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< Inhalt 11/1995
Thema: Zur Auseinandersetzung um die Ossietzky-Gesamtausgabe
- Die Wahrheit im Spiegel
- Vermutungen über Motive des Bleibens
Auszug aus Ossietzky-Biographie von Kraiker/Suhr - Zur Kampagne für den Friedensnobelpreis an Carl von
Ossietzky
Bärbel Boldt und Christoph Schottes zur Kritik des SPIEGEL
und seines Kronzeugen Stefan Berkholz
Die Wahrheit im Spiegel
Im Verlauf des Frühjahrs d.J. hatten alle großen Tages- und Wochenzeitungen die Ossietzky-Gesamtausgabe besprochen (vgl. den Medienspiegel im Ossietzky-Archiv der Bibliothek), nur eine Rezension im SPIEGEL fehlte noch. Dessen Kulturchef, Volker Hage, hatte sich bei der Präsentation der Ausgabe auf der Buchmesse gleichfalls interessiert gezeigt. Im Sommer hatten Herausgeber und Verlag die Erwartung auf eine Besprechung im SPIEGEL schon aufgegeben, als Anfang August plötzlich die Kulturredaktion mit großer Dringlichkeit um einen Fototermin und die Zusendung von Informations- und Abbildmaterial bat. Zwei Anläufe zu einer Rezension in der Redaktion seien gescheitert, was ihm sehr unangenehm sei, erklärte Volker Hage dem Mitherausgeber Gerhard Kraiker; jetzt sei es dafür zu spät, aber man werde die Gesamtausgabe in einem Artikel mit aktuellem Aufhänger würdigen, wozu sich die Polemik des Stefan Berkholz im Sender Freies Berlin und ein Streitgespräch zwischen Berkholz und Kraiker im Südwestfunk anböten. Am gleichen Tag rief Hage Kraiker noch einmal an, stellte einige Informationsfragen und pries zugleich die Funde im Band "Briefe und Lebensdokumente", verbunden mit dem wohlwollenden Vorschlag, publizistisch aus diesen Funden doch im einzelnen mehr zu machen.Nach diesen Äußerungen und der Übersendung hinreichender Informationen, die die Absurdität der Manipulationsvorwürfe von Berkholz nachvollziehbar widerlegten, konnte man einen in der Sache einigermaßen differenzierten Artikel erwarten. Was indessen drei Tage später, in der Ausgabe Nr. 32 vom 7.8.1995, kam, war eine rufschädigende Sommerlochgeschichte (so die Süddeutsche Zeitung), sensationell aufgemacht und mit der Ankündigung "Dubiose Lücken in der neuen Ossietzky-Gesamtausgabe", die Berkholz' Behauptungen einfach wiederholte und die ausführlichen Gegenargumente auf bloßes Bestreiten reduzierte. Neben der unterlassenen Nachprüfung, was angeblich in dem Band fehle und worin Auslassungen begründet seien und neben falschen Zitatzuschreibungen gipfelte der Artikel in dem Resümee, über die Frage des Bleiben- oder Fliehenwollens von Ossietzky im Februar 1933 sei nichts Definitives auszumachen - ein Resümee, das wörtlich angelehnt der Ossietzky-Monographie von Kraiker/Suhr entnommen ist, in dem Artikel jedoch gegen sie gewendet wird.
Der SPIEGEL scheinautorisiert die Behauptung gezielter Lücken in der Dokumentensammlung, indem er Berkholz zum Ossietzky-Experten ernennt, der schon 1988 eine Dokumentation über Ossietzky veröffentlicht habe. In Wirklichkeit hatte Berkholz während seiner Tätigkeit als wissenschaftliche Hilfskraft im hiesigen Ossietzky-Archiv eine Akte aus der Gefängniszeit Ossietzkys von Mai bis Dezember 1932 in Berlin gefunden und daraus eine Buchdokumentation gemacht, sonst nichts. Allerdings plante er in dieser Zeit eine ausgewählte Werkausgabe, die er zusammen mit Elke Suhr machen wollte, auf jeden Fall ohne die Professoren. Als die Absicht an dem umfangreicheren Plan der Gesamtausgabe scheiterte, schlug er das Angebot einer Mitarbeit an dieser aus. Die Herausgeber der Ossietzky-Ausgabe beschimpft er seitdem bei jeder sich bietenden Gelegenheit in der Öffentlichkeit als reputationssüchtig, geldgierig und jetzt als bewußte Manipulierer.
Bekannt ist inzwischen, daß nach Erscheinen des Artikels eine ganze Reihe wirklicher Ossietzky-Kenner gegenüber dem SPIEGEL ihre Empörung und ihre Einwände zum Ausdruck gebracht haben, was freilich in den vom SPIEGEL drei Wochen später veröffentlichten Leserbriefen keinen nennenswerten Niederschlag gefunden hat. Auch die Stellungnahme der HerausgeberInnen des Briefe- und Lebensdokumenten-Bandes wurde nur sehr verkürzt wiedergegeben. Es scheint deshalb angebracht, wenigstens die Mitglieder der Carl von Ossietzky Universität über den Sachverhalt aufzuklären.
Vermutungen über Motive des Bleibens
Auszug aus Ossietzky-Biographie von Kraiker/Suhr
Ossietzky hatte den Abend des 27. Februar bei einer Freundin, der Journalistin Gusti Hecht, verbracht; auch Oskar Stark, Redakteur beim "Berliner Tageblatt", war anwesend. Durch einen Anruf von Starks Redaktion erhielten die drei Nachricht vom Brand des Reichstags. Hecht und Stark beschworen Ossietzky vergeblich, sofort zu fliehen; er kehrte in seine Wohnung zurück und wurde prompt am frühen Morgen abgeholt. Drei Tage wolle er noch warten, hatte er seiner Frau erklärt, die auch zur Flucht gedrängt hatte. Viele andere haben nach eigenem Zeugnis zur Flucht geraten. Hans Sahl fragte ihn nach der Versammlung des SDS: "Warum sind Sie noch hier? Sie sind einer der ersten, die man abholen wird. Wir brauchen Sie, aber nicht als Märtyrer." Ossietzky soll darauf geantwortet haben: "Sollen sie kommen und mich abholen. Ich habe es mir lange überlegt. Ich bleibe." Kurt Grossmann berichtet von einem Gespräch im kleinen Kreis über Fliehen oder Bleiben am 20. Februar, bei dem er selbst und Otto Lehmann-Rußbüldt angesichts der aussichtslosen Lage für Flucht waren; von Gerlach dagegen plädierte dafür, die bevorstehenden Wahlen abzuwarten. Ossietzky, so berichtet Grossmann, habe Verständnis für diejenigen geäußert, die fliehen wollten, er selbst wolle jedoch vorerst bleiben. Unter den Warnern waren auch solche, die aufgrund ihrer Positionen oder Beziehungen über die drohende Gefahr Genaueres wußten, so Robert Kempner und Harry Graf Kessler. Warum also floh Ossietzky nicht?Über seine Motive lassen sich nur Vermutungen anstellen. Möglich ist, daß er glaubte, zumindest bis zu den März-Wahlen 1933 würden die Nazis die Fassade der Legalität aufrechterhalten. Es gab private Gründe, wenn irgend möglich zu bleiben: die Alkoholkrankheit seiner Frau, die nach Jahren möblierten Wohnens erstmals eingerichtete eigene Wohnung. Und es gab die in jeder Hinsicht tristen Aussichten eines Publizisten im Exil. "Der Oppositionelle, der über die Grenzen gegangen ist, spricht bald hohl ins Land herein", hatte er vor Antritt seiner Gefängnishaft geschrieben und damit auf die Empfehlungen von Freunden geantwortet, sich der Haft durch Flucht zu entziehen. "Der ausschließlich politische Publizist namentlich kann auf die Dauer nicht den Zusammenhang mit dem Ganzen entbehren, gegen das er kämpft, für das er kämpft, ohne in Exaltationen und Schiefheiten zu verfallen. Wenn man den verseuchten Geist eines Landes wirkungsvoll bekämpfen will, muß man dessen allgemeines Schicksal teilen.
Aus: Gerhard Kraiker/Elke Suhr, Carl von Ossietzky (Rowohlt-Monographie),
Reinbek 1994
Zur Kampagne für den Friedensnobelpreis an Carl von Ossietzky
Bärbel Boldt und Christoph Schottes zur Kritik des SPIEGEL und seines Kronzeugen Stefan Berkholz
Die Kampagne, die deutsche Exilanten für die Verleihung des Friedensnobelpreises an Ossietzky mit Erfolg geführt haben, und die bislang als politischer Sieg über das NS-Regime galt, wurde in einem kürzlich erschienenen Artikel des SPIEGEL scharf kritisiert. Dabei wurden auch gegen die Herausgeber der Oldenburger Ossietzky-Edition schwere Vorwürfe erhoben, die in der Behauptung des Gewährsmannes des SPIEGEL, Stefan Berkholz, kulminierten, es sei "systematisch Material unterschlagen" worden, um die Biographie Ossietzkys zu verzerren.Die Kritik bezieht sich auf den Band "Briefe und Lebensdokumente", der als Bd. VII der Ausgabe sämtlicher Schriften Ossietzkys beigefügt ist. In der Sache wird behauptet, daß der "Freundeskreis Ossietzky", ein informeller Zirkel deutscher Exilanten, die Kampagne um den Friedensnobelpreis ohne Rücksicht auf mögliche Folgen für den inhaftierten Ossietzky geführt habe. Die Oldenburger Editoren deckten das, indem sie belastende Zeugnisse - insgesamt fünf Dokumente - unterschlügen.
Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, daß die vermißten Belege - es handelt sich jeweils um Zitate aus Briefen, die sämtlich andernorts bereits publiziert sind - entweder im Kommentar des Dokumentenbandes referiert werden oder daß ihre inhaltliche Aussage mit anderen Zeugnissen gut nachgewiesen ist. Im einzelnen geht es um folgendes:
- Der von uns nicht abgedruckte Brief eines englischen Quäkers namens Catchpool, der Ossietzky einmal im Lager Esterwegen besucht hatte, beweist angeblich die ablehnende Haltung des KZ-Gefangenen gegenüber der Nobelpreiskampagne. Dieses Dokument wird von uns inhaltlich ausführlich und korrekt referiert (Bd. VII, S. 749 und S. 1108). Der Vorwurf der Unterschlagung ist also ganz unverständlich. Die ablehnende Haltung Ossietzkys haben wir darüber hinaus durch andere, nach unserer Einschätzung zuverlässigere Zeugen dokumentiert (S. 639 und S. 749). Im übrigen schwankte Ossietzkys Ansicht, weshalb unsere Auswahl auch eine zustimmende Äußerung zur Nobelpreiskampagne enthält (S. 639). Die Unterstellung des SPIEGEL arbeitet zudem mit einer falschen Behauptung: Der zitierte Brief Catchpools ist nicht die Wiedergabe eines Gesprächs mit Ossietzky aus dem Sommer 1935, sondern eine Information aus zweiter Hand vom 4.7.1936.
- Gegenstand des Vorwurfs ist auch ein zweiter Brief Catchpools. Darin vertritt er die Ansicht, Ossietzky wäre schon freigekommen, wenn im Ausland über seinen Fall Stillschweigen bewahrt worden wäre. Die Diskussion über die Frage, ob dem gefangenen Ossietzky eher mit lautstarken Protesten oder mit vorsichtigen Aktionen hinter den Kulissen zu helfen sei, durchzieht in Bd. VII die Dokumente von 1933 bis zur Nobelpreisentscheidung im November 1936. Catchpools Brief konnten wir deshalb mit guten Gründen für verzichtbar halten. Zudem stützt Catchpool seine Auffassung in naivster Weise auf die Aussage des KZ-Kommandanten von Esterwegen und, wie aus Passagen hervorgeht, die vom SPIEGEL nicht gebracht werden, auf Gespräche mit Gestapo-Beamten.
- Albert Einstein engagierte sich im Rahmen der Nobelpreiskampagne, hatte aber Skrupel, selbst an das Osloer Nobelkomitee zu schreiben, da er als deutscher Exilant mit einem öffentlichen Eintreten für Ossietzky diesem zu schaden fürchtete. Der SPIEGEL behauptet, wir würden (in Bd. VII) dem Leser vorenthalten, welcher Art diese Skrupel waren. Dazu wird aus einem Kommentar zitiert (S. 1085). In eben diesem Kommentar aber findet sich ein Verweis auf einen weiteren Kommentar, der, zwei Seiten weiter (S. 1087), in aller Deutlichkeit die angeblich vorenthaltene Information ausbreitet.
- Sodann machen der SPIEGEL bzw. Berkholz sich auf, den Exilanten "Legendenbildung" vorzuwerfen. Die Journalistin Hilde Walter, zentrale Figur des "Freundeskreises", erklärte in einem Brief an Willy Brandt im Osloer Exil, man dürfe die "große Legende" um Ossietzky, "und damit die Propaganda-Möglichkeit", nicht zerstören. Worum es bei dieser "Legende" ging, wird den Lesern des SPIEGEL vorenthalten. Schon ein flüchtiger Blick auf die Fülle an Dokumenten in Bd. VII zu diesem Themenkreis offenbart, daß die Stilisierung Ossietzkys zum reinen Pazifisten gemeint war - eine Stilisierung, die sich im Rahmen der Rettungsbemühungen durch die Nobelpreiskampagne zwangsläufig ergab. Weiter zeigen die Dokumente, daß der angegriffene "Freundeskreis" einen erheblichen Teil seiner Energie darauf verwandte, eine für Ossietzky gefährliche Inanspruchnahme durch kommunistische Exilkomitees und durch Emigrantenzeitschriften zu verhindern. Wie aber die Solidaritätskampagne für einen KZ-Häftling, die nicht zugleich eine Anklage an das Terrorsystem der Nazis intendiert, aussehen sollte, bleibt das Geheinmnis des SPIEGEL und seines Kronzeugen Berkholz.
- Zur Frage, warum Ossietzky 1933 nicht aus Deutschland geflohen ist, wird uns der Nicht-Abdruck einer Briefpassage von Hilde Walter vorgehalten. Der Dokumentenband bringt sechs Aussagen von Zeitgenossen Ossietzkys zu diesem Thema. Die Bandbreite reicht von "Er wollte auf jeden Fall bleiben, hat sich bewußt für die Märtyrerrolle entschieden" bis zu dem Hinweis, er habe Bahnfahrkarten ins Ausland bestellen lassen, wäre also lediglich nicht rechtzeitig entkommen. Alle Zeugen berufen sich auf einen direkten Kontakt mit Ossietzky - Hilde Walter tut dies nicht, was für uns ein Kriterium war, ihre Aussage nicht aufzunehmen. Hätten wir uns anders entschieden, hätte sich kein neues Bild ergeben. Ob Ossietzky fliehen wollte oder nicht, ist nicht zweifelsfrei zu klären (s. auch Kasten oben).
* Bärbel Boldt und Christoph Schottes sind Mitherausgeber von Band VII
der Ossietzky-Edition)