernobyl-Unglück

Physiker Heinz Helmers über die Arbeit der Oldenburger Radioaktivitäts-Messstelle / Seit Katastrophe von Fukushima wieder in Betrieb

Zur Atomkraft hat Dr. Heinz Helmers (Foto) eine klare Meinung. „Die Technik ist nicht wirklich beherrschbar“, sagt der Oldenburger Physiker. Seit der Reaktorkatastrophe in Japan häufen sich bei Helmers die Anfragen von Medien und besorgten Bürgern. Aus Anlass des Unglücks hat Ende März die Radioaktivitäts-Messstelle in Wechloy ihren Betrieb zur Luftüberwachung wieder aufgenommen. Grund zur Sorge geben die Messwerte aber nicht. Zwar haben die Physiker auch in der Oldenburger Luft Spuren des radioaktiven Jod-131 nachgewiesen. „Eine Gesundheitsgefahr ist aber auszuschließen“, sagt Helmers. Die gemessenen Werte seien mindestens 1.000 Mal niedriger als die typische Konzentration natürlicher Radioaktivität in der Luft.

Vor 25 Jahren stand die Arbeit der Oldenburger Messstelle bereits besonders im Blickpunkt. Die Katastrophe im Kernkraftwerk Tschernobyl löste damals in ganz Europa Angst vor radioaktiver Strahlung aus. „Der damalige Bundesinnenminister Zimmermann hat nach dem Reaktorunglück schnell herausposaunt, die Strahlung sei für uns unproblematisch“, erinnert sich Helmers. „Die Bevölkerung aber hat sich damals durch die offiziellen Stellen schlecht informiert gefühlt.“ Bei den Oldenburger Physikern, die die 1984 eingerichtete Messstelle betreuten, klingelte pausenlos das Telefon. „Im ersten halben Jahr nach Tschernobyl hatten wir etwa 55.000 Anrufe“, sagt Helmers. Anfangs wurde noch jede Anfrage persönlich beantwortet. Später wurden eine Servicenummer der Bundespost und sechs Anrufbeantworter der Uni genutzt, um Bürger und Presse mit den neuesten Messdaten zu versorgen. Das Labor konnte nur deshalb über Monate rund um die Uhr betrieben werden, weil Firmen und Privatpersonen rund 100.000 DM für Personalkosten spendeten und viele Freiwillige sich engagierten. „Damals war ja auch die Computerisierung noch kaum fortgeschritten“, nennt Helmers eines der Hauptprobleme bei der Datenerfassung.

In den ersten Tagen nach Tschernobyl standen bei den Anfragen ganz praktische Dinge im Mittelpunkt. „Ich baue zu Hause Salat an, soll ich den wegwerfen oder kann ich ihn essen?“ war eine der immer wiederkehrenden Fragen. Helmers riet dazu, erst einige Wochen nach der Katastrophe wieder Gemüse zu ernten, Milchkühe auf die Weide zu treiben und Kinder auf Grünflächen spielen zu lassen. „Meine Tochter war damals zwei Jahre alt, mein Sohn sieben. So konnte ich berichten, wie wir damit umgehen“, sagt Helmers. Die Beratungstätigkeit der Oldenburger Physiker war der niedersächsischen Landesregierung zunächst ein Dorn im Auge. Die Messstelle habe „maßgeblich zur Verunsicherung der Bevölkerung insbesondere im Bereich Oldenburg beigetragen“, kritisierte damals Wilfried Hasselmann für die Landesregierung. Dennoch übernahm diese mit einigen Tagen Verzögerung einen Teil der Empfehlungen aus Oldenburg. Die Messergebnisse der Oldenburger hatten sich ohnehin weitgehend mit den offiziellen Daten gedeckt. Untersucht wurde in Wechloy nicht nur die Luft. Die Forscher entnahmen von Mai 1986 bis Mai 1987 auch 250 Proben von Babynahrung. Die meisten von ihnen waren nur sehr gering mit Cäsium belastet. Eine Untersuchung von Bodenproben dagegen ergab, dass Tschernobyl die Böden in der Region Oldenburg ungefähr so stark mit Cäsium belastet hatte wie alle oberirdischen Atomwaffenversuche in den 1950er und 1960er Jahren zusammen.

Annette Berger, Technische Assistentin, wechselt den Luftfilter der Messstation aus. Foto: Marc Brüggemann

Direkt nach der Wende hat die Messstelle im Frühjahr 1990 in Kooperation mit der Bürgerbewegung „Neues Forum“ die Cäsium-Belastung auf dem Gebiet der DDR untersucht, später folgten Untersuchungen zum Verhalten von Cäsium in Böden Deutschlands und Weißrusslands. Heute dient sie außer zur Information über Strahlenbelastungen vor allem zur Ausbildung. „Die Messstelle kommt im Rahmen der Physik-Praktika zum Einsatz“, sagt Helmers. „Angewandte Kernphysik ist in Oldenburg kein Schwerpunkt, aber wer hier einen Masterabschluss in Physik macht, sollte auch in diesem Bereich Kenntnisse haben.“ Bestandteile der Messstelle sind Gamma- und Alpha-Spektrometer, Dosimeter, ein Beta-Messplatz, Kontaminationsmonitore sowie eine Anlage, mit der die Radioaktivität in der Luft gemessen werden kann.

Was die Informationspolitik in Deutschland angeht, ist nach Helmers Meinung die aktuelle Situation nicht mit der Lage nach Tschernobyl vergleichbar. „Die Behörden haben aus dem Tschernobyl-Unfall gelernt“, sagt er. „Anders als damals erhalten die Bürger heute klare und sachliche Informationen. Man kann ein solches Thema inzwischen nicht mehr unter dem Deckel halten.“ Erschüttert ist Helmers allerdings über die Öffentlichkeitsarbeit in Japan. „Für ein Hochtechnologie-Land ist es wirklich erschreckend, wie schlecht da der Informationsfluss ist“, sagt er. „Um so erstaunlicher ist, welche Zurückhaltung die japanische Bevölkerung dabei an den Tag legt.“ (mb)

http://uwa.physik.uni-oldenburg.de

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