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Inhalt 5/2009

Thema


"Zärtlichkeit inmitten brutalster Gewalt"

Poetikprofessor Lutz von Dijk über sich, seine historischen Bücher und Jugendliche, die in der NS-Zeit aufwuchsen und überlebten

Dr. Lutz van Dijk (Foto) hat 2009 die Poetik-Professur für Kinder- und Jugendliteratur der Uni-versität Oldenburg inne. Sie wurde zum vierten Mal vom Institut für Germanistik und der Forschungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur (OlFoKi) vergeben und von der EWE Stiftung gefördert. Van Dijk wurde 1955 in Berlin geboren und lebt heute in Kapstadt (Südafrika). Er war mehrere Jahre Lehrer in Hamburg und Mitarbeiter der Anne Frank Stiftung in Amsterdam. 2001 gründete er zusammen mit der Südafrikanerin Karin Chubb die Stiftung HOKISA (Homes For Kids In South Africa), mit der Waisen und HIV-infizierte Kinder und Jugendliche in Südafrika unterstützt werden. Van Dijks Bücher zu den Themen Holocaust, Faschismus und Widerstand, Homosexualität sowie Afrika richten sich vor allem an Jugendliche und stellen Minderheiten in den Mittelpunkt. Sie wurden in mehrere Sprachen übersetzt und erhielten diverse Auszeichnungen. „Damals“ hat er die erste von drei Vorlesungen über schrieben, die er Anfang Mai im Rahmen seiner Poetik-Professur an der Universität hielt. UNI-INFO gibt sie in Auszügen wieder und beginnt mit einem Zitat aus van Dijks Einleitung zu seiner „Geschichte der Juden“:

Ein deutscher Junge, einer von vielen in einer einfachen Neubau-Mietshaussiedlung, wo es ziemlich schlimm war, als ich mit neun Jahren eine Brille bekam und nicht mehr Fußball spielen durfte. Noch schlimmer aber waren häusliche Konflikte der Eltern daheim, die uns Kinder liebten und alles für uns gaben, aber aneinander und vor allem an den vielen Schrecken des als Jugendliche erlebten Krieges litten, ohne eine Sprache dafür finden zu können. Seit ich zwölf war, wollte ich aufbrechen in die weite Welt, was immer das sein mochte.

Mit achtzehn Jahren, nach einigen vergeblichen Versuchen, stand ein gewaltiger Plan: Ich würde von Berlin nach New York gehen. Warum New York? Weil es weit weg war, das Weiteste, das ich mit meinem neben der Schule verdienten Geld bezahlen konnte. Das billigste One-Way-Ticket gab es damals von Brüssel aus. Bis Hannover nahm mich ein Freund auf dem Motorrad mit. Dann ein Stück mit dem Zug und den Rest getrampt.

In New York fand ich keine Arbeit. Die erschummelte Arbeitserlaubnis verhalf mir im Bundesstaat Pennsylvania, in einer kleinen Stadt zwei Autostunden von New York, zu einem Job als Busfahrer. Dort begann ich, mein Schulenglisch zu erproben, die deutsche Aussprache unüberhörbar. Vor allem einige ältere Frauen gehörten zu meinen Stammkunden. Die Älteste von ihnen, eine kleine grauhaarige Dame mit rotlackierten Fingernägeln, steckte mir beinah täglich ein paar Münzen, zuweilen sogar eine zusammengefaltete Dollarnote in die Brusttasche meiner Uniformjacke. Nach etwa einer Woche erkundigte sie sich nach meinen Namen. Nach drei Wochen gab sie mir eine Telefonnummer und fragte, ob ich sie nicht mal nach der Arbeit anrufen wolle.

Ich tat es am gleichen Abend. Wir trafen uns in einem Café ganz in der Nähe der Endhaltestelle. Ich hatte ihr eine Blume mitgebracht. Sie bestand darauf, die Getränke zu bezahlen. Dann schwiegen wir. Nach einer ganzen Weile zog sie ihren linken Ärmel hoch und ließ eine fünfstellige eintätowierte Nummer sehen. ‚Weißt du, was das ist?‘, fragte sie in Deutsch ohne jeden Akzent.

Ich wusste es und erschrak. So etwas hatte ich bisher allein im Geschichtsbuch auf grauschwarzen Fotos gesehen, gleich neben den Aufnahmen von Bergen ausgemergelter, nackter Leichen. Ich nickte, aber brachte kein Wort heraus. Auch sie schwieg wieder längere Zeit. Endlich fragte ich unsicher: ‚Aber hassen Sie mich nicht? Ich bin doch ein Deutscher!‘

‚Nein‘, antwortete sie. ‚Ich habe dich treffen wollen aus einem sehr egoistischen Motiv – ich wollte so gern noch einmal meine Muttersprache benutzen mit einem jungen Deutschen, der nach allem geboren wurde. Ich brauche das, ohne es dir näher erklären zu können.‘

Spontan entgegnete ich: ‚Aber ich bin nicht besser als meine Eltern.‘
‚Wie alt war dein Vater, als Hitler an die Macht kam?‘
‚Fünf.‘
‚Dann war er elf Jahre, als der Krieg begann‘, fuhr sie fort. ‚War er noch Soldat?‘
‚Ja, im letzten Jahr, mit gerade sechzehn.‘
‚Da war ich im zweiten Jahr in Auschwitz‘, sagte sie und streifte den Ärmel wieder hinunter.
Ich traf Mrs. Goldblum noch vier Mal in diesem Café nach meiner Arbeit. Sie begann mir ihre Geschichte der Juden zu erzählen, die vom Stammvater Abraham direkt zu Moses führte, ‚dem ersten Aufklärer.‘
‚Dem biblischen Moses?‘
Sie lachte. ‚Nein, dem großen Moses Mendelssohn in Preußen!‘ Von dort ging es in unmittelbarer Linie weiter zu Sigmund Freud und Martin Buber… Aber da verlor ich meinen Job als Busfahrer und musste zurück nach New York. Sie gab mir eine Anschrift zum Abschied, an die ich mehrfach schrieb, aber niemals mehr eine Antwort erhielt. Erst Jahre später erfuhr ich durch einen Zufall, dass sie kurz nach unserem letzten Treffen an einem Herzschlag verstorben war.

Mrs. Goldblum hatte mich neugierig gemacht. Ich werde sie niemals vergessen.“

Herschel Grynszpan

Beim Quellenstudium in Hannover stieß ich auf die Geschichte des dort 1921 geborenen, aus einer polnisch-jüdischen Arbeiterfamilie stammenden Herschel Grynszpan, dessen Attentat auf einen hohen Beamten der deutschen Botschaft in Paris den Nazis zum Vorwand für das Auslösen der Pogromnacht vom 9. November 1938 wurde. Er war in die Botschaft eingedrungen, um gegen die Verschleppung seiner Eltern und anderer polnischer Juden aus Deutschland zu protestieren. Dass er von den Nazis als „feiger Mörder“ bezeichnet und zum „Handlanger des Weltjudentums“ stilisiert wurde, entsprach damaliger offizieller Diktion. Dass er jedoch auch nach dem Krieg ohne jede Differenzierung als „arbeitsscheues Subjekt“ und noch in einem aktuellen Lexikon als „offensichtlich verhaltensgestört“ bezeichnet wurde, weckte meinen Widerspruch.

Herschel Grynszpans Attentat lieferte den Nazis den Vorwand für die Pogromnacht vom 8. November 1938.
Foto: Bundesarchiv

Allein aus dem Impuls mir vorzustellen, wie er auf die Vorwürfe möglicherweise antworten würde, wenn er die Chance dazu erhielte, ließ mich meinen Historikerkollegen nicht in einem Aufsatz für eine Fachzeitung antworten, sondern eine fiktiv aus seiner Sicht geschriebene Darstellung seines Lebens und der Ereignisse um den November 1938 in Paris verfassen. Als eine Kollegin aus dem Rowohlt Verlag Teile des Manuskripts las, war sie überzeugt: „Das ist ein Jugendbuch!“ Tatsächlich erschien es rechtzeitig zum 50-jährigen Gedenken an die Pogromnacht 1988 in der renommierten rotfuchs-Reihe und wurde wenig später für den hiesigen Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis 1989 nominiert.
Hirsch Glik

Bereits während meiner Recherche für das Buch über Herschel Grynszpan war ich in Israel-Palaestina gewesen, wohin die Eltern und der Bruder des Jungen nach dem Krieg hatten emigrieren können. 1989 kehrte ich dorthin für einige Monate zurück, um an einem zweiten historischen Jugendbuch zu arbeiten – über den jungen jüdischen Dichter Hirsch Glik (ca. 1922-1944), dessen Partisanenhymne „Wir leben ewig“ bis heute zu den wichtigsten Liedern des jüdischen Widerstands gehört.

Hirsch Glik ist eigentlich ein Anti-Held, niemand, der gern eine Waffe trägt, sondern viel lieber poetische Gedichte schreibt, Zärtlichkeit inmitten brutalster Gewalt zu formulieren vermag.

Er kommt aus ärmsten Verhältnissen, Vater und Mutter können kaum lesen oder schreiben. Aber er entdeckt für sich die Kraft des Wortes und vermag Sehnsüchte vieler Gleichaltriger auszudrücken. Im Februar 1939, mit 16 Jahren und noch Monate vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, ahnt er bereits die aufkommende Gefahr. Er schreibt das Gedicht „Simson“, so benannt nach dem biblischen Helden. Zeitzeugen berichten, dass viele Jugendliche in Wilna es auswendig konnten.

Cilly Peiser

Bei den letzten beiden historischen Jugendbüchern, die ich Ihnen heute vorstellen möchte, hatte ich das Privileg, mit den jeweiligen Hauptfiguren, die die Schrecken der NS-Zeit überlebt hatten, gemeinsam arbeiten zu können. Im Falle von Cilly Peiser (*1925) hatte mich das Jüdische Museum Frankfurt/M. angesprochen, ob ich mir vorstellen könnte, ihre Geschichte bewusst als Jugendbuch zu gestalten. Ich erinnere mich gut, wie wir beim ersten Treffen in einem Frankfurter Hotel – beide noch vorsichtig – vor allem mögliche Hindernisse besprachen. Aufgrund ihrer schnörkellosen Ehrlichkeit und ihrer pädagogischen Einfühlsamkeit (sie therapierte damals mit über 75 Jahren noch regelmäßig Schüler mit Lese-Rechtschreib-Schwäche in Kooperation mit der Kinderklinik Offenbach) brach das Eis jedoch schnell. Ich war bald überzeugt, dass ihre Biografie tatsächlich etwas Neues zur inzwischen doch erheblich angewachsenen NS-Erinnerungsliteratur beitragen könne. Anders als Anne Frank hatte sie nicht nur die NS-Zeit überlebt, sondern auch, völlig auf sich allein gestellt in einem fremden Land und selbst noch ein Kind, die Sorge für ihre jüngere Schwester getragen.

Unmittelbar nach der Pogromnacht 1938 gelingt es ihrer alleinerziehenden Mutter, die dreizehnjährige Cilly und ihre kleine Schwester Jutta, gerade zehn, auf einen Transport ins scheinbar sichere Holland zu schicken. Es ist das letzte Mal, dass sie die geliebte Mutter und den jüngsten Bruder sieht, die später ermordet werden. An das erste Aufwachen im Amsterdamer Waisenhaus erinnert sie sich so:
„Am nächsten Morgen wusste ich erst gar nicht, wo ich war. Erst allmählich wurde mir bewusst, wie weit weg wir waren von daheim und dass Jutta und ich ganz allein waren. So allein. Nach dem Frühstück durfte jeder, der wollte, eine Karte… schreiben. Ich schrieb:

Liebe Mama!
Wir sind gut angekommen in Holland. Die Fahrt war sehr schön. Immer am Rhein entlang. Die Leute hier sind sehr nett. Auch das Essen ist gut. Bitte mache dir keine Sorgen. Liebe Grüße von deiner Cilly.
Und Jutta kritzelte auch noch irgendeinen Satz dazu. Das war natürlich alles gelogen. Die Fahrt über hatte ich mich nur elend gefühlt, zum Rhein hatte ich gar nicht hingeschaut, und von dem Essen ganz zu schweigen. Wahrscheinlich wollte ich Mutter einfach nur beruhigen. Denn ich dachte, genau so eine Karte würde sie vermutlich am meisten freuen.“

Während der Arbeit am Manuskript offenbarte Cilly schließlich etwas, das sie über Jahrzehnte belastet hatte, aber das sie niemals gewagt hatte auszusprechen: 1943 wird sie von einem der niederländischen Helfer, der ihr ein Versteck gewährt hatte, mit 17 Jahren sexuell missbraucht. Lange zögert sie, ob diese Wahrheit auch ins Buch aufgenommen werden dürfe. Schließlich entscheidet sie sich dafür: „Auch diesem Mann, wie so vielen anderen, verdanke ich mein Leben. Aber er hat die Situation und mich ausgenutzt. Es ist so wichtig, dass wir lernen, dass es nicht nur gut oder böse gibt, sondern dass Menschsein bedeutet, beides in sich zu haben und wir immer wieder genau hinschauen müssen.“

Stefan Kosinski

Den Hinweis auf Stefan Kosinski (1925-2003) verdanke ich einem Historikerkollegen, der auf Briefe aufmerksam geworden war, die Stefan in den 1980er Jahren an den damaligen Bundeskanzler Kohl mit der Bitte um Entschädigung gesandt hatte, nachdem er im polnischen Fernsehen gesehen hatte, dass die Bundesregierung einen Fonds für die sogenannten „vergessenen Opfer“ des NS-Regimes geschaffen hatte. Ich schrieb damals einen höflichen Brief an ihn nach Warschau und bekam umgehend eine Einladung. Als ich wenige Wochen später mit dem Zug auf dem Warschauer Zentralbahnhof eintraf, schaute ich mich nach einem älteren grauhaarigen Herrn in langem Wintermantel mit einer Blume und einer Tageszeitung unter dem Arm um. So hatte er sich selbst beschrieben, um in der Menschenmenge leicht erkannt zu werden. Von mir hatte er ein Foto erhalten, er selbst hatte keines schicken wollen. Kaum war ich ausgestiegen, kam ein älterer Herr auf mich zu und umarmte mich herzlich – mit Halbglatze in heller Jacke ohne Zeitung oder Blume. In gutem Deutsch mit nur leicht polnischem Akzent rief er freudig: „Mein Mantel ist noch in der Reinigung, und ich war zu spät für Zeitung und Blume. Sie wissen gar nicht, was Ihr Besuch für mich bedeutet, Herr Doktor. Es ist die erste positive Reaktion um all mein Bemühen um Anerkennung in den letzten Jahren…“

Dieses „Herr Doktor“ behielt er die ersten Wochen standhaft bei, auch bei der folgenden intensiven Korrespondenz, für die er sich eigens eine gebrauchte Schreibmaschine kaufte. Erst beim zweiten Besuch viele Monate später entschied er sich für das „Du“ und begann alle Briefe von da an mit „Mein lieber Junge“. In der Tat wuchs in der Arbeit am Manuskript auch mit ihm eine besondere Freundschaft, die bis 2003, dem Jahr seines Todes im Alter von 78 Jahren, andauerte.

Stefan ist 14 Jahre, als 1939 mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen der Zweite Weltkrieg begann. Er ist sechzehn, als er sich in den wenig älteren deutsch-österreichischen Besatzungssoldaten Wilhelm Goetz verliebt. Als dieser Monate später weiter an die russische Ostfront verlegt wird und wochenlang keine Nachricht kommt, schreibt Stefan im August 1942 die folgenden Zeilen an seinen Geliebten über eine zentrale Wehrmachtsanschrift:

„Lieber Willi,
so lange habe ich von dir gar keine Nachricht. Ich mache mir so viele Gedanken darüber. Du fehlst mir so sehr. Ich denke jeden Tag an dich. Ich bin ständig in Gedanken bei dir. Ich bete jeden Tag, dass du gesund zurückkehrst.

Ich arbeite wie vorher auch am Theater, aber ich gehe nirgends aus. Auch nicht dort, wo wir uns getroffen haben. Ich bin dir treu und will es mein ganzes Leben lang bleiben. Bitte schreibe mir so schnell wie möglich, damit ich beruhigt sein kann. Ich kann nicht schlafen, ich denke immer nur an dich.

Ich grüße und küsse dich, dein Stefan.“

Gut einen Monat später muss er sich bei der örtlichen deutschen Geheimpolizei, der Gestapo, melden. Dort wird ihm sein Brief vorgelegt. Er wird verhaftet und nach schrecklichster Folter im Dezember des gleichen Jahres zu fünf Jahren Zuchthaus nach Paragraph 175 („Unzucht unter Männern“) verurteilt, die er in verschiedenen Straflagern Polens durchbringt. Gegen Kriegsende wird er auf einem der berüchtigten Todesmärsche in die Jugendstrafanstalt Hahnöfersand bei Hamburg verlegt, von wo aus er in den Wirren der letzten Kriegstage fliehen kann. Schwerkrank verbleibt er einige Zeit in einem Flüchtlingslager bei München, bevor er nach Polen zurückkehrt. Was aus seinem Geliebten Willi geworden ist, bleibt undeutlich. Der Gedanke, dass sein Brief den Geliebten eventuell der damals üblichen Todesstrafe bei Homosexualität in der Armee ausgeliefert haben könnte, quält ihn bis zu seinem Tode.

(Stand: 19.01.2024)  | 
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