Unkonventionelle berufspraktische Erfahrungen machten einige Lehramtsstudierende der Uni jüngst, als sie Jugendliche aus Rastede beim zweiwöchigen „Herausforderungsprojekt“ ihrer Schule begleiteten. Manches entpuppte sich auch für die angehenden Lehrkräfte als Herausforderung.
Es ist eine ungewöhnliche Seminarrunde, die sich an diesem sonnigen Oktobertag am Institut für Pädagogik trifft, in der vierten Etage mit Blick über den Campus Haarentor. Eine sehr kleine Gruppe ist zusammengekommen, nur acht oder neun Studierende, die sich mit dem Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Till-Sebastian Idel und Lehrerin Kirstin Westerholt über – auf den ersten Blick – allenfalls am Rande pädagogische Themen austauscht. So geht es zum Beispiel um besonders reparaturintensive Fahrradpannen, um Streit beim Supermarkt-Einkauf oder um Zelten bei drohendem Gewitter.
Es ist der Abschluss eines ungewöhnlichen Seminars. In dessen Rahmen begleiteten insgesamt zehn Studierende Jugendliche dabei, eine zweiwöchige selbstgewählte Herausforderung zu entwickeln und zu meistern. Insgesamt 55 Neuntklässlerinnen und Neuntklässler der Kooperativen Gesamtschule (KGS) Rastede, an der Westerholt unterrichtet, nahmen an dem von der Uni begleiteten Pilotprojekt teil. Sie hatten im Verlauf der achten Klasse für diese schulische Auszeit Pläne ausgetüftelt, die sie zu Schuljahresbeginn umsetzten. In Gruppen unternahmen sie ausgedehnte Wanderungen oder Radtouren, ob nach Frankfurt am Main oder auf eine ostfriesische Insel, ob in die Niederlande oder nach Dänemark, leisteten unterwegs etwa wohltätige Arbeit oder tauschten Gegenstände.
Aus Idels Sicht eine Chance nicht nur für die 14- bis 15-Jährigen, deren Selbstreflexion und Persönlichkeitsbildung das „Herausforderungsprojekt“ dienen sollte. Es bilde zugleich einen wertvollen Baustein für die Professionalisierung der – als Begleitperson mitgereisten – Studierenden: „Sie erwerben pädagogische Erfahrung jenseits des Unterrichts und außerhalb des Raums Schule in einem ganz anderen Modus“, sagt der Hochschullehrer, der am Institut für den Arbeitsbereich Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik verantwortlich zeichnet sowie fächerübergreifend die Allgemeinen Schulpraktika koordiniert. „Das ist eine nicht ersetzbare Erfahrung“.
Eindrücklich war die Erfahrung für die Studierenden allemal. „Es war eine ganz andere Rolle für mich, eher beobachtend und passiv, während die Jugendlichen die Verantwortung übernommen haben“, erzählt eine Studentin. „Ich war überrascht, wie 14- und 15-Jährige sich selbst und gegenseitig motivieren können“, berichtet eine andere. „Einmal haben sie eine Stunde lang versucht, ohne Dosenöffner eine Dose zu öffnen – und es am Ende auch geschafft.“ Und ein Kommilitone erinnert sich: „Es gab viele Herausforderungen innerhalb der Herausforderung, zum Beispiel einen Streit im Supermarkt, der richtig eskalierte – da fällt es schwer, nicht einzugreifen.“ Eine weitere Studentin hat die Erkenntnis gewonnen, dass sie „das Nein-Sagen üben muss“.
Für Idel treffen diese Schilderungen den pädagogischen Kern des Projekts und des begleitenden Uni-Seminars. „Pädagogisches Handeln ist eigentlich fast immer ein intervenierendes Handeln“, so der Erziehungswissenschaftler. Bei diesem unkonventionellen Praxiskontakt gehe es hingegen darum, sich herauszuziehen und doch pädagogisch tätig zu sein. „Die Teilnehmenden sind zudem gefordert, dies für ihre gewöhnliche Rolle in der Schule für die Zukunft zu reflektieren.“
Neele Grätz ist eine von zehn Studierenden, die diese angenommen hat. Die 24-Jährige studiert Musik und evangelische Religion im dritten Mastersemester auf Lehramt und hat ein Mädchen-Trio mit dem Fahrrad und mit Zelten im Gepäck nach Groningen begleitet. Sie war im Vorfeld gespannt, „wie 14-Jährige mittlerweile so sind“. Zwar sei sie nur zehn Jahre weiter, aber habe trotzdem gemerkt, wie sich in dieser Zeit Interessen und Gedankenwelt veränderten – und wie schnell sie auch ein wenig vergessen habe, „dass Jugendliche einfach schon richtig viel allein können“.
Ihnen die Freiräume zu geben, ihre Kompetenzen auszuschöpfen, das wolle sie auch in ihrem späteren Beruf als Lehrerin beherzigen. „Ich bin eh ein Fan von offenem, praxisorientiertem Unterricht, in dem Schülerinnen und Schüler sehr viel selbst herausfinden – das ist im Fach Musik vermutlich leichter umsetzbar als in Deutsch oder Mathe“, sagt Neele. „Die Jugendlichen nehmen einfach mehr mit, wenn sie sich Dinge selber erarbeiten und erschließen. Ich möchte ihnen künftig noch viel mehr zutrauen, als ich es bisher schon getan habe.“ Das führe manchmal zu einem „wahren Feuerwerk“ in der Entwicklung der Schülerinnen und Schüler – „und darauf freue ich mich“.
Von dem zweiwöchigen Roadtrip bleibt bei ihr vor allem der Zusammenhalt zwischen den drei Mädchen in Erinnerung. „Die Gruppe hat so gut funktioniert, dass es schien, als wäre es nichts Neues und Aufregendes, was sie tun, sondern alles ganz normal“, so Neele. Beim Packen und Planen der Reise habe das Trio an alles Essenzielle gedacht, sämtliche Unterkünfte – ob Zeltplatz oder Privatgrundstück – vorab organisiert und unterwegs lediglich einen Spülschwamm nachkaufen müssen. Essensversorgung, der selbständige Umgang mit dem begrenzten „Reisebudget“, all das habe bestens geklappt. Und als der Reis doch mal nach einer Stunde auf dem Gaskocher immer noch nicht gar war, hätten die Mädchen sich Tipps von einer benachbarten Campinggruppe geholt.
Diese Art von sozialem Lernen, auch die Chance, sich selbst besser kennen zu lernen, eröffne das Herausforderungsprojekt, so Erziehungswissenschaftler Idel. „Und es geht natürlich darum, dass Schülerinnen und Schüler durchaus auch in Grenzsituationen geraten, Grenzen vielleicht auch überschreiten und so ihre eigenen Stärken und Schwächen wahrnehmen.“ Und all das in einer für die Entwicklung bedeutsamen Phase – „mitten in dem Geschehen, was wir Pubertät nennen“, so Idel.
Er betrachtet das reformpädagogische Konzept des Herausforderungsprojekts im Kontext einer Schulentwicklung „weg vom Fachunterricht, hin etwa zu wöchentlichen Projekttagen, zu einer stärkeren Individualisierung des Lernens“. So etwas zu etablieren, sei allerdings zumindest anfangs mit zusätzlicher Arbeit der Lehrkräfte verbunden.
An der KGS Rastede hätten die Vorarbeiten für das – für die Jugendlichen freiwillige – Projekt bereits vor der Corona-Pandemie begonnen und sich aufgrund dieser zusätzlich verlängert, so Westerholt, die als eine der beiden federführenden KGS-Lehrerinnen auch von Anfang an in dem von Idel geleiteten Seminar mitwirkte. Nunmehr vier Jahre sei es her, dass eine Kollegin am Rande einer Sport-Fortbildung von den Erfahrungen an einer anderen Schule gehört habe, erzählt sie. Solche Zufälle machten manchmal den Unterschied, ergänzt Idel: „So kommt Innovation in Schule.“
Und womöglich tragen künftig auch einige Lehrkräfte, die frisch von der Uni Oldenburg kommen, dieses Konzept in weitere Schulen. Neele Grätz jedenfalls ist begeistert. „Die Idee ist richtig cool. So cool, dass ich mich direkt zur Trainerin habe weiterbilden lassen, um in künftigen Herausforderungsprojekten Workshops mit Jugendlichen leiten und sie auf dieses Abenteuer vorbereiten zu können.“