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Nutella im Barfach als Pflege für Körper und Seele

Studium in Oldenburg, Berufsstart in der Ukraine: Impressionen aus einem fremden Land / Von Stefanie Stegmann

Im Inneren der ehrwürdigen nationalen Universität Czernowitz, der ehemaligen Residenz des orthodoxen Metrololiten.
Foto: Oliver Stenschke

Seit September 2003 ist Dr. Stefanie Stegmann als Lektorin des DAAD für Deutsch und Cultural Studies in Czernowitz/Ukraine tätig. Von 1993 bis 1998 studierte sie an der Universität Oldenburg Germanistik und Kunst (Lehramt), anschließend folgten hier Aufbaustudium und Promotion in den Kulturwissenschaftlichen Geschlechterstudien.

„Lust auf etwas ganz Neues“ hieß es vor einigen Monaten in einer Tageszeitung Norddeutschlands. Der Artikel portraitierte eine junge Hochschulabsolventin, die über den Deutschen Akademischen Austauschdienst eine Stelle an der Nationalen Universität Czernowitz antreten wollte, einer Stadt an den Ausläufern der Karpaten, Westukraine. Diese Absolventin bin ich.

Seit vier Tagen nun wiederhole ich diesen Satz: „Lust auf etwas ganz Neues“. Seit vier Tagen bin ich in Czernowitz, seit vier Tagen schlafe ich auf dem Gästesofa einer meiner zukünftigen Kolleginnen. Seit vier Tagen umgeben mich glitzernde Tapeten in der Wohnung und das Gegenteil außerhalb. Seit vier Tagen leide ich unter leichtem Magenziehen.

 

Oben: Stefanie Stegmann, Autorin dieses Erfahrungsberichts, am Laptop inihrer herrschaftlichen Wohnung mit Hinterlassenschaften aus rumänischer und sowjetischer Zeit.
Foto Michael Lohnherr

Links: Straßenzug in Czernowitz, Gebietshauptstadt in der südwestlichen Ukraine am Rande der Karpaten.
Foto: Oliver Stenschke

Czernowitz ist nicht irgendeine Stadt. Czernowitz blickt auf eine multiethnische, vielsprachige Geschichte zurück. Diese dokumentiert sich in Bildbänden, in Lyrik und Prosa, in Reiseberichten, und wissenschaftlichen Arbeiten über diese Stadt, aus dieser Stadt, die einmal der östlichste Posten der Habsburger Monarchie war. Diese dokumentiert sich in den mehrsprachigen Gullideckeln, angefangen von „Stadtmagistrat Czernowitz“ über die rumänische Variante „Cernauti“ bis hin zur kyrillischen Schreibweise, deren fehlerfreier Orthografie ich noch nicht mächtig bin. Diese dokumentiert sich im Wiener Café, auf Postkarten, in der Architektur - und nicht zuletzt auf dem jüdischen Friedhof und seinen in Stein gehauenen Erinnerungen, draußen, auf der Anhöhe am Rande der Altstadt. Verwildert und zugewachsen schläft er seinen 100-jährigen Dornröschenschlaf: Vor gar nicht allzu langer Zeit war ein Großteil der Bevölkerung jüdisch, vor ebenso nicht allzu langer Zeit gab es auch in dieser Stadt ein Ghetto, Deportationen ... Eine der zahlreichen Synagogen ist jetzt ein Kino.

Kaum einer der gegenwärtigen Czernowitzer lebt bereits länger als eine Generation hier. Viele sind aus den umliegenden Dörfern hierher gezogen. Die Zweisprachigkeit, Russisch und Ukrainisch, wird weniger als außergewöhnliche Bereicherung wahrgenommen, als vielmehr im Kontext aufoktroyierter Sprachenmachtpolitik registriert und diskutiert. Dazu gehört auch die Frage, wer auf der historischen „Opferpyramide“ ganz oben stehen darf: Ukrainer oder Juden oder sonst wer. Vertreibung wird in Kilometern, Leid in Kubikmetern gemessen. Tote werden aufgerechnet. Mir selbst fällt die Entscheidung nicht leicht: Soll ich Ukrainisch oder Russisch lernen - oder am besten gleich beides und ebenso situativ feinfühlig mal das eine, mal das andere wählen oder am besten beides in einem Satz verbinden?

Zwischen Mund und Torte

Lust auf etwas ganz Neues“: Ich versuche mich an diese Stadt zu gewöhnen. Obwohl Czernowitz immer noch mehr als dreißig Ethnien zählt, sehe ich selbst nur zwei: mich und die anderen. „Die anderen“ sehen im Moment noch alle ähnlich aus - der einzige Unterschied, den ich wahrnehme, kann auf den Skalen materieller Begüterung abgelesen werden. Die neureichen Ukrainer setzen am Stadtrand Stein auf Stein und bauen ihre Villen, von oben bis unten bunt eingefärbt und das westeuropäische Auge an Legoland erinnernd.

Ich sehe ukrainische Männer, teuer gekleidet, immer im gleichen Café sitzen, die eine Hand auf das linke Bein gestützt, mit der anderen wird gesprochen, geraucht oder getrunken. Ich sehe Ukrainerinnen, auf Twiggy diätisiert über Kopfsteinpflaster und Schlaglöcher fliegen. Ich sehe Boutiquen, Banken und Parfümerien. Ich sehe Männer mit Stöcken, wie sie in den großen Müllcontainern stochern. Ich sehe bettelnde Kinder und alte Frauen, die durch die Straßenzüge schleichen und bis an die fein gedeckten Tische des Wiener Cafés herankommen, um ihre geöffnete Hand zwischen meinen Mund und meine Torte zu schieben.

Ich sehe aufgeplatzte Teerdecken und steile Straßenzüge. Die Abgaskonzentration macht das Atmen zu einer bewussten Entscheidung. Motoren sprengen mein Gehirn. Autos halten nicht an, wenn ich einen Fußgängerweg überquere. Ich quetsche mich in Marschrutkas und Trolleybusse. Russische Popmusik lässt die Gespräche in den Cafes zu einer körperlichen Anstrengung werden. Menschen entschuldigen sich nicht,wenn sie rempeln und stoßen, und Gesichter auf der Straße lächeln nur selten.

Bleiben oder fahren

In den Wohnungen liegen Teppiche nicht nur auf dem Boden, sondern hängen auch an den Wänden. Dazu dichte Gardinen, Lichtwächter. Ich fahre mit dem Zeigefinger die Muster des Teppichs entlang. Draußen dampft die Stadt bei über 30 Grad im Schatten. Und ich? Ich werde bleiben. Oder aber die nur vorläufig geleerte Tasche wieder packen und fahren. Herausforderung. Überforderung. Flackernde Pupillen suchen nach der vertrauten Umgebung einer überschaubaren Stadt in Norddeutschland, die vertraute Umgebung meines über Jahre gewachsenen Freundeskreises, eines immer erreichbaren, mir wohlwollenden Elternhauses und einer Sprache, in der ich mich wie ein Delfin im Wasser - und so weiter. Da ist es und drückt auf den Brustkasten und breitet sich aus. Nach Haus.

Ich gehe in die Küche und mache mir einen Tee. Mein Lieblingstee aus Japan, den ich aus Deutschland mit in die Ukraine genommen habe. Heute sind es acht Tage. Acht Tage Czernowitz. Ich habe eine Wohnung gefunden und werde in drei Tagen das Gästesofa meiner lieben Kollegin verlassen. Werfe meinen Anker glücklich über die Reling: Mein eigener Raum, den ich gestalten kann, den ich mit meinen Schritten durchmessen kann, dessen Zugang ich regeln kann. Raum mit großen Fenstern und einem Blick bis hinauf zur nächsten Anhöhe.

Spazieren gehen und Blicke werfen: von draußen nach drinnen. Dort stehen sie hinter den Gardinen, die großen Wohnzimmerschränke - à la mode der 70er und 80er Jahre, für viele junge Erwachsene heute in Deutschland Repräsentanten kleinbürgerlichen „Elterntums“, von denen es sich emsig abzugrenzen gilt. Ihre Besitzer hier sind jedoch so alt wie ich, stelle ich fest, wenn ich bei Einbruch der Dämmerung an den Gartenzäunen lehne und spanne. Doch hier waren bis 1994 die Regale praktisch leer und das mehr oder weniger einzige Grundmodell wurde dann auch gern genommen.

Das Schrankmöbelstück meiner lieben Kollegin, bei der ich vorübergehend wohnen darf, verfügt über etwas, das auch in der Schrankwand meiner Eltern zu finden ist: ein Barfach. Ob seine Funktion hier die gleiche ist? Ich öffne die Klappe, die sich ebenso sirrend herunterziehen lässt, wie ich es noch aus der Kindheit kenne. Allerdings präsentiert sich mir hier eine Creme- und Kosmetiksammlung. Das Barfach scheint interkulturelle Gemeinsamkeiten zu haben: Es ist der Ort für im weitesten Sinne „Genussmittel“: Pflege für Körper und Seele, ohne dass diese dabei alkoholischer Natur sein müssen. Ich nehme eine der Körperlotionen in die Hand und entdecke das eigentliche Versteck. Hinter ihr steht ein verschüchtertes Glas Nutella, sicher vor den suchenden Augen des kleinen Sohnes.

Morbider Charme

Ich bin umgezogen und bewohne eine herrschaftliche Wohnung mit drei alten Öfen, einem noch aus rumänischer und zwei aus sowjetischer Zeit. Diese behaupten ihren Platz auf einem Parkettfußboden in Fischgrätmuster. Die Wände sind knapp vier Meter hoch, die Räume werden durch hohe Flügeltüren getrennt und in der Küche thront ein alter Emaillegasherd. Die ersten zwei Wochen sind vergangen. Mein Liebster hat Czernowitz heute Morgen via Berlin verlassen. Und ich? Ich verlasse mich darauf, dass es auch ohne ihn gehen wird. An dem Baum vor meinem Fenster reifen die Äpfel. Die Blätter der Kastanienbäume kräuseln sich rotgelb an ihren Rändern. Aus dem anderen Fenster blicke ich auf die im maurischen Stil angeordneten Schindeln der ehemaligen Metropolitenresidenz, heute Universität - mein zukünftiger Arbeitsplatz. Ich höre alte Kassetten. Ab jetzt allein hier.

Spazieren, schlendern, schauen. Links und rechts klassizistische Paläste, Jugendstiltrophäen, maurische Einflüsse, Bürgerhauszeilen, deren Verzierungen sich die Hand reichen und das Auge provozieren. Viel zerstört wurde hier städtebaulich nicht. Die Zerstörung hier ist eher eine langsame. Morbider Charme maroder Häuser. In einer surrealen Kurzgeschichte von Felicitas Hoppe stürzen die Menschen der Reihe nach vom Balkon. Hier stürzen ab und zu Balkone von den stuckverzierten Fassaden der Häuser.

Offene Arme

Vier Wochen sind vergangen. Ich gebe Seminare und LehrerInnenfortbildungen, führe Gespräche, berate Studierende, bewerte, betreue, diskutiere und organisiere. Ich fahre nach Kiev, Ternopil und Kamijanetz-Podijlskij, führe Verhandlungen mit der Polizei, radebreche Ukrainisch und verderbe mir den Magen. Ich verlasse das Haus morgens und kehre spät abends wieder zurück. Weder mit Fortbildungen noch mit Seminaren habe ich je in meinem Leben zu tun gehabt. Ob ich Angst habe? Natürlich. Normalerweise würde sie wachsen wie eh und je. Doch hier kommt es nicht wirklich dazu, denn mir fehlt vor allem eines: Zeit. Es passiert alles irgendwie. Ich improvisiere, habe Erfolg, scheitere, brilliere, versage. Alles zusammen. Ich taue auf und friere ein. Ich lerne Namen den Menschen zuzuordnen. Neugierige Augenpaare treffen aufeinander. Ich begegne Angehörigen eines Lehrstuhls, die mich mit offenen Armen empfangen. Ich laufe strahlend durch das brennende Czernowitz im Herbst. Ich verspeise Torten, Pfannkuchen, Fritten und Schaschlik und trinke kaltes Bier. Und es schmeckt. Heut Abend Kino. Langsam beginnen die Menschen sich zu unterscheiden. Sie kommen mir nah und ich ihnen. Sie werden endlich „ganz anders“. Und ich beginne mein Leben hier.


Presse & Kommunikation (Stand: 06.09.2024)  | 
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