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Forschungskonzept
Im Zuge der kultur- und sozialwissenschaftlichen Blickwinkelverschiebungen („turns“) der vergangenen Jahrzehnte ist die Vorstellung eines vor der Praxis existierenden souveränen Subjekts (bzw. seines soziologischen Wiedergängers, des Akteurs) als Ausgangspunkt des Erkennens, Denkens, Fühlens und Handelns nachhaltig in Frage gestellt worden. Stattdessen sind Diskurse und Praktiken als Orte der Entstehung des Sozialen und seiner Subjekte in den Blickpunkt gerückt. Diese De-Zentrierung des Subjekts bedeutet zugleich eine De-Zentrierung seiner Motive, Absichten und Handlungen. Diskurse und Praktiken konstituieren in dieser Sicht einen (normativen) Rahmen, in dem sich Motive und Absichten bilden und diverse Aktivitäten als sinnvolle Handlungen spezifiziert werden: Als Wissenschaftlerin, Sportler oder Kuratorin in Erscheinung zu treten, setzt voraus, dass sich bestimmte „bodily doings and sayings“ (Theodore W. Schatzki) als (wieder)erkennbare Praktiken mit je charakteristischen sozio-materiellen Settings, Utensilien und Regelhaftigkeiten etabliert haben. Erst durch ihre Teilnahme an diesen Praktiken zeigen und konstituieren sich Menschen als spezifische Subjekte mit je eigentümlichen Befähigungen zum „Mitspielen“, und damit auch zu Reflexion und Kritik.
Wir beschreiben diesen Prozess als performative Selbst-Bildung. Damit ist gemeint, dass die Subjektförmigkeit an eine identifizierbare Aufführung in einem erkennbaren Kontext gebunden ist: In einer performativen Perspektive ist die Aufführung eines Tuns beispielsweise als „Wissenschaft-Machen“ nichts, worin sich ein vor der Praxis existierendes Subjekt ausdrückt. Vielmehr kommt dem stets auf andere Teilnehmer bezogenen (relationalen) Vollzug von Bewegungen, Gesten und Äußerungen als „Wissenschaft-Machen“ eine konstitutive Rolle zu: Was performativ konzipiert ist, ist nicht lediglich etwas, das es auch noch nötig hat, sich im Vollzug darzustellen. Es ist vielmehr das, als was es (an)erkannt wird, nur im Vollzug.
Performative Selbst-Bildungen sind im alltäglichen Leben allgegenwärtig. Entsprechend ist ein praxeologischer Zugang in diversen Forschungsfeldern zu erkennen. So haben beispielsweise die Science and Technology Studies, die Actor-Network-Theory oder diverse Raumtheorien bereits überzeugende Argumente für die ko-konstitutive Rolle geliefert, die Artefakte, Dinge, und Räume in sozialen Praktiken und damit auch für die Prozesse der Selbst-Bildung spielen. Sie sind nicht bloße Requisiten oder bereits existierende, stabile Kontexte für die Ausführung von Praktiken und die Aufführungen eines Selbst, sondern werden als „Partizipanden“ (Hirschauer) betrachtet, die über eine eigene Agency verfügen. Sie spielen eine relevante Rolle für die Subjektivierung, indem sie das Verhalten, die Wahrnehmungen und Affekte, das Denken etc. berühren, präfigurieren, irritieren oder stimulieren. Ebenso wie die beteiligten Menschen erlangen sie ihre jeweilige Bedeutung ausschließlich im praktischen Vollzug. In ähnlicher Weise wurde die Aufmerksamkeit auch in der Phänomenologie, dem Pragmatismus oder der Körper- und der Sportsoziologie auf die Materialität und Körperlichkeit des Sozialen gerichtet. Körper werden hier nicht länger als Störgrößen oder bloße Vollzugsorgane eines reinen Geistes begriffen, sondern als ihrerseits zu intelligenten Handlungen befähigte, aber auch eigensinnige Medien der ko-konstitutiven Ausformung sozialer Ordnungen und ihrer Subjekte.
Allerdings mangelt es bislang an einem Versuch, einen praxeologischen Zugang aus interdisziplinärer Perspektive zu erproben. Vor diesem Hintergrund stellt sich das Graduiertenkolleg die Aufgabe, Prozesse der Selbst-Bildung in historisch wandelbaren Praktiken aus einer explizit interdisziplinären Perspektive zu analysieren. Über die „dichte Beschreibung“ (Geertz) konkreter Ausformungen von Subjektivität soll ein besseres Verständnis darüber gewonnen werden, wie sich Selbst-Bildung im Allgemeinen vollzieht. Im Sinne einer „theoretischen Empirie“ soll das praxeologische Analyseinstrumentarium auf der Grundlage der empirischen Einzeluntersuchungen zugleich mit einer größeren historischen Tiefenschärfe ausgestattet und theoretisch weiter ausgearbeitet werden.
Der interdisziplinäre Kontext des Kollegs gestattet es erstens, die Bedeutung vielfältiger Teilnehmer an sozialen Praktiken auszuleuchten – (menschliche) Körper, technische Artefakte, Bilder, Sprache, historische Ideale usw. Zweitens können sich disziplinär verfasste theoretische und methodische Zugänge wechselseitig befragen, herausfordern, irritieren und stimulieren. Und drittens eröffnet die historische Perspektive die Möglichkeit der Ausarbeitung einer historischen Praxeologie, der es zuvörderst darum geht, vergangene, großenteils im Alltäglichen verborgene Praktiken des Sich-Ausformens sozialer Ordnungen und ihrer Subjekte überhaupt als Ereignisse sichtbar zu machen. Darüber hinaus kann in einer genealogischen Perspektive herauspräpariert werden, welche vergangenen und zeitgenössischen, körperlich-materiellen wie sprachlich-diskursiven Komponenten jeweils zusammenkommen mussten, damit sich bestimmte Praktiken und Subjektivierungsweisen etablieren konnten.
Eine solche historisch-praxeologische Perspektive macht beobachtbar, dass Selbst-Bildungen in zwei Richtungen weisen: In der einen Richtung bilden sich Menschen in dem Maße als spezifische Subjekte, wie sie Praktiken vollziehen und inkorporieren. In der anderen Richtung impliziert dieser Prozess die Ausformung von Befähigungen zu Reflexion, Kreativität und Kritik, die zu Veränderungen von sozialen und kulturellen Ordnungen und den korrespondierenden Subjektformen führen können.
Indem wir das Subjekt nicht als einen bloßen Struktureffekt begreifen, sondern uns für die Genese (in sich gebrochener) subjektiver Handlungsbefähigungen in unterschiedlichen historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten interessieren, tragen wir zu einem besseres Verständnis des spannungsvollen Verhältnisses von „doing subjectivity“ und „doing culture“ bei.