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Kinder brauchen langfristige Verlässlichkeit

Kindheit und Familie in der Entwicklung zur postmodernen Gesellschaft / Von Horst Eberhard Richter

Horst-Eberhard Richter, der Begründer der Familienpsychologie.
Foto: Wilfried Golletz
Prof. Dr. med. Dr. phil. Horst-Eberhard Richter, einer der bekanntesten deutschen Psychoanalytiker und Mitbegründer der Familientherapie, hielt am 12. Juli 2006 anlässlich der Einweihung neuer Räumlichkeiten der Hochschulambulanz der Universität Oldenburg einen Festvortrag. Die Hochschulambulanz wurde 1999 gegründet und wird von Privatdozent Dr. Joseph Rieforth geleitet. Hier werden Diplom-Psychologen und Diplom-Pädagogen auf die staatliche Approbation als Psychologischer Psychotherapeut – so die offizielle Bezeichnung – und als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut vorbereitet. Horst-Eberhard Richter (83) war von 1959 bis 1962 Leiter des Berliner Psycho-analytischen Instituts und danach bis zu seiner Emeritierung 1992 Direktor des Zentrums für Psychosomatische Medizin in Gießen. Er ist Mitbegründer der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) und leitete 1992 bis 2002 als Geschäftsführender Direktor das Sigmund Freud-Institut in Frankfurt am Main. Nachfolgend Auszüge aus seinem Vortrag „Kindheit und Familie in der Entwicklung zur postmodernen Gesellschaft“.

Die in der ersten Nachkriegszeit in Deutschland aufwachsenden Kinder erlebten ein Klima, das infolge von jahrelanger Zerreißung oder Vertreibung der Familien von der Sehnsucht nach engem Zusammenhalt geprägt war. Der Überlebenskampf in Armut und inmitten von Bombentrümmern machte bewusst, dass man unmittelbar aufeinander angewiesen war. Die Zweierbeziehung und die Familie boten sich als eine kompensatorisch erfüllende Gegenwelt inmitten einer materiell und moralisch geschlagenen Gesellschaft an. (...) Nach jahrelanger Isolierung voneinander durch Krieg, Evakuierungen und Gefangenschaft war das Zusammenleben mit Kindern etwas wie die Wiederherstellung einer vollständigen Lebensgemeinschaft.

Emotionale Überforderung

Aber das bedeutete für viele Kinder auch eine emotionale Überforderung. Sie bekamen zu spüren, dass die psychisch geschädigten Eltern sie unbewusst stark mit eigenen Erwartungen beanspruchten. Sie sollten Freude stiften, sollten helfen, psychische Entbehrungen zu kompensieren, sollten aber auch erfolgreich funktionieren, um Selbstwertdefizite der Eltern wettzumachen. Sie hatten Eltern, die mit ihrer Vergangenheit im totalitären System des Hitler-Krieges so oder so traumatisiert waren, sei es durch entwürdigende Anpassung, sei es durch aktive Verwicklung in Ungerechtigkeit oder Inhumanität, sei es durch Erleiden von Verletzungen und Verlusten. Das trugen die Eltern meist sprachlos mit sich herum. Viele wollten sich darin nicht mehr wieder erkennen, was sie vor kurzem noch gedacht und getan hatten. Die Kinder empfanden dumpf etwas von dieser Last, aber nur indirekt, indem sie - unbewusst - mithelfen sollten, die Eltern von dieser psychischen Bürde zu befreien. Sie bekamen Ängste, Depressionen, innere Zerrissenheit, Schuldgefühle, aber auch übersteigerte Wünsche ihrer Eltern zu spüren, durch die sie oft in Konflikt mit ihren eigenen Bedürfnissen gerieten.

Als ich mit 29 Jahren, noch mitten in der eigenen Weiterbildung, schon mit der Leitung einer Beratungs- und Forschungsstelle für seelisch gestörte Kinder und Jugendliche in Berlin betraut wurde, - die Einrichtung war aus dem Kaiser-Wilhelm Institut hervorgegangen - da brauchte ich oft nur die Klagen der Mütter, z.T. auch der Väter anzuhören, um daraus zu schließen, dass den kindlichen Patienten gar nichts anderes übrig blieb, als mit den Störungen zu reagieren, die den Anlass des Besuchs bei mir bildeten. (...) Zu den häufigsten kindlichen Symptomen gehörten Ängste, psychosomatische Störungen, Stottern, Weglaufen, Jähzorn, nervöse Unruhe, Klauen, Depressivität. Ich fand dann bei vielen Kindern bestätigt, dass sie mit der Verantwortung beschwert waren, unglückliche Mütter oder Eltern froher zu machen, ihnen z.B. geheime Selbstvorwürfe abzunehmen, oder ihnen Halt als Ersatz für eine unerfüllte oder fehlende Partnerschaft zu bieten. Jedenfalls wurde ich genötigt, die Sichtweise zu verändern, die ich in der Medizin und in der damaligen Psychoanalyse gelernt hatte, nämlich die Probleme der kindlichen Patienten als rein individuelles Versagen, Fehlverhalten oder Kranksein zu begreifen. Praktisch ging ich mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mehr und mehr dazu über, die Eltern familientherapeutisch einzubeziehen. (...)

Nachdem ich die Entwicklung und die Auswirkungen solcher kindlichen Rollenkonflikte über fünf bis acht Jahre verfolgt hatte, schrieb ich darüber das Buch „Eltern, Kind und Neurose“. Ich habe mich darin nur auf die Prozesse innerhalb der Familiendynamik selbst konzentriert und nur ungenügend danach gefragt, wie sich die Einzelschicksale der Eltern in den gemeinsamen gesellschaftlichen Hintergrund einfügten. (...)

Lernziel Solidarität

Erst als die von mir exemplarisch studierte Kindergeneration der ersten Nachkriegsjahre in der zweiten Hälfte der 60er Jahre zu ihrer antiautoritären Revolte ansetzte, explodierte förmlich das Interesse für mein bis dahin verschmähtes Buch. Die studentische Jugend stürzte sich darauf, erkannte sich in den Opfern der von mir beschriebenen pathogenen Rollenmuster wieder und benutzte das Buch als eine Art Waffe zum Nachweis der erlittenen Unterdrückung und zur pauschalen Beschuldigung der repressiven älteren Generation. Aber es gab auch zahlreiche studentische Väter und Mütter, denen das Buch als eine Art Ratschlag-Bibel dienlich für eine reformierte Kindererziehung wurde. Dazu bildeten sie als Werkstätten die so genannten „Kinderläden“, in denen sie gemeinsam ihre Erziehungsprobleme besprachen und reihum die Kinder in Gruppen zusammenfassten, die sie alternierend betreuten. (...)

Der bemerkenswerte Grundgedanke der jungen Eltern, in der großen Mehrzahl Studenten, lautete: Wir müssen bei uns selbst und unserem Erziehungsverhalten anfangen, wenn wir eine solidarischere Gesellschaft schaffen wollen. (...) Die studentischen Eltern haben diese Arbeit mit großer Leidenschaft betrieben. (...)

Ich selbst wandte mich bereits Anfang der 60er Jahre entschlossen der Familientherapie zu. Als Vater von drei Kindern, die 1946, 1948 und 1950 geboren waren, erkannte ich auch bei mir die Anlage zu unbewussten Voreingenommenheiten und erzieherischen Erwartungen, die mit meinen eigenen Konflikten zusammenhingen. Also sah ich mich in der Praxis nicht länger einseitig mit leidenden Kindern identifiziert, sondern genauso mit Eltern, die berechtigt waren, mit ihren eigenen an den Kindern ausagierten Problemen ernst genommen zu werden. (...)

Die Hochkonjunktur der Familien- wie der Gruppentherapie in jenen Jahren verdankte sich dem Zeitgeist. Man sprach plötzlich von psychosozialer Gesundheit und rechnete dazu Beziehungsfähigkeit, Gemeinschaftsfähigkeit, sozialen Verantwortungssinn. Der Begriff „psychosozial“, den ich für die Begründung einer neuen Zeitschrift verwandte, wurde damals geboren. Solidarität war noch keine abgedroschene Vokabel, sondern ein zugkräftiges gesellschaftliches Lernziel.

Seelische Unterernährung

Aber die soziale Bewegung ermattete. In den periodischen Wiederholungen repräsentativer Untersuchungen stellten Elmar Brähler und ich fest, dass sich in der Einstellung der Westdeutschen eine egozentrierte Haltung bei gleichzeitiger Verminderung sozialer Sensibilität verstärkte.

Im Giessen-Test ermittelten wir bei unseren periodischen Erhebungen einen durchschnittlichen Trend der Westdeutschen zu stärkerer Ich-Bezogenheit und einen Rückgang der Sorge um andere. In Amerika fand der führende Narzissmusforscher Heinz Kohut, dass die Eltern neuerdings ihre Kinder nicht mehr über- sondern unterstimulierten und in ihnen Gefühle von Einsamkeit und Leere auslösten. Wörtlich stellte er fest: „Die Umgebung, die (von den Kindern) bisher als bedrohlich nah erlebt wurde, wird jetzt mehr und mehr als bedrohlich fern erlebt.“ Kohut sprach von der „seelischen Unterernährung“ vieler Kinder, die keine Eltern mehr hätten, die in Anteilnahme am Wachstum ihrer Sprösslinge Erfüllung fänden.

Eine Erklärung bot der amerikanische Soziologe Richard Sennett an. (...) Die Unstetigkeit der Wirtschaft mit einem dynamischen Markt, der nicht mehr erlaubt, dass man längere Zeit die gleiche Sache und auf die gleiche Art tun kann, fragmentiert das Leben der Menschen, die sich auf nichts Langfristiges mehr einlassen können. (...) Sennett resümiert: „Vielleicht ist die Zerstörung des Charakters eine unvermeidliche Folge. Wenn es nichts Langfristiges mehr gibt, des-orientiert das auf lange Sicht jedes Handeln, löst die Bindung von Vertrauen und Verpflichtung und untergräbt die wichtigsten Elemente der Selbstachtung.“ (...)

Es erscheint demnach nur konsequent, wenn diese Unverlässlichkeit der Verhältnisse sich auch schon auf die Kinder auswirkt, zusätzlich zu den genannten Bedrohungen durch die Unfriedlichkeit und die Umweltprobleme. Wie soll ein Bewusstsein von Verantwortung wachsen, (...) wenn man nicht einmal für das eigene Sein eine verlässliche Basis finden kann? Man erwartet von der Pädagogik, dass sie Kinder in ihrer Gemeinschaftsfähigkeit, in ihrer Vertrauenswürdigkeit und daher auch in ihrer Vertrauensbereitschaft fördert. Aber wie kann das geschehen, wenn die Kinder in ein wirtschaftliches System hineinwachsen, von dem der Ex-Manager von VW, Daniel Goeudevert, sagt, „dass es sich von allen gesellschaftlichen Bindungen und Bändigungen befreit hat außer von der nur beschränkt haftenden Gesellschaft der Aktionäre“?

Sennetts Buch erschien 1998, und seine düstere Analyse schien zu dem psychologischen Durchschnittsprofil, das wir von den Westdeutschen 1994 erhoben hatten, ziemlich genau zu passen. Seit den 70er Jahren hatte sich bei den Menschen in unseren Testbefunden das Bedürfnis zurückgebildet, sich um andere Menschen zu kümmern. Überhaupt waren sie den anderen ferner gerückt, verspürten weniger Verbundenheit, gaben anderen weniger von sich preis. Es sah so aus, als spiegelte sich die soziale Kälte der ökonomischen Strukturen in ihrer Gefühlsverarmung wieder. Der Ego-Kult erreichte seinen Höhepunkt.

Personalisierung der Kurzfristigkeit

Soziologisch hatte das klassische Familienmodell seine Dominanz eingebüßt. Nur noch die Hälfte der Familien lebt heute in einem traditionellen Familienverbund. Eineltern-Familien haben in den letzten 20 Jahren um 37 Prozent zugenommen. Mutterschaft tritt später ein. (...)

Seit 1965 ist die Zahl der lebend geborenen Kinder von 2.500 pro 1.000 Frauen bis unter 1.500 im Jahre 2000 abgesunken. Die vielfältigen sozialstrukturellen Gründe sind allbekannt. (...) Zugleich lässt sich indessen bei Teilen der jüngeren Generation ein Festhalten an einer egozentrischen Mentalität erkennen, wovon ein unlängst erschienenes erfolgreiches Buch Zeugnis ablegt. Ich meine den Band: „Morgen tanzt die ganze Welt - die Jungen, die Alten und der Krieg“ von Christoph Amend. Amend beschreibt seine Generation der etwas über 30-Jährigen, wie er sie im Berlin dieser Tage erlebt (...).

Er zeichnet einen Typ von Anfang 30-Jährigen, der sich, wenn er recht hat, gegen das Erwachsenwerden sträubt. (...) Jede engere Bindung ist eine Falle, die scheinbar Freiheit raubt. Oberflächlich hält man sich viele herrliche Möglichkeiten offen. Aber genau besehen ist es ein Stillstand. Kinder zu bekommen heißt nicht, das eigene Leben durch das Sorgen für ein neues zu erweitern, sondern das eigene einzuengen, allenfalls eine Ablenkung von eigener Leere zu suchen. Was Amend schildert, wirkt wie die Personalisierung der Kurzfristigkeit, die Sennett als Merkmal der modernen Ökonomie beschreibt. Eine Flexibilität, die durch Kinder gestört würde. Denn Kinder brauchen langfristige Verlässlichkeit, die normalerweise mit dem Eintritt in die Erwachsenheit erworben werden sollte.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Ich wage keine Prognose zu stellen, ob der Mut der jungen Generation angesichts der aufgekommenen Globalisierungsängste ausreichen wird, sich nicht nur wieder mehr Nachwuchs zu wünschen, sondern ihn auch zu erzeugen und ihm dann auch gebührende Entwicklungschancen einzuräumen. Ich stoße hier auf einen Punkt, der aber Thema eines gesonderten Vortrags wäre. Nämlich auf die Frage, bis zu welchem Grade unsere Erwachsenen-Gesellschaft überhaupt im Durchschnitt ausreichende psychische Erwachsenheit erreicht hat, um auf die anspruchsvolle Aufgabe der Partnerschaft mit Kindern genügend vorbereitet zu sein. (...) Genau dies ist doch in unserem Beruf eine alltägliche Erfahrung, dass Erwachsene mit sich selbst noch gar nicht fertig sind und sich deshalb entweder keine Kinder anschaffen oder, wenn sie es doch tun, diese teils bewusst oder unbewusst zu stark auf die eigenen Interessen ausrichten. Dazu möchte ich am Ende die ernst gemeinte Voraussage des britischen Philosophen Birnbacher erwähnen, der diese Einstellung nicht nur gutheißt, sondern ihr sogar ein neues praktisches Betätigungsfeld verspricht.

Er plädiert ganz ungeniert für das Recht von Eltern, sich demnächst nach In-Vitro-Fertilisation mit Hilfe prädiktiver gentechnischer Diagnostik Kinder mit Wunschmerkmalen auszusuchen oder sogar eventuell entsprechend herrichten zu lassen. Begründung: Eltern lebten im Durchschnitt über zwanzig Jahre mit einem Kind zusammen. Weshalb sollte es ihnen verwehrt sein, sich einen passenden kindlichen Partner auszuwählen? In liberalen Gesellschaften könne jeder für eine Ehe oder eine Lebensgemeinschaft ja auch frei bestimmen, mit wem er sich zusammentun wolle. (...) So entstünden dann Wunschkinder in einem neuen Sinn, also nicht mehr heimlich, sondern ganz offen zu elterlicher Bedürfnisbefriedigung für die zwanzig Jahre des Zusammenlebens instrumentalisiert. Es wäre der definitive Beweis für eine mangelnde Erwachsenheit und Verantwortungsschwäche unserer Zivilisation neben den sonstigen Symptomen wie Abkoppelung der Armen von den Globalisierungsgewinnen, der Wahnsinns-Rüstung und der mangelhaften Umwelt-Fürsorge.

Bei Einladungen in Schulen, die sich bei mir in letzter Zeit häufen, stelle ich allerdings ein sehr waches Interesse der 15- bis 20-Jährigen an den Ideen der globalisierungskritischen Bewegung fest. So könnte es ja doch sein, dass sich doch noch ein Aufstieg zu einem höheren Verantwortungsbewusstsein vorbereitet. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Presse & Kommunikation (Stand: 06.09.2024)  | 
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