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Erklärungen werden fast zu Rechtfertigungen
Rassismen in der Mitte der Gesellschaft geraten damit leicht aus dem Blickfeld / Von Rudolf Leiprecht *
„Gegen Rechtsextremismus und Diskriminierung – Demokratie lernen“ lautete das Thema der von der Stadt Oldenburg, der Universität Oldenburg und der KGS Rastede getragenen Tagung im Kulturzentrum PFL. Sie fand am 11. März 2007 statt, dem Tag, an dem die NPD ihren Parteitag im PFL austragen wollte. Das war ihr von der Stadt untersagt worden. Über den „Umgang mit Rassismus im Alltag“ sprach auf der Gegenveranstaltung Prof. Rudolf Leiprecht. Einen Artikel zum Thema veröffentlichte er im vergangenen Jahr unter der Überschrift „Zum Umgang mit Rassismen in Schule und Unterricht“.
Im Herbst 1991 überfielen Jugendliche auf dem Wochenmarkt in Hoyerswerda die Stände von mehreren aus Vietnam stammenden Händlern. Sie prügelten auf die Verkäufer ein und zerstörten ihre Stände. Von dort aus zogen sie weiter in die Neustadt, wo sie in den nächsten Tagen drei Asylbewerberheime belagerten. Hunderte von MittäterInnen gesellten sich in den nächsten Tagen zu ihnen, Parolen wurden geschrieen, Steine, Leuchtkugeln und Brandsätze gegen die Gebäude geworfen. Das Ganze dauerte sechs lange Tage und Nächte. Hunderte von AnwohnerInnen standen am Ort des Geschehens, klatschten Beifall und feuerten die Täter an. Diese Ereignisse in Hoyerswerda wurden zu einem Sinnbild für gewalttätigen Rassismus. Allerdings ist die sächsische Kleinstadt nicht der einzige Ort in Deutschland, der mit gewalttätigem Rassismus verbunden ist: Mölln, Rostock Lichtenhagen, Solingen, Dessau, Hünxe und viele andere Orte gehören dazu. Es würde sich leider eine sehr lange Liste ergeben, wollte man all die Orte in Ost- und Westdeutschland notieren, in denen massive und brutale rassistische Gewalttaten stattfanden …
Die Statistiken zeigen für den Beginn der 1990er Jahre eine erste große Eskalation. Nach 1993 sinkt die Anzahl registrierter Gewalttaten wieder, bewegt sich aber zwischen 1994 und 1999 auf hohem Niveau, und für das Jahr 2000 ist ein weiterer deutlicher Anstieg mit 670 registrierten Gewalttaten festzustellen. Danach sinken die Zahlen wieder, doch insgesamt meldet auch nach der Jahrtausendwende die amtliche Statistik jährlich Gewalttaten in großem Umfang.
Während die erste Eskalation Anfang der 1990er Jahre noch öffentlich skandalisiert wurde – erinnert sei an die Lichterketten, Anzeigenkampagnen, Mahnwachen und Großdemonstrationen im Winter 1992 – war das Ausmaß der Empörung zwischen 1999 und 2000 schon deutlich geringer. Und auf den Umfang der Gewalt in den Jahren 2002 bis 2004 – doch kaum weniger amtlich registrierte Gewalttaten als noch 1991 – scheint die Öffentlichkeit eher mit Desinteresse zu reagieren. Offenbar haben sich viele, die nicht unmittelbar betroffen sind, an die hohe (amtlich festgestellte und jährlich publizierte) Zahl rassistischer Gewalttaten gewöhnt. Nun ist diese Statistik recht ungenau und kann allenfalls einen provisorischen Eindruck vermitteln. Dies liegt teilweise an mehrfachen Änderungen (und Verbesserungsversuchen) der polizeilichen Erfassungssysteme und Meldedienste. Doch ganz abgesehen davon werden viele rassistische Gewalttaten nicht von der offiziellen Statistik erfasst, zum Teil deshalb, weil nur die tatsächlich zur Anzeige gebrachten Taten registriert werden. Es ist zu vermuten, dass bei Aufklärung der Dunkelziffer der festgestellte Umfang rassistischer Gewalt noch viel höher ausfallen würde …
Doch auch wenn an einem engen Gewaltbegriff festgehalten wird, erweist sich die amtliche Statistik als unzuverlässig. Dies zeigt recht deutlich eine Bilanz über den Zeitraum von 1990 bis 2000, die im Sommer 2000 gemeinsam von zwei Tageszeitungen (Frankfurter Rundschau und Der Tagesspiegel) in Auftrag gegeben und veröffentlicht wurde. Im Unterschied zur offiziellen Statistik, die für diesen Zeitraum 33 Todesopfer meldete, dokumentierte die gründlich recherchierte und sehr gut belegte Chronik der beiden Zeitungen bereits 93 Todesopfer ...
Verharmlosende Erklärungsmodelle
Wenn von Rassismus gesprochen wird, stehen meist die gewalttätigen und extremen Formen im Vordergrund. Dabei wird oft eher von den Tätern und weniger von den Opfern der rassistischen Gewalt gesprochen. Dies mag m. E. seine Berechtigung haben, wenn nach Erklärungen für die Gewalt und Ansatzpunkten zur Bekämpfung gesucht wird. Es fällt jedoch auf, dass Erklärungen im Mediendiskurs häufig dazu neigen, zu Verharmlosungen, ja fast schon zu Rechtfertigungen zu verkommen: Eine prominente Figur ist hier die des arbeitslosen Jugendlichen, der Schwierigkeiten in seiner Schullaufbahn hatte und ohne Zukunftsperspektive, ohne Halt, verunsichert und orientierungslos in der Welt steht. Seine Motive und seine Verirrungen stehen im Vordergrund. Damit konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf ein Erklärungsmuster von Rassismus, das für bestimmte Fälle zwar Gültigkeit haben kann, durch seine Verallgemeinerung und Dominanz jedoch alle anderen Fälle aus der Wahrnehmung verdrängt. Rassismen in der Mitte der Gesellschaft – bei Erwachsenen, bei sozial gut Abgesicherten, bei Gebildeten, bei PolitikerInnen, bei LehrerInnen, bei JournalistInnen, bei WissenschaftlerInnen usw. – geraten aus dem Blickfeld.
Angesichts dieser öffentlich verbreiteten Erklärungsfigur ist es wichtig, auf eine Beobachtung hinzuweisen, die bei meinen Forschungen zu Rassismus immer wieder auffällt: Es etabliert sich ein Kreislauf zwischen Forschenden, Medienberichten und Beforschten. Auf der Grundlage von Ergebnissen aus quantitativen Fragebogenuntersuchungen oder qualitativen Interviews beliefern WissenschaftlerInnen mit den oben genannten Erklärungen (Arbeitslosigkeit, Verunsicherung, Zukunftsängste etc.) den Mediendiskurs. Bestimmte Jugendliche greifen solche Erklärungsmuster aus den Medien auf (u.U. vermittelt über Eltern, Schule, Freundeskreis usw.) und die ForscherInnen der nächsten Studie treffen auf Jugendliche, die ihnen genau solche Aussagen präsentieren. Wenn die ForscherInnen sich nicht von der Oberflächenstruktur der Aussagen lösen, verdoppeln sie die inhaltliche Qualität dieser Aussagen – jetzt allerdings mit wissenschaftlicher Autorität ausgestattet – in ihren Forschungsergebnissen, die wiederum an die Medien vermittelt werden. Ein neuer Kreislauf kann beginnen. Machen sich ForscherInnen allerdings die Mühe, genauer nachzufragen – was ja eigentlich die Aufgabe von Forschung wäre – dann zeigt sich häufig: Viele Jugendliche, die sich abwertend und ausgrenzend gegenüber Eingewanderten und Flüchtlingen äußern, sind selbst weder arbeits- noch orientierungslos noch ohne Zukunftsperspektiven. Trotzdem benutzen sie das Argument – und zwar als eigenes Motiv präsentiert – weil es überall zu hören ist und sie auf diese Weise hoffen können, Verständnis für ihre ablehnende Haltung gegenüber Flüchtlingen und Eingewanderten zu finden …
Umgang mit extremen Rassismen in der Schule
Die Schule ist einerseits zwar ein Ort des Lernens und der Entwicklung, andererseits auf Sortierung, Beurteilung und die kontinuierliche Homogenisierung von Lerngruppen (Jahrgangsstufen, Schulklassen) ausgelegt, wobei die Selektionsresultate den Betroffenen als Ausdruck natürlicher Begabungsunterschiede erscheinen. Zudem ist im Durchschnitt eine Benachteiligung von SchülerInnen mit Migrationshintergrund festzustellen, und die institutionellen Strukturen an der Schule – etwa in Bezug auf Hierarchisierung des Personals entlang von Merkmalen wie Geschlecht und Herkunft – entsprechen meist weitgehend denen der Gesellschaft.
Gleichzeitig sind subjektorientiertes und lebensweltbezogenes Lernen und eine Partizipation bei der Bestimmung von Lerngegenständen eher die Ausnahme, hoher Leistungsdruck und hierarchische Verhältnisse eher die Regel. Lernwiderstand kann hier eine nahe liegende Reaktion der SchülerInnen sein. Ein Aufbegehren gegen die Zumutungen der Schule kann sich hier im ungünstigen Fall mit offen rassistischen und gar gewaltbereiten Haltungen verbinden, die auf eine mit Aufklärung und Toleranz argumentierende Lehrerschaft provozierend wirken mögen und entsprechenden SchülerInnen gerade deshalb als ein besonders geeignetes Mittel erscheinen dürften
Das vorherrschende „Klima“ und die Realitäten in einer Schule in Bezug auf den alltäglichen Umgang miteinander sind jedoch wichtig: „Schwächere“ müssen auf jeden Fall geschützt werden (in der Klasse, auf dem Schulhof, auf dem Nachhauseweg usw.). Das Gefühl von Sicherheit ist für alle an der Schule Beteiligten elementar. Um dies zu erreichen, muss man konsequente Haltungen zeigen und kommt u.U. um Verbote nicht herum, wobei Verbote zu widersprüchlichen Effekten führen können, auf die in jedem Fall zu achten ist: Offene Rassismen geraten möglicherweise in den Untergrund und scheinen auf der Oberfläche verschwunden, wirken jedoch hier nach wie vor, ja können sich den Anstrich des Geheimnisvollen und Rebellischen geben. Reaktionen sollten konsequent, aber auf jeden Fall „verhältnismäßig“ sein …
Vermeiden: Starre Täter-Opfer-Konzepte
Die Verhältnisse in einer Schulklasse in Bezug auf Dominanz und Macht müssen nicht stets den gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen entsprechen. Beispielsweise kann die interaktiv-dominierende Gruppe in einer Schulklasse durch Jugendliche aus eingewanderten Familien repräsentiert werden. Wenn nun in einer solchen Schulklasse Jugendliche der Mehrheitsgesellschaft, die sich vielleicht in der Klasse zahlenmäßig in der Minderheit befinden, von der interaktiv-dominierenden Gruppe drangsaliert und mit Gewalt bedroht werden, und wenn gleichzeitig in den Konzepten der LehrerInnen nur die Jugendlichen der Mehrheitsgesellschaft als potenzielle oder tatsächliche rassistische TäterInnen vorkommen, fühlen sich die bedrohten Jugendlichen zurecht in ihrer alltäglichen Realität nicht ernst genommen. Da zudem beim Thema Rassismen leider das gesamtgesellschaftliche und strukturelle Niveau oft kaum angesprochen wird und die Auseinandersetzung auf der interaktiven und individuellen Ebene verbleibt, wird mit dem augenscheinlich unzutreffenden Täter-Opfer-Konzept der PädagogInnen auch gelernt, dass es mit den Rassismen „draußen in der Gesellschaft“ wohl „nicht so schlimm“ sein kann und die Jugendlichen mit Migrationshintergrund vermutlich „völlig unbegründet“ und sich „zu unrecht“ über mangelnde Zukunftschancen und Benachteiligungen beklagen, während sie „vor Ort“ doch ganz offensichtlich „das Sagen haben“.
Ein weiterer wichtiger Merkpunkt liegt in der Tatsache, dass vorherrschende Rassismen der Mehrheitsgesellschaft auch von Angehörigen eingewanderter Gruppen oder von Minderheiten vertreten werden können und verschiedene Rassismen in konkreten Konstellationen auch gegeneinander gerichtet sein können (etwa Antisemitismus versus Antiislamismus). Gegen Rassismen zu arbeiten kann auch bedeuten, beispielsweise mit Jugendlichen zu arbeiten, deren Eltern oder Großeltern aus der Türkei eingewandert sind und die gegenüber Jugendlichen aus Aussiedlerfamilien stereotype Negativ-Bilder (re-)
produzieren und sich ausgrenzend verhalten. Dasselbe gilt auch umgekehrt. Dies ist zweifellos eine komplizierte Angelegenheit, da gleichzeitig auch die Erfahrungen, die diese Jugendlichen mit den vorherrschenden Rassismen der Mehrheitsgesellschaft machen, themati-siert werden müssen …
Ansätze, die in pädagogischen Arbeitsfeldern präventiv gegen Rassismus vorzugehen versuchen, haben es nicht einfach, wenn gleichzeitig in Politik und Medien massive Bedrohungsszenarien gegenüber Eingewanderten produziert und dichotome Polarisierungen nach dem Muster Abendland/christlich/modern versus Morgenland/islamisch/rückständig unterstützt werden; Polarisierungen, die auf beiden Seiten keine Unterschiede zulassen, sondern nur noch einheitliche und statische Größen sehen wollen. Wenn wir nach den vielfältigen Ursachen für die verschiedenen Formen von Rassismen fragen, wird deutlich, dass genau solche Diskurse in besonderer Weise mitverantwortlich sind. Allerdings zeigen diese Negativ-Bilder, gekoppelt mit einseitigen Zuschreibungen, unnuancierten Darstellungen und kulturalisierenden Logiken, wie wichtig eine präventive Arbeit ist ...
Aus: Leiprecht, Rudolf und Kerber, Anne (Interdisziplinäres Zentrum für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen) (Hg.) (2006): „Schule in der Einwanderungsgesellschaft“. Schwalbach im Taunus: Wochenschau-Verlag. S. 317-345
*Prof. Rudolf Leiprecht ist Mitglied des Interdisziplinären Zentrums für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen an der Universität Oldenburg.