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Kasachstan - Kooperation mit postsowjetischen Hochschulen
Eine Reise in eine andere Welt / von Michael Fritsche und Barbara Henning
Zwischen den nordkasachstanischen Hochschulen Akmola und Kokschetau und der Universität Oldenburg besteht seit 1994 eine vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) geförderte Kooperation, die von Prof. Dr. Wilfried Stölting-Richert (Institut für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen, IBKM) initiiert wurde. Nachdem kasachstanische StudentInnen und DozentInnen zu meist mehrere Monate langen Aufenthalten in Oldenburg weilten, reisten Dr. Michael Fritsche und Barbara Henning, beide wissenschaftliche Angestelle am IBKM, in das heute eigenständige, aber noch vom Sowjetsystem geprägte Land. Ziel: Unterstützung bei der Suche nach neuen Wegen in der Lehre.
Postsowjetisches Kasachstan
Die Flugreise ging bis Almaty, der Hauptstadt von Kasachstan. Von dort war eine 1200 km lange Reise durch die kasachstanische Steppe in den Norden des Landes erforderlich. Die 26-stündige Zugfahrt verlief, dank des Organisationstalents der Gastgeber in Akmola, reibungslos und stressfrei. Man begegnete den deutschen Gästen sehr freundlich. Die Bereitschaft der nach unseren Maßstäben notleidenden Mitreisenden, alles zu teilen, war sehr bewegend. Die ruhige Atmosphäre während der langen Fahrt wurde insbesondere dadurch begünstigt, daß es so gut wie keine Zusteigemöglichkeiten gab, wodurch sich eine ziemlich festgefügte Reisegemeinschaft entwickelte. Die Steppenlandschaft mit ihren vielfältigen Farbnuancen und dem plastischen Sternenhimmel zeigte eine beruhigende Wirkung, so daß man gut eingestimmt, gelassen und ausgeruht am Zielort Akmola eintraf.Während die Hauptstadt Almaty mit ihrer soliden Bausubstanz und den mit alten Bäumen bestandenen großzügigen Boulevards, ihren zahlreichen gut gepflegten Parks und der beeindruckenden Silhouette des Tienschan-Gebirges den durchaus urbanen Charakter einer kosmopolitischen Großstadt aufweist, bietet das übrige Land eher ein Bild des allgemeinen Verfalls. Die Bahnanlagen und die kleinen Ortschaften an der Bahnlinie, insbesondere die Fabrikanlagen und Sowchosen wirken so verwahrlost, als sei die Wirtschaft völlig zum Erliegen gekommen.
Akmola selbst ist eine großräumige, nüchterne Plattenbausiedlung mitten in der Steppe, auf einer Fläche, die ungefähr der von Oldenburg entspricht. In seiner jetzigen Form ist es zu Chruschtschovs Zeiten als Hauptstadt des Neulandgebietes entstanden und besteht aus Planquadraten, die von sehr breiten Straßen mit oft mehreren Baumreihen begrenzt sind. Zwischen den Wohnblocks (normalerweise vier- bis fünfstöckigen Gebäuden) sind - inzwischen ziemlich ramponiert - Spiel- und Wäscheplätze, Gartenbänke und Tische installiert - eine dem damaligen sozialistischen Planverständnis entsprechende Musteranlage mit starken Verfallserscheinungen.
Der trostlose Eindruck verstärkt sich noch dadurch, daß man - außer zur rush hour - relativ wenige Menschen sieht. Dichte Staubwolken auf den Straßen, riesige Schlaglöcher und bei Regen seenartige Pfützen und knöcheltiefer Schlamm steigern den Eindruck der allgemeinen Verwahrlosung und zeigen das für die 'Dritte Welt' typische Polarisierungsverhältnis zwischen glänzender Metropolenkultur und zunehmend verelendendem Land. Der Plan der Regierung, die Hauptstadt nach Akmola zu verlegen, erscheint angesichts der enormen Probleme des Landes und der (nicht) vorhandenen Strukturen abenteuerlich. Geht es vielleicht nur darum, die für das im Rahmen der Globalisierung vagabundierende Kapital notwendigen Infrastrukturen zu schaffen, nämlich eine willfährige Administration, Flughafen und Hilton-Hotels?
In Atbasar, einer kleinen Stadt im Norden, fiel die ethnische Vielfalt von Russen, Kasachen, Ukrainern, Inguschen, Deutschstämmigen usw. auf, die nicht abgegrenzt in den gleichen Wohnquartieren leben. Bedauert wurde allgemein der Exodus der Deutschstämmigen, die als gute Nachbarn und Freunde ein wichtiger, produktiver Wirtschaftsfaktor gewesen seien und dank ihres Fleißes wesentlich besser gelebt hätten als die übrigen ethnischen Gruppen.
Besonders die kasachstanischen GesprächspartnerInnen zeichneten sich durch eine enorme Großzügigkeit, Weltoffenheit und Toleranz aus. Diese Werte sind inzwischen angesichts der Verteilungskämpfe um die knappen Ressourcen bedroht. Anzeichen dafür, daß diese Kämpfe nun auch hier ethnisch-religiös ausgetragen werden, fielen den BesucherInnen nicht auf.
Trotz der sehr herzlichen Aufnahme und Fürsorge durch die GastgeberInnen waren die konkreten Lebensumstände und Arbeitsbedingungen nicht leicht. Das Fehlen von Licht und Luft in der für kasachstanische Verhältnisse komfortablen Gästewohnung der Universität, weder Heizung noch warmes Wasser, machten Hygiene und Nahrungsversorgung zu einem gewissen Problem.
Angesichts der Begrenztheit des Aufenthaltes konnte dies alles mit Humor genommen werden. Wie anders und bedrohlich sind diese Umstände jedoch für die BewohnerInnen! Heizung und Warmwasserversorgung sind durch zentrale Kraftwerke geregelt (die ganze Stadt ist mit riesigen oberirdisch verlaufenden Rohren durchzogen). Inzwischen verhindern die zunehmenden Energieprobleme ein erfolgreiches Funktionieren. Der Winter dauert sechs Monate bei Temperaturen bis zu -35 °C.
Diesem äußeren Verfall entspricht offensichtlich auch die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Situation (zahlreiche Theater und Kinos haben ihre Arbeit eingestellt oder zeigen nur noch minderwertige westliche Produktionen). Ein großer Teil der arbeitenden Bevölkerung (so auch unsere KollegInnen) erhält ihr Gehalt mit mehrmonatiger Verspätung oder überhaupt nicht. Man hält sich über Wasser durch Familiensolidariät (Selbstversorgung auf dem Land) und Straßenhandel.
Arbeit an der Universität Akmola
Wie die Menschen und insbesondere die KollegInnen an den Hochschulen und Universitäten trotz dieser Bedingungen ihre persönliche und berufliche Würde bewahren und in der Ausbildung durchaus erfolgreich sind, ist in höchstem Maße bewunderungswürdig.Das Gebäude der Fakultät für Fremdsprachen an der "Eurasischen Gumiljov-Universität Akmola" besteht aus kleinen licht- und luftlosen Räumen, dunklen, stickigen Fluren und Toiletten in einem Zustand, der gerade bei deutschen Dauergästen zu ergiebigen Beschwerdediskursen führt.
Dennoch war die konkrete Arbeit mit den - meist weiblichen - Studierenden eine Freude. Ihr Interesse an den deutschen Gästen, den dargebotenen Themen und den für sie neuen Arbeitsformen war außerordentlich groß.
Das wöchentliche Seminar-Programm umfaßte sechs Stunden Sprachpraxis im 3. und 4. Studienjahr. Die Themen, Jugendkultur, Frauen, Mode, Sprachwandel und Mehrsprachigkeit waren bewußt abseits der üblichen Lehrbuchthemen gewählt und methodisch-didaktisch so aufbereitet, daß sie vor allem zum freien Sprechen anregen sollten. Die für die Studierenden damit gebotene Abwechslung von einem sonst eher rezeptiv ausgerichteten lehrerzentrierten Frontalunterricht (Grammatik-Übersetzungsmethode mit Auswendiglernen und Abfragen) und die Gelegenheit zum freien Sprechen mit rein deutschsprachigen Lehrenden wurde sehr positiv angenommen. Das fakultative Programm am Nachmittag für Studierende aller Studienjahre umfaßte Themen wie deutsche Kinder- und Jugendliteratur, deutsche Popmusik, eine Lyriklesung, Videodokumentationen zum Thema Mode, Lernen mit Chansons. Darüber hinaus gab es Vorträge für fortgeschrittene StudentInnen und Lehrende: eine kritische Betrachtung von Landeskunde im Deutschunterricht und Schreiben in der Fremdsprache Deutsch. Die zum Teil einzeln, zum Teil gemeinsam durchgeführten Vorträge waren durchweg gut besucht, diese Themenwahl hat sich bewährt.
Beispiel 1: Thema Jugend. Entlang von Hör- und Lesetexten wurde zunächst ein kritischer Begriff von Jugend erarbeitet ("die Jugend gibt es nicht") und auf seine historische und aktuelle Bedeutung hin befragt. Grundlage waren Texte zu Jugend und Familie in Deutschland, Jugendliche als Käuferschicht, Arbeit und Arbeitslosigkeit. Vor diesem Hintergrund konnten das eigene Selbstverständnis und eigene Einstellungen reflektiert werden.
Jugend in Kasachstan: Vorherrschend ist ein unpolitisches, lethargisches Warten auf das, was kommt. Viele träumen davon, einmal (auch für länger) nach Deutschland zu kommen. Es werden kaum kritische Fragen gestellt; es gibt keine Organisations- und Widerstandsformen, man vermeidet Brüche (der Zusammenhalt mit der Familie ist insbesondere bei Kasachen oberstes Gebot.
Beispiel 2: Frauen und Männer. Obwohl im Sowjetsystem die Berufstätigkeit der Frauen selbstverständlich war und viele Frauen in höhere Positionen aufsteigen konnten, scheint ein Bewußtsein der eigenen Stärke und Handlungskompetenz nur sehr eingeschränkt vorhanden zu sein. Das spiegelt sich in den Rollenbildern (Frau hübsch und zärtlich -Mann stark und klug), die vor allem in Diskussionsrunden mit den Studierenden zutage traten, im Verhalten der Geschlechter zueinander und in den streng hierarchischen Formen am Lehrstuhl. Die Stärke von Frauen wird allenfalls im Verhalten der Lehrstuhlleiterin Germanistik der Universität Akmola, Aygul Bischkenova, sichtbar. Es finden hier für BesucherInnen undurchsichtige Machtkämpfe zwischen den Lehrstühlen statt, bei denen unter dem Aspekt der Verhauptstädterung Auslandskontakte um ihrer selbst willen wichtig sind. Auffällig groß war das Interesse der Studentinnen und jungen Lehrerinnen an den Geschlech-terbeziehungen der jungen Generation in Deutschland (Liebe, Ehe, Homosexualität usw.).
Perspektiven der weiteren Kooperation
Es ist wichtig, den kasachstanischen KollegInnen und StudentInnen weiterhin Gelegenheit zu Studienaufenthalten in der Bundesrepublik zu geben: Erweiterung und Vertiefung der sprachlichen Handlungskompetenz, Einblick in hiesige Lern- und Aus-bildungsstrukturen, "Deutsch-Erfahrung" am eigenen Leibe.Bei den Lehrenden scheinen außer der Sprachkomponente die meisten der in Deutschland erhaltenen Impulse (neuere didaktische Ansätze, Methodenvielfalt, andere Lernformen, z.B. Dramapädagogik) im Alltag der kasachstanischen Hochschule schnell zu verpuffen: Die Lehrkräfte ziehen sich fraglos auf ihre alten - von "oben" zugeordneten - Lehrinhalte und konventionelle Unterrichtsformen zurück; die meisten reagierten auf den Wunsch nach Hospitation geradezu panisch.
Anders bei den Studierenden: Obwohl bisher nur wenige StudentInnen (des 4. Studienjahres) Gelegenheit zu einem Studienaufenthalt in Deutschland hatten, scheint darin ein großes Erfolgs- und Multiplikationspotential zu liegen. Die Studierenden sind durch den Aufenthalt in Deutschland offener, kritischer und selbstbewußter geworden. Wichtig ist, ihnen Gelegenheit zur Teilnahme an den hiesigen international zusammengesetzten Sprachkursen zu geben. Zukünftige Seminaraufenthalte Oldenburger KollegInnen sollten sich auf folgende Schwerpunkte konzentrieren:
- mehr fakultative Veranstaltungen am Nachmittag,
- mehr aktive Hospitation, d.h. von den Lehrenden eingeplante Ergänzungen zu den Veranstaltungen, Diskussionen mit und Beratung von Lehrkräften, gezielte LehrerInnenfortbildung;
- Angebote von Workshops, wie Schreiben, Dramapädagogik, Theater usw.;
- projektorientiertes Lernen, z.B. die StudentInnen stellen ihre Stadt/Universität vor;
- themenzentrierte Arbeit an Sachthemen, die sich durchaus positiv auf die eigene Lebenswelt oder auf den Vergleich der eigenen mit der deutschen beziehen sollte.
Übergeordneter Gesichtspunkt bei diesen Vorschlägen ist der Gedanke, mehr Leben, mehr Freude, mehr Gespräch und etwas mehr Kooperation und Mitbestimmung in die Strukturen am Lehrstuhl für Deutsch zu bringen. Ein Aufbrechen dieser Strukturen in Richtung einer (noch kleingeschriebenen) Demokratisierung von unten macht die zumindest zeitweise Anwesenheit deutscher Lehrender sinnvoll, die vor Ort "das andere" in Theorie und Praxis ausprobieren.
"Deutsche Kulturwochen in Zentralasien"
Im Rahmen der vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik organisierten "Deutschen Kulturwochen in Zentralasien", die im Herbst in den Hauptstädten der ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken stattfanden, hatte der DAAD der Universität Oldenburg Mittel für die selbständige Planung kultureller Aktivitäten in Nordkasachstan zur Verfügung gestellt. In diesem Zusammenhang gelang es Prof. Dr. Stölting-Richert trotz widriger Umstände ein Seminar und ein Symposion zu realisieren, das Anfang Oktober 1996 in Akmola stattfand.In dem von dem Oldenburger Geographen Prof. Dr. Rainer Krüger geleiteten Seminar "Neue Formen der Raumentwicklung und Raumplanung" wurden die Folgen der Hauptstadtverlegung nach Akmola 1998 ausführlich erörtert. Der Widerspruch zwischen planerischen Notwendigkeiten und extremen materiellen Engpässen und zerfallenden Infrastrukturen trat hier deutlich zutage - sowie die Tatsache, daß bei der Verlegung nur an die Arbeit der zentralen staatlichen Institutionen, nicht aber an eine integrierte Perspektivplanung der Stadtentwicklung gedacht wird.
An dem von Stölting-Richert und Bischkenova geleiteten Symposion "Neue Impulse für die Weiterentwicklung des Deutschstudiums an den Hochschulen Nordkasachstans", nahmen neben sämtlichen LehrerInnen aus Akmola 24 DozentIinnen von neun nordkasachstanischen Hochschulen teil. Es hatte das Ziel, kasachstanische und deutsche GermanistInnen gemeinsam interessierende Probleme herauszufinden und zu diskutieren.
Als solche Themen erwiesen sich die Phraseologie, ein traditioneller Schwerpunkt der sowjetischen Sprachlehrforschung und Linguistik, die Typologie und der Unterricht für Mitglieder der deutschen Minderheit. Es zeichnete sich ein fruchtbarer Austausch in dieser Thematik ab. Das Symposion leistete außerdem einen wichtigen Beitrag zur Kommunikation zwischen zahlreichen Germanistikabteilungen Nordkasachstans. Abgesehen von dem großen Interesse, das in Kasachstan der deutschen Sprache und Kultur entgegengebracht wird, zeigte sich ein großes Bedürfnis der KollegInnen dort, in dieser schwierigen Situation nicht allein gelassen zu werden und ihr vitales Interesse an internationaler Kooperation. Hier liegt - wenn auch in engem Rahmen - die Möglichkeit, gegen die einseitig im Sinne einer Kapitalmaximierung verstandene Globali-sierung ein Gegengewicht zu setzen.