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Thema
Schulsystem wenig kompensationsfähig
PISA-Nachfolgestudie
zu Germanistik und Englisch bestätigt Grundsatzkritik - Oldenburger Wissenschaftler
beteiligt
Konzentrierte
Arbeit am Lesitungstest: SchülerInnen der Klasse 9c des Georg-Büchner-Gymnasiums
Seelze. Foto: Reinhard Manzke |
Am
3. März wurden im Rahmen einer Fachtagung die Ergebnisse der PISA Nachfolgestudie
Deutsch Englisch Sprachleistungen von Schüler/innen der 9. Jahrgangsstufe
- International (DESI) in Berlin vorgestellt. Die deutsche Kultusministerkonferenz
(KMK) hatte sie im Frühjahr 2000 in Auftrag gegeben. Der unter Federführung
des Deutschen Instituts für internationale Pädagogische Forschung (DIPF)
arbeitenden Wissenschaftlergruppe gehörten auch die Oldenburger Germanisten
Prof. Dr. Wolfgang Eichler und Prof. Dr. Günther Thomé an, der inzwischen
nach Osnabrück berufen wurde. Wolfgang Eichler schreibt nachfolgend über
die DESI-Ziele und die Bereiche, die von ihm und Thomé bearbeitet wurden.
Die
DESI-Studie verfolgt ein wesentlich umfangreicheres und detaillierteres Untersuchungsprogramm
als PISA, hat sie doch nicht nur Leistungsstände in verschiedenen Teilbereichen
bei etwa 11.700 SchülerInnen des 9. Schuljahrs aus allen Bildungsgängen
erhoben, sondern Hinweise für den Fachunterricht in den Schulen und die Rahmenrichtlinien
erarbeitet. Außerdem wurden Daten und subjektive Theorien von LehrerInnen
und SchülerInnen über den Deutsch- und Englischunterricht detailliert
erhoben.
Gegenstand der Untersuchung sind die reproduktiven und produktiven,
die schriftlichen und mündlichen Kompetenzen von Neuntklässlern in den
Fächern Englisch und Deutsch.
Bei DESI geht es unter anderem um folgende
Ziele und Fragen:
Welche Binnenstruktur besitzen die muttersprachlichen
und fremdsprachlichen Kompetenzen von SchülerInnen der Zielpopulation, und
was weiß man über deren Entwicklung im Verlauf der Sekundarstufe?
Welche systematischen Zusammenhänge bestehen zwischen Teilleistungen in der
Muttersprache Deutsch und der ersten Fremdsprache Englisch?
Welchen
Einfluss haben personale, unterrichtliche und schulische Bedingungsfaktoren auf
die Leistungen im Deutschen und Englischen?
Für die DESI-Studie
wurden sehr verschiedene Teiluntersuchungen gemacht. Leistungstests gab es im
Bereich Englisch zu Hörverstehen, Leseverstehen, Sprachproduktion, Sprachbewusstsein/Grammatik
und Pragmatik, Semikreatives Schreiben, Textrekonstruktion und Interkulturelle
Kompetenz. Im Bereich Deutsch wurden Lesegeschwindigkeit/Leseverstehen, Wortschatz,
Sprachbewusstheit/Grammatik und Stil, Textproduktion, Argumentation und Rechtschreibung
getestet. In beiden Fächern gab es zudem Fragebögen zur Unterrichtsperzeption
durch Schüler, zu Individuellen Lernbedingungen und Institutionellen
Lernbedingungen.
Ergebnisse von DESI
An dieser Stelle
sollen einige Ergebnisse kurz dargestellt werden. Interessant ist, dass die Leistungswerte
in allen Teilbereichen, auch in Englisch im Vergleich zu Deutsch, relativ konsistent
sind: Wer in einem der Bereiche gut oder schlecht ist, ist es - mit leichten Unterschieden
- in den anderen auch.
Interessant ist ferner, dass zwischen beiden
Messzeitpunkten - wesentliche Leistungstests wurden jeweils am Anfang und am Ende
des 9. Schuljahrs durchgeführt - durchaus Leistungszuwächse festgestellt
wurden (die deutlichsten übrigens in Sprachbewusstheit Deutsch), wobei bis
auf wenige Ausnahmen die Tendenz zu erkennen ist, dass bei den besseren SchülerInnen
die Fortschritte größer sind als bei den weniger Guten. Bessere Schüler
lernen vermutlich aufgrund klügerer Lernstrategien schneller. Allerdings
soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass im Bereich Lesen die Kompetenz im
Deutschen im 9. Schuljahr stagniert, ja zurückzugehen scheint, bei manchen
schwächeren Jungen auch in Bereichen wie der Textproduktion.
Damit
sind wir bei der Geschlechterfrage, die sich in DESI wie erwartet
darstellt: Mädchen sind den Jungen mehr oder weniger voraus. Das gilt auch
für die Zuwächse: Mädchen lernen auch im 9. Schuljahr noch schneller,
der Abstand zwischen den Geschlechtern vergrößert sich also noch.
Bildungspolitisch
sicher aufregend, wenn auch vorhersehbar, sind die Leistungen in den verschiedenen
Bildungsgängen, die sich letztlich in Schularten niederschlagen. Die Leistungen
in Deutsch und Englisch unterscheiden sich deutlich: In allen Teilbereichen schneidet
die Hauptschule am schlechtesten ab; die Integrierte Gesamtschule ist relativ
nahe an der Hauptschule und nur im Leistungsspektrum nach oben etwas besser; deutlich
nach oben setzen sich die Realschule und natürlich auch das Gymnasium ab.
Letzteres präsentiert sich im Fach Deutsch als sehr homogene Leistungsgruppe
auf hohem Niveau. Die Leistungen der Realschule beeindrucken im Vergleich und
machen deutlich, dass der Realschulabschluss als Berufseinstiegsqualifikation
nicht zu verachten ist.
Der auch bei DESI zu beobachtende enge Zusammenhang
zwischen sozio-ökonomischem Status und besuchter Schulart sowie der z.T.
enge Zusammenhang dieses Status mit den Leistungswerten Deutsch werfen kein gutes
Licht auf die kompensatorischen Fähigkeiten unseres Bildungswesens. Und noch
etwas: Besonders der Besitz von bildungsrelevanten Kulturgütern im Elternhaus
ruft sehr hohe Leistungswerte hervor.
Oldenburger Beitrag
Günther
Thomé und ich bearbeiteten den Bereich Rechtschreibung und hatten für
diesen Bereich ein Diktat mit 68 Wörtern entwickelt, das wesentliche Schwierigkeiten
der deutschen Rechtschreibung enthält. Weiter erhoben wir die Leistungen
der SchülerInnen über eine konsequent sachsystematische Fehleranalyse
mit lernpsychologischen Implikationen entlang des so genannten Stufenmodells des
Lesen- und Rechtschreiblernens.
Die Rechtschreibleistungen der Schü-lerInnen
des 9. Schuljahrs waren alles andere als gut: Mindestens 12,l %der SchülerInnen
(Niveau unter A und Niveau A) brachten eine nicht ausreichende Rechtschreibleistung
nach Kategorien (von der Fehlerzahl her könnte man die Grenze noch weiter
ausdehnen). Diese SchülerInnen sind von der Rechtschreibung in ihrem Berufseinstieg
deutlich behindert.
Nur etwa 22,1 % der SchülerInnen (Niveau C
und D) können auf der anderen Seite als wirklich kompetente RechtschreiberInnen
bezeichnet werden, die anderen haben immer noch deutliche Schwächen.
Dies
macht deutlich, dass der Rechtschreibunterricht im 9. Schuljahr keineswegs unwichtig
ist, vor allem im kompensatorischen Sektor mit den (Lese-) Rechtschreibschwachen
ist noch viel zu tun. Nicht umsonst entdeckt die Berufsschule die
Arbeit an der Rechtschreibung zumindest für bestimmte Klassen wieder neu,
und die mancherorts geübte Praxis, Schülertexte (Schulaufsätze)
nicht auch nach der Rechtschreibleistung zu bewerten, kommt hier an ein unrühmliches
Ende.
Der von mir betreute Bereich Sprachbewusstheit Deutsch brachte
sehr konsistente und valide Ergebnisse, die in einigen Aspekten auch brisant sind.
In
Sprachbewusstheit Deutsch geht es darum festzustellen, inwieweit die SchülerInnen
in der Lage sind, grammatisch bewusst und Stil bewusst mit Sprache umzugehen.
Der Test prüft sowohl die explizite Kenntnis grammatischer Kategorien (=
Kenntnisse aus dem Unterricht in Reflexion über Sprache und Grammatik
für dieses Schulalter umsetzen) als auch das Monitoring, d.h. die laufende
analytisch bewusste Kontrolle und ggf. Korrektur des eigenen und fremden Sprachgebrauchs
auf die grammatische und stilistische Angemessenheit. Dieses Monitoring
ist bei einfachen Fehlerkontrollen wahrscheinlich stark automatisiert, bei schwierigen
Aufgaben wird grammatisches und stilistisches Wissen als prozedurale Sprachbewusstheit
aktiviert.
Das Konzept folgt damit der neueren language-awareness-Forschung,
die die prozedurale Sprachbewusstheit von der expliziten unterscheidet und damit
das Verständnis des sprachanalytischen Umgangs mit Sprache erheblich erweitert.
Konkret
sprechen die Testaufgaben in Deutsch in den Rahmenrichtlinien für das 8.
und 9. Schuljahr geforderte Lerninhalte, Schwierigkeiten im Bereich der späten
(Schrift-) Spracherwerbe (die wir uns bewusst ablaufend denken) und
sprachwandelgefährdeteBereiche an.
Die SchülerInnen zeigten
im Test sehr unterschiedliche Leistungen, die in die folgenden Leistungsniveaus
eingeordnet wurden:
Kompetenzniveau A: Einfache grammatische Sprachbewusstheit:
20% der SchülerInnen können eindeutige grammatische Fehler erkennen
und Korrekturen z.B. bei Dativ-/Akkusativobjekt, in der Kongruenz, beim grammatischen
Geschlecht aus implizitem Wissen einbringen.
Kompetenzniveau B: Einfache
grammatische und stilistische Sprachbewusstheit: 22 % der SchülerInnen können
zusätzlich Textkohärenz und -kohäsion auf schriftsprachlichem Niveau
aktiv erzeugen.
Kompetenzniveau C: Entfaltetes grammatisches Monitoring:
20% der SchülerInnen können Korrekturen auch bei schwierigen oder sprachwandelgefährdeten
grammatischen Phänomenen wie dem Genitivobjekt anbringen und auch eindeutige
stilistische Fehler korrigieren. Sie können grammatische Begriffe den entsprechenden
Phänomenen (aus dem Stoffbereich des Schulalters) zuordnen.
Kompetenzniveau
D: Entfaltetes grammatisches und stilistisches Monitoring: Bei 11% der SchülerInnen
ist die Fähigkeit, auch mit komplexen sprachlichen und stilistischen Phänomenen
korrekt umzugehen, entwickelt. Sie können z.B. Mehrdeutigkeiten auflösen,
komplexe Stilfehler erkennen, indirekte Rede von der Satzkonstruktion her erzeugen
und den Konjunktiv 2 zuordnen.
Kompetenzniveau E: Aktive Anwendung deklaratorischen/definierenden
Wissens: 1% der SchülerInnen können darüber hinaus explizites Wissen
(z.B. für die Leistung des Konjunktiv 2) oder für die stilistisch anspruchsvolle
Gestaltung (indirekte Rede mit Konjunktiv 1) verwenden.
Immerhin liegen
damit noch 24% der SchülerInnen unter dem Niveau A. Sie sind im automatisierten
Spracherwerb durchaus fortgeschritten, jedoch im Bereich der ausgewählten
Gegenstände nur in Ansätzen zu bewusstem sprachlichen Handeln fähig.
Sprachbewusstheit
Interessant
sind auch die Ergebnisse in Sprachbewusstheit nach Bildungsgängen.
Es
gibt sehr große Unterschiede zwischen den Schularten. So klafft zwischen
den Leistungswerten der Hauptschule (414 Mittelwert auf der DESI-Skala) und dem
Gymnasium (598 Mittelwert) ein so großer Unterschied wie in keinem anderen
Modul: Nur etwa 3% der Hauptschüler verfügen über das notwendige
explizite Wissen, können grammatische Phänomene unserer Auswahl benennen
(Niveau C und höher), während 80 % der Gymnasiasten dazu in der Lage
sind.
Obwohl die Zuwächse in Sprachbewusstheit Deutsch zwischen den
beiden Messzeitpunkten Anfang und Ende des 9. Schuljahrs in allen Bildungsgängen
gegeben und insgesamt mit 35 Punkten erheblich sind, sind sie nach Bildungsgängen
unterschiedlich: 27 Punkte sind es bei den Hauptschülern, 42 Punkte bei den
Gymnasiasten, wobei Mädchen und Jungen, wie oben angedeutet, sich noch einmal
unterschiedlich verhalten. Das heißt konkret, der trennende Graben zwischen
den Angehörigen verschiedener Bildungsgänge vergrößert sich
im 9. Schuljahr noch.
Die Wertedifferenzen insgesamt deuten aber noch auf
etwas anderes hin: der Lernbereich Sprachbewusstheit/language-awareness
ist einer, in dem die SchülerInnen in diesem Schulalter hochaktiv sind, und
da hier eine sprachbewusste Arbeitshaltung mit Auswirkungen in verschiedenen sprachlichen
und innersprachlichen Tätigkeiten (Texte lesen, schreiben, Rechtschreibung)
entwickelt wird, ist die Forderung nach einem kompensatorischen Vorgehen in diesem
Lernfeld im Deutschunterricht für diese Altersstufe mehr als berechtigt,
wobei wir wissen, dass der Erwerb formalen Wissens es allein nicht tut: Die Anwendung
expliziten Wissens auf Sprachhandeln, hin zu prozeduraler Sprachbewusstheit muss
trainiert werden.
Vielleicht noch ein indirekter, etwas überraschender
Indikator für die Lernstrategie Sprachbewusstheit: Es gibt eine
sehr hohe, fast Eins-zu-Eins-Korrelation zwischen der Teilnahme am bilingualen
Sach-Fach-Unterricht (hier wird der Unterricht in verschiedenen Sachfächern,
z. B. Geschichte, Geographie auf Englisch erteilt) und Bewusstheit Deutsch. Kurz:
Wer diesen Unterricht besucht, ist auch in Bewusstheit Deutsch supergut: keine
Rede von Verfall des Deutschen in diesem Konzept! Diese SchülerInnen entwickeln
eine so hohe Sprachbewusstheit (language awareness), dass dies auch dem Deutschen
zugute kommt.