Materialien für den Schulunterricht sind ein Spiegel der Gesellschaft. Wie etwa Religionsbücher – unterschwellig und meist unbeabsichtigt – antijüdische Narrative transportieren, analysieren Forschende der Religionspädagogik seit Jahren.
Sie haben im November eine Tagung in Berlin mitorganisiert, die sich mit antisemitischen Narrativen in Schulbüchern befasste. Wie kommen solche hochproblematischen Deutungsmuster überhaupt in Unterrichtsmaterialien hinein?
Willems: Schulbücher sind ein Spiegel der Gesellschaft: Es lässt sich wissenschaftlich herausarbeiten, dass sich in ihnen viele in der Gesellschaft etablierte Stereotype und Vorurteile wiederfinden. Wir alle – auch Menschen, die Bildungsmaterialien produzieren – sind in antisemitische Narrative verstrickt, die wir ohne oder entgegen aller Absichten weitertragen.
Dihle: Materialien mit solchen Inhalten, auch wenn diese nur implizit an antisemitische Narrativeanschlussfähig sind, können antisemitische Haltungen bestätigen oder gar verstärken – vor allem bei denjenigen, die aus ihrem Umfeld außerhalb der Schule solche Narrative kennen. Schule ist ein Ort, an dem Wissen immer wieder reproduziert und an die nächste Generation weitergegeben wird. Sie kann somit eben auch ein zentraler Ort sein, um bestimmten Narrativen entgegenzutreten.
Ohne diese reproduzieren zu wollen – können Sie kurz anreißen, welche problematischen Darstellungen des Judentums sich etwa in deutschsprachigen Religionsbüchern bis heute finden?
Willems: Es gibt beispielsweise Bildungsmaterialien, die orthodoxes oder ultraorthodoxes Judentum auf eine einseitige Art darstellen, die dazu beiträgt, dass junge Leute Judentum nicht in seiner Vielfalt, sondern als „fremd“ wahrnehmen. Wenn dann gelebte Religiosität als streng und einschränkend gezeigt wird, kann das die jüdische Glaubenspraxis abwerten. Ein Beispiel dafür wäre, dass Speisegebote und Feiertage als Hinderungsgrund für gemeinsame Aktivitäten mit nicht-jüdischen Menschen dargestellt werden.
Dihle: Auch stellen wir einen Fokus auf die Verfolgungsgeschichte jüdischer Menschen fest, eine Viktimisierung: Judentum wird nicht als gelebte Religion in Deutschland thematisiert, sondern vor allem in Bezug auf die Shoa unterrichtet. Dies trägt dazu bei, jüdisch-deutsche Geschichte als eine des Gegensatzes zu verstehen, die Jüdinnen und Juden auch in historischer Weise fremd erscheinen lässt. Dabei werden zum Teil falsche Narrative wiederholt.
Können Sie Beispiele nennen?
Dihle: Ein prominentes Beispiel ist der angebliche Sozialneid, der im Mittelalter zu Pogromen geführt habe. Letztere werden teils so erklärt, dass es im Christentum verboten gewesen sei, Zinsen zu nehmen, sodass im Bankenwesen tätige Juden mit hohen Zinsen den Volkszorn auf sich gezogen hätten. Es ist jedoch erwiesen, dass dies historisch falsch ist: Christen durften sehr wohl Zinsen nehmen und waren im Bankengeschäft tätig, wohingegen viele Jüdinnen und Juden im Mittelalter keineswegs zur Oberschicht gehörten. Für Sozialneid gab es also keinen Grund. Zudem beinhaltet dieser Erklärungsversuch eine Schuldumkehr, die die Täter*innen antisemitischer Pogrome entlastet.
Willems: Für den christlichen Religionsunterricht stellt sich die besondere Herausforderung, dass Jesus Jude war: Das Christentum ist aus dem Judentum hervorgegangen und damit auch das Ergebnis eines Abgrenzungsprozesses. Das, wovon man sich abgrenzt, wird häufig verzerrt dargestellt, um selbst positiver zu erscheinen. Schulbücher stellen Jesus oft in einen sehr starken Gegensatz zum Judentum, statt ihn als Juden in seiner jüdischen Umwelt zu zeigen. Das kann Antisemitismus Vorschub leisten. Wer im Unterricht die Kreuzigungserzählung durchnimmt, sollte darauf achten, dass nicht „die Juden“ für den Tod Jesu verantwortlich gemacht werden. Denn das wäre historisch nicht korrekt: Die Todesstrafe durch Kreuzigung konnten einzig die römischen Behörden verhängen.
Daran, das Judentum in Bildungsmedien anders darzustellen, arbeiten etwa Forschende seit Jahrzehnten…
Dihle: Es ist beileibe kein neues Thema. Damit sich etwas ändert, arbeitet die Oldenburger Religionspädagogik schon seit langem im Netzwerk für antisemitismus- und rassismuskritische Religionspädagogik und Theologie mit. Dort sprechen wir daher die Menschen an, die in kirchlichen Stellen für die Zulassung von Religionsbüchern zuständig sind, außerdem beraten wir Verlage. Wobei leider nicht alle Ratschläge auch Gehör finden.
Willems: Auch geben wir unser Wissen in Fortbildungen an Lehrkräfte weiter. Und natürlich ist das Studium zentral: Antisemitismuskritik ist bei uns ein Querschnittsthema, sodass wir hoffen, dass unsere Absolvent*innen die entsprechende Sensibilität in ihre zukünftigen Schulen und Wirkungsstätten tragen.
Was ist angesichts des Krieges in Israel für den Schulunterricht wichtig?
Willems: Gerade jetzt ist ein Blick darauf wichtig, wie Israel im Unterricht thematisiert wird. Wenn Israel ausschließlich als Konfliktherd dargestellt wird, ist das problematisch. Das ist natürlich eine Frage, die neben dem Fach Religion auch den Unterricht etwa in Geschichte oder Politik betrifft.
Dihle: Ein konkretes Beispiel: Auf der jüngsten Tagung haben wir uns etwa mit einem Religionsbuch befasst, in dem Israel einzig unter der Überschrift „Religiöser Fanatismus und Fundamentalismus“ vorkommt. Das Buch wurde in diesem Sommer frisch zugelassen und wird somit vermutlich erst in mehreren Jahren überarbeitet. In der 9. und 10. Klasse lernen Jugendliche darin die israelische Siedlungspolitik kennen, erfahren aber weder, dass diese auch in Teilen der dortigen Bevölkerung als problematisch erachtet wird, noch etwas über die Terrororganisation Hamas.
Interview: Deike Stolz