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Bernhard Kittel

Gerd Hentschel

 

27. Mai 2014   209/14   Forschung

Ukraine: Wissenschaftler untersuchen Verhältnis von russischer und ukrainischer Sprache Neues Forschungsprojekt des Oldenburger Slavisten Prof. Dr. Gerd Hentschel / Mischsprache „Surzhyk“ im Fokus

Oldenburg. Worüber auch immer derzeit in der Ukraine gesprochen wird – die Wahrscheinlichkeit, dass der mündliche Austausch in einem ukrainisch-russischen Sprachengemisch stattfindet, ist sehr groß, besonders in der weiten Zentralukraine. „Surzhyk“ heißt diese Mischform, darin wechseln sich ukrainische und russische Elemente in kurzer Folge ab, oft auch innerhalb von einzelnen Sätzen und Wörtern. Genau diesem noch weitgehend unerforschten Sprachphänomen widmen sich WissenschaftlerInnen um den Oldenburger Slavisten Prof. Dr. Gerd Hentschel. Der volle Titel seines von der Fritz Thyssen Stiftung mit zunächst 150.000 Euro für zwei Jahre bewilligten Forschungsprojekts: „Variabilität und Stabilität im gemischten Substandard im extensiven und zeitstabilen Sprachkontakt: Der ukrainische Surzhyk zwischen Ukrainisch und Russisch“.

„Der Surzhyk ist in seiner Position zwischen Ukrainisch und Russisch von besonderer sprachsoziologischer Bedeutung“, erklärt Hentschel, der in den vergangenen Jahren mit Unterstützung der VolkswagenStiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mehrere Projekte zu Weißrussland und zur Ukraine durchgeführt hat. „Die wichtigste Frage ist: Verfügt der Surzhyk für bestimmte Teile der Bevölkerung über Identifikationspotenzial? Ist seine Verwendung gar Ausdruck einer subnationalen und subethnischen Identität?“

Die Frage ist brisant, besonders vor dem Hintergrund des seit Jahren schwelenden Sprachenstreits – der im ukrainischen Parlament gar physisch ausgefochten wurde. „Surzhyk ist im Grunde nichts anderes als eine Mischung aus Dialekten und der dominierenden Standardsprache“, sagt Hentschel. „Diese Standardsprache war aber sowohl im Zarenreich als auch in der Sowjetunion das Russische und nicht das Ukrainische“. Vergleichbar seien Regiolekte oder Stadtdialekte im süddeutschen Raum. Diese stellten ebenso Mischungen aus den jeweiligen ländlichen Mundarten und der deutschen Standardsprache dar. Mit dem entscheidenden Unterschied: „Hier gibt es nur eine Standardsprache, und keine zweite, benachteiligte, wie in der Ukraine.“

Nach der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 wurde das Ukrainische alleinige Staatssprache – das Russische hatte in vielen Teilen des postsowjetischen Landes nur noch den rechtlichen Status einer Minderheitensprache. Dennoch ist das Russische noch heute überaus präsent. „Es weitet sich gegenwärtig unter jüngeren Sprechern sogar aus, außer im ganz überwiegend ukrainischsprachigen Westen in und rund um Lemberg.“

Allerdings sei die westeuropäische Wahrnehmung der Ukraine – hier der „russische“ Süden und Osten, dort der „ukrainische“ Westen – zu einfach. „Das wird der Situation im Lande nicht gerecht.“ Nur der äußerste Osten, das sogenannte Donbas-Gebiet, sei eindeutig auf das Russische ausgerichtet. Und nur der äußerste Westen, der Großraum um Lemberg, eindeutig auf das Ukrainische. „Der sehr große Raum zwischen diesen Arealen ist nicht eindeutig.“

Gerade in dieser großen Mitte des Landes bedient sich der Durchschnittsbürger im Alltag der mündlichen Kommunikation sehr häufig des Surzhyks. Seine Anfänge liegen in der Industrialisierung des Landes, als ukrainische Bauern in die Städte wanderten und sich an das Russische sprachlich anpassten. Normativ orientierte Sprach- und Kulturwissenschaftler werten die Mischsprache daher noch heute als Zeichen mangelnder Bildung oder Kulturlosigkeit. „Das ist ein Stereotyp und entspricht nicht den Realitäten“, sagt Hentschel. „Selbst Akademiker, die sehr wohl in der Lage sind, ‚gepflegtes’ Russisch oder Ukrainisch zu sprechen, fallen im Kontext von Familie und engen Freunden oft wie automatisch in die gemischte Rede.“

Starten sollen die Forschungsarbeiten im Surzhyk-Projekt mit einer breiten, repräsentativen Befragung in einschlägigen Teilen der Ukraine. Hentschels Kooperationspartner sind der Slavist Oleksandr Taranenko und der Sozialwissenschaftler Mykola Tschurylov (beide Kiew) sowie der frühere Oldenburger Sozialwissenschaftler Bernhard Kittel (jetzt Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien). Vor Ort forschen, Sprachaufnahmen machen und Befragungen durchführen, das könne man nur, wenn der ukrainisch-russische Konflikt nicht weiter eskaliere, so Hentschel. „Eine Entwicklung, die natürlich noch viel mehr für die Menschen im Lande zu erhoffen ist.“

ⓘ www.uni-oldenburg.de/slavistik
 
ⓚ Kontakt:
Prof. Dr. Gerd Hentschel, Institut für Slavistik, E-Mail: gerd.hentschel(Klammeraffe)uni-oldenburg.de
 
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