Kontakt

Koordination

Robert Mitschke

S 1-156

+49 (0)441 798-2847

Termin-Einzelansicht

Lebensgeschichten in Bewegung: Subalterne Autobiographik im 18. und 19. Jahrhundert

Workshop mit Dr. Sandra Janssen (Universität Oldenburg) und Dr. Malte Griesse (Universität Konstanz)

Auf dem Workshop wollen wir primär über autobiographische Texte russischer Leibeigener im 18.-19. Jahrhundert diskutieren und über die interaktiven Kontexte, in denen sie entstanden sind. Meine Überlegungen dazu sind Ausgangspunkt und Teil eines für mich neuen, größeren Projekts zu "subalterner Autobiographik" in europäischem und teilweise globalem Maßstab. Zu der internationalen Ausrichtung des Projekts geben nicht zuletzt die Lebensbeschreibungen russischer Leibeigenen Anlass, die ihre Erfahrungen der Unfreiheit häufig explizit in einen globalen Kontext von Sklaverei und abolitionistischer Bewegung stellen und ihr Schicksal dabei v.a. mit den Schwarzen in Amerika vergleichen. Solche Einordnungen und Analogien von Seiten der Betroffenen überformen in der zeitgenössischen Wahrnehmung die markanten Unterschiede, die ein struktureller Vergleich zwischen den Institutionen Leibeigenschaft (in Osteuropa) und Sklaverei auf den Plantagen der Neuen Welt zutage fördert. So prägte diese Analogie das Bild der Leibeigenschaft in Russland nachhaltig – zumindest in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als nach der offiziellen Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 viele autobiographische Texte ehemaliger Leibeigener – mit Unterstützung von Intellektuellen – in den sog. "dicken Journalen" veröffentlicht wurden. Doch lassen sich die Darstellungen nicht auf reine Opfergeschichten reduzieren. Vielmehr wird der Opferdiskurs, der das Einzelschicksal als Kollektiv-Leid modelliert, vielfach überlagert von einem Diskurs über Selbstbildungen. Schon der Schreibakt selbst zeugte davon, dass sich die Autoren über ihren Stand erhoben hatten, nicht nur durch Alphabetisierung, sondern auch weil sie trotz widriger Umstände ihr Leben – so gut es ging – selbst in die Hand nahmen. Übergreifende Fragen, die sich daran knüpfen, sind die nach der Rechtfertigung potenziell öffentlicher Selbstthematisierung, die schließlich alles andere als selbstverständlich war. Im Falle von gesellschaftlichem Aufstieg schien der Erfolg als Autorisierungsmoment zu fungieren, so wie es die Figuration des self-made man nahelegte, die v.a. in der angelsächsischen Autobiographik eine prominente Rolle spielte. Doch lassen sich aus den transnationalen Übersetzungsleistungen der Autobiographen, die in Russland mit Vorliebe an angelsächsische Diskurse und Praktiken anknüpften, deutliche Unterschiede in den "politischen Grammatiken" ausmachen, in die sich die Autobiographen (und ihre intellektuellen Förderer) nicht nur einschrieben, sondern die sie durch ihre Praxis auch (mit)formten. Insofern trägt der länderübergreifende Vergleich subalternen autobiographischen Schreibens zur Herausarbeitung solcher Grammatiken der Rechtfertigung und Kritik bei, die sich in unterschiedlichen politischen Kulturen herausgebildet haben bzw. diese politischen Kulturen erst konstituiert haben. Inspirierend für das Konzept der politischen Grammatiken sind für mich v.a. die Arbeiten der pragmatischen Soziologie in Frankreich, v.a. De la justification (Über die Rechtfertigung, 1991, dt. 2006) von L. Boltanski und L. Thévenot, und (für eine vergleichende Analyse gegenwärtiger politischer Kulturen anhand von Konflikten in unterschiedlichen Problemfeldern am Beispiel Frankreich und USA) Rethinking Comparative Cultural Sociology (2000) von M. Lamont und L. Thévenot.

Auf dem Workshop möchte ich v.a. eine Quelle diskutieren, einen Text in Gedichtform, den ein Leibeigener aus dem Gouvernement Jaroslavl' anonym an den Zaren gerichtet hat, um – gestützt auf sein Schicksal und das vieler seiner Gesprächspartner – die Abschaffung der Leibeigenschaft zu erbitten. Um die abolitionistischen Argumente des Textes gleichsam zu spiegeln, ziehen wir einen Aufsatz von Peter Kolchin dazu, in dem er zentrale Argumente der Befürworter von Sklaverei (in den Südstaaten der USA) und Leibeigenschaft (in Russland) herausarbeitet.

 

Anmeldung: sandra.janssen@uol.de

 

13.06.2016 09:30 – 12:30

Seminarraum des Graduiertenkollegs A3-1-109

(Stand: 19.01.2024)  | 
Zum Seitananfang scrollen Scroll to the top of the page