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< Inhalt 10/1995

Die Orthografiereform: Mehr Toleranz, weniger Fanatismus

Nach dem Einspruch mehrerer Bundesländer droht das "Jahrhundertwerk" doch noch zu scheitern / von Mark Rothensee

Als dieser Artikel geschrieben wurde, schien der lange diskutierten und mehrfach verschobenen Orthografiereform nichts mehr im Wege zu stehen. Doch dann kamen die kruzifixgebeutelten Bayern und zogen - den Untergang des Abendlandes wieder einmal vor Augen - die Notbremse. Auch andere Bundesländer, darunter Niedersachsen, haben inzwischen Vorbehalte erkennen lassen. Jetzt soll alles noch einmal beraten, erwogen und verworfen werden. Pech übrigens für den Duden-Verlag, dessen neues Rechtsschreiblexikon in der Schublade bleibt. Wie undramatisch die Reform tatsächlich ist bzw. wäre, ist hier nachzulesen.

Spaghetti verwandeln sich in Spagetti. Aus Joghurt wird Jogurt und aus einem Quentchen ein Quäntchen, schließlich schreibt man auch Quantum. Studenten schreiben ein Exposee statt eines Exposés, wie sie auch schon lange mit dem Fahrrad entlang einer Allee fuhren und nicht entlang einer Allée. Gleichzeitig nimmt der Duden auch Abschied von seinem alten Nimbus. Er will nicht mehr Gralshüter der einzigen Wahrheit sein und hält nun auch für erlaubt, was früher verboten war: anders zu schreiben als er selbst, wenn es nur einsichtig ist.

Die Welt wird auch so bleiben, wie sie ist. Vor dem erneuten Eingriff in die deutsche Rechtschreibung diskutierten die Schöpfer der Orthographiereform in mehreren internationalen Konferenzen das Machbare und das Wünschenswerte. Was nun veröffentlicht ist, entstand unter den Bedenken der Durchsetzbarkeit und soll für die vorstellbare Zukunft der einzige grundlegende Eingriff sein. Frühere Ansätze scheiterten an einer relativen Radikalität, von den ursprünglichen Vorschlägen aus dem Jahre 1992 ist nur wenig übrig geblieben. Die öffentliche Kritik an der jetzigen Fassung scheint der Vorsicht recht zu geben.

Für den Zweifler in uns allen, der hofft, daß geschrieben wird, wie man auch spricht, finden sich hingegen einige Erleichterungen. Statt belemmert ist nun jemand belämmert wie ein Lamm. Und in Zukunft ist es erlaubt, überschwänglich zu sein, aus dem Überschwang hinaus, überschwenglich ist passé. Schiffahrt wird zu Schifffahrt, wie auch bisher neben Schifffracht ein Fetttropfen auf dem Wasser schwamm. Eindeutig und einfach war die deutsche Rechtschreibung bisher auch für Spezialisten nicht. Vor allem im wissenschaftlichen Vokabular existierte mehr Willkür statt Logik in ihrem Gebrauch. Man beriet in Kommuniqués, der erste Teil des Wortes war eingedeutscht mit k, der zweite französisch mit é. Nach der Reform berät nun ein Kommuniquee über existenzielle Fragen, und nicht mehr über existentielle, wegen der Existenz.

Letzte Reform im Jahr 1901

Vor der letzten Normierung der Rechtschreibung im Jahre 1901 schrieb der Wissenschaftsbetrieb noch von jenen, die produzirten, und jenen, die philosophirten, neben der uns bekannten Schreibweise. Aus dem griechischen kyklos wurde ein lateinisierter cyclus, weil es für den damaligen Geschmack lateinischer, eleganter und eben auch gelehrter aussah. Dadurch änderte sich auch die Aussprache, aus einem k wurde ein z, und heute stört sich niemand mehr am Zyklus. Aus einem Circumflex enstand der Zirkumflex, aus einem Cortex der Kortex, ohne daß sich geändert hätte, was die Forschung an ihnen entdeckt. Ähnliche Probleme existieren noch heute. Neben der englischen und internationalen Form Stress gibt es noch den Streß. Fairness existiert neben Fairneß, Business neben Busineß. Das ß wird in diesen Fällen mit der Reform wieder verschwinden. Mit dem Komma vor dem erweiterten Infinitiv quälen sich viele wissenschaftliche Veröffentlichungen, und nur selten wird trotz des Behaviorismus' mit dem Häkchen nach dem s geschrieben, abgesehen von der Frage, ob es nicht manchmal besser Behaviourismus hieße.

Der entscheidendste Eingriff werden jedoch tiefgreifende Änderungen sein, an die bei jedem Satz des Alltags zu denken ist. Aus dem daß mit ß wird ein dass, wie heute schon in der Schweiz geschrieben wird, und aus einem Fluß ein Fluss. Das ß verschwindet nach einem kurzen Vokal. Das muss ein Schüler und ein Lehrer lernen, doch sonst ändert sich in den unteren Schulklassen wenig. Für Grundschüler, unbeschrieben wie ein weißes Blatt, wird das ß nach einer einzigen Regel lernbar sein. Für Erwachsene, die mühselig die gegenwärtige Rechtschreibung erlernt haben, bedeutet diese Wandlung die größte Schwierigkeit.

Die meisten Punkte der Reform betreffen jedoch abstrakte und logisch nicht so leicht zu bewältigende Unterschiede, die nicht allein ein einzelnes Wortbild betreffen. Die Entscheidung, was in der Schule richtig und falsch ist, bleibt so weiterhin dem Wissenstand der Lehrer überlassen. Im günstigsten Fall repräsentiert ihr Wissen einen Konsens von richtig und falsch. Vollkommen beherrschen können auch sie die Sprache nicht. In Probediktaten unterscheiden sie sich nicht wesentlich von einem abstrakten Durchschnitt der Bevölkerung.

Gerade der Berufsstand der Philologen ist gespalten. Kritik erfährt die Reform von zwei Seiten. Den Vertretern einer grundlegenden Vereinfachung geht sie nicht weit genug. Ihre Gegner kritisieren den Verlust einiger logischer Komplexitäten, die bewundernswert, aber uneindeutig sind. So zum Beispiel der Unterschied zwischen fallenlassen (zusammen, bildlich, einen Freund) oder fallen lassen (getrennt, konkret, einen Schlüssel). Doch wenn jemand seine Maske fallen läßt, ist sie eine konkrete oder eine bildhafte? Dito fahren lassen und fahrenlassen (einen Plan, eine Person ... ). In Zukunft ist es erlaubt, in wirklich allen Fällen getrennt zu schreiben, fahren lassen und fallen lassen.

Viele Proteste erklären sich weniger aus logischen Erwägungen als aus der Notwendigkeit, umlernen und eine neue Schreibweise zumindest tolerieren zu müssen. Die eingeprägten Wortbilder sind das Ergebnis langjähriger Mühe und haben einen selbständigen Wert bekommen. Wichtig ist an ihnen nicht mehr, daß sie etwas bezeichnen, sondern daß sie unveränderlich sind. Unveränderlich in einer Welt, in der das Bezeichnete schnellen und unfaßbaren Wandlungen unterworfen ist, so daß der Begriff die Dinge an- und festzuhalten scheint.

Schreib in Zukunft einfach du

Gegner und Befürworter werden dabei froh sein, daß wir nicht mehr schreiben wie zu Zeiten Goethes oder gar der Goten. Denn auch unsere heutige Schreibweise ist das Ergebnis von Reformen, so sehr sie auch erhaltenswert erscheint. Heute ist es möglich, durch eine Tür zu schreiten, nicht mehr durch eine Thür, und niemand schreibt mehr Gothen, wenn uns auch Goethe blieb. Und nur der Thron existiert noch, da es zur entsprechenden Zeit nicht opportun erschien, zu reformieren, worauf ein König sitzt. In diesem Sinne ist die gegenwärtige Reform respektlos, erlaubt sie doch, in einem Brief das Du klein zu schreiben.

Schreib in Zukunft einfach du. Denn so war ursprünglich ein Buchstabe schlicht dafür geschaffen, möglichst genau einen Laut wiederzugeben, und nicht Höflichkeit auszudrücken. Das erscheint natürlich, doch es ist nicht immer und überall so. Auch das Deutsche ist diesem Prinzip nicht treu. Das s in Stern und in Fernglas klingt einmal hart und einmal weich, das ch in Licht, Dach und Buchse hat jeweils einen verschiedenen Klang. Solange Sprachen, die mit einem Alphabet arbeiten, in unbewußter Willkür verhangen bleiben, haben sie wenig Grund, einen kulturellen Vorteil gegenüber anderen Schreibweisen zu reklamieren. Solange wird auch das Chinesische dem Prinzip einer nachvollziehbaren Logik in einer uns unbekannten und doch konsequenten Form gerecht. Dort ist das Zeichen für eine Mondfinsternis eine Hand über dem Mond, das Zeichen für den Horizont ein Strich unter der Sonne. Durch solch fast spielerisch anmutenden Umgang mit der Sprache entstand trotz Humboldt und Tiefenstrukturgrammatik die Urform der Lautschrift im historisch so ergiebigen Gebiet zwischen Euphrat und Tigris. In jener Wiege der Kultur begann ein Lautspiel, das in die Moderne übertragen so aussah: aus einem Zeichen für die Uhr und aus einem Zeichen für das Laub schuf man dort den Urlaub. Der deutsche Augenblick und sogar der Halbleiter ist nicht weit entfernt davon. Heute ist auf Reklametafeln 4you, für dich, zu lesen, und die Entscheidung, ob dies der Untergang der Kultur oder ihre Wiederentdeckung ist, sollte schwer zu treffen sein.

Offen für sprachliche Veränderungen

Die alten Sprachen Amerikas stecken voll logischer Unterschiede, die dem Deutschen in ihrer Klarheit zur Ehre gereichen würden. Ein Verb, das bezeichnete, was im Entstehen war, wie erblühen oder erröten, erhielt eine besondere Silbe. In unsere Sprache übertragen, so etwas wie ein zweites er. Also ererblühen oder ereröten. Verben, die bezeichneten, was im Erstehen verschwindet, wie platzen oder sterben, erhielten so etwas wie ein ver. Also verplatzen oder versterben. Das Deutsche besitzt, wie die Beispiele sehen lassen, nur eine Ahnung davon, und statt unsere Sprache für den letzten Schluß zu halten, sollte sie offen bleiben für Veränderungen und jene Orte, an denen weniger geschrieben, aber nicht weniger logisch gedacht wurde, ganz ohne Duden.

Selbst solch traditionelle Eitelkeiten wie die Großschreibung sind nicht historisch gerechtfertigt. Auch sie wurde eines Tages durch eine schleichende Reform eingeführt. Es mögen Mönche gewesen sein, die Gefallen daran fanden, die Bibel mit der Groß- und Kleinschreibung auszuschmücken. In Dänemark wurden sie wieder abgeschafft, ohne daß die Kultur der Dänen litt. Hier in Deutschland wird die Großschreibung nun mit einigen Vereinfachungen bestehen bleiben. Im Holländischen heißt es schon lange kwaliteit, statt Qualität, ganz klein und wenig lateinisch. In Norwegen zog man in diesem Jahrhundert einen Strich durch das o, um es zum ø zu machen, und auch die Punkte über dem deutschen ö sind Resultat einer umwälzenden Veränderung, die dem o des alten Roms hinzugefügt wurde.

Solch vergleichende Erwägungen mögen auch die Dudenredaktion bewegt haben, als man dort entschied, Zepter und Krone der Allwissenheit abzulegen. Die wesentliche Botschaft der Reformer ist so einfach wie historisch neu: tolerant zu sein und jeden Fanatismus zu unterlassen. Der Verlag notierte, daß man ihn vor allem in der Schule zu orthodox interpretierte. Daran ist er nicht ganz unschuldig, und er schuf selber viele Verwirrnisse, die nun wieder verschwinden werden. Die Mitarbeit an der Reform kommt einem Eingeständnis gleich.

Noch besitzt die neue Schreibweise den Charakter der Empfehlung. Zur Zeit befindet sie sich auf dem langen Weg der Gesetzwerdung in den betroffenen Ländern Schweiz, Österreich und Deutschland. Betroffen sind auch Belgien, Dänemark, Italien, Liechtenstein, Luxemburg und Ungarn. Wenn sie dann für alle gültig ist, legt sie sogar Hand an sich selbst. Aus Orthographie wird Orthografie. Wie in der Überschrift zu sehen war.

Der Autor ist Lehrbeauftragter am FB 11 Literatur- und Sprachwissenschaften Preise


Presse & Kommunikation (Stand: 06.09.2024)  | 
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