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Wider den Schatten der Vernunft

50 Jahre "Dialektik der Aufklärung" / von Stefan Müller- Doohm*

Dialektik der Aufklärung - dies ist der Titel eines Buches, das zum Fanal einer an kritischer Radikalität kaum überbietbaren Gegenschrift wurde. Sie wurde 1944 von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der amerikanischen Emigration geschrieben. Erschienen ist sie vor nunmehr 50 Jahren im Amsterdamer QueridoVerlag, in dem die wichtigsten Bücher der deutschen Exilliteratur ab 1933 verlegt wurden.

Obwohl die Dialektik der Aufklärung zur lkone wurde, geriet in Vergessenheit, worauf diese epigrammatische Formulierung zielt: Sie wirft grelles Licht auf das, was im Prozeß von zwei Jahrtausenden abendländischer Zivilisation mißlungen ist. Signatur dieses Zivilisationsprozesses von der Antike bis zum Faschismus ist die paradoxe Gleichzeitigkeit von Freiheit und Unterdrückung, von Rückschritt und Fortschritt. Man kann sich diese Gattungsgeschichte wie einen fahrenden Zug vorstellen, dessen technisch hoch entwickelte Lokomotive sich von den Waggons abgekoppelt hat und jetzt ohne seine Schlepplast blindlings davonrast, lostgelöst von jenem Zweck, dem die Energiemaschine dienen sollte. In diesem Vergleich steht die Lokomotive für die Mittelrationalität, die instrumentelle Seite der entzweiten Vernunft, für Naturbeherrschung. Die auf der Strecke bleibenden Waggons versinnbildlichen die andere Seite der Vernunft: Freiheit vom Zwang der Selbsterhaltung, die Emanzipation aller, Mündigkeit. Humanität kommt zum Erliegen, weil und soweit es mißlingt, die formale, inhaltsleere Ratio als bloßes Mittel unter die Kontrolle des Zwecks zu bringen. Alles schreitet fort, nur das Ganze nicht.

"Sie verhallt ungehört,ohne Echo"

Die Dialektik der Aufklärung verweist jene Hybris der Moderne in ihre Schranken, die in blinder Verstocktheit nicht sehen wollte, daß grenzenlose Machbarkeit mit den Mitteln der instrumentellen Vernunft keineswegs ein Garant für die Fortschritte der conditio humana ist. Das Gegenteil, so belehrt die Lektüre der mit packender Eindringlichkeit formulierten Seiten, ist der Fall: die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Mit dieser Desillusionierung konfrontieren die Autoren gleich auf der ersten Seite ihre Leserschaft, die in jenen Nachkriegsjahren der Veröffentlichung freilich auf eine winzige Minorität beschränkt war und es bis in die Mitte der sechziger Jahre blieb. Niemand hätte damals gedacht, daß die im Untertitel bescheiden "Philosophische Fragmente" genannte Schrift, deren Erstauflage kaum 2000 Exemplare betrug, sich als eine Art Kultbuch entpuppen würde, das noch fünfzig Jahre nach seiner Publikation den Seltenheitswert eines philosophischen Bestsellers besitzt, übersetzt in viele Sprachen. Am wenigsten haben die Autoren damit gerechnet, daß ihre schwierigen Reflexionen Zeitgeistgeschichte machen würde. Vielmehr verstanden Adorno und Horkheimer ihre Aufklärungskritik als eine Flaschenpost. Sie waren davon überzeugt, daß die Botschaft dieser Flaschenpost auf Vergessenheit angelegt sei. Sie verhallt ungehört, ohne Echo. Was Adorno und Horkheimer als instrumentelle Beschränktheit einer abendländischen Vernunft kritisieren, die dem Prinzip bloßer Selbsterhaltung gehorcht, richtet sich an einen eingebildeten Zeugen, dem wir es hinterlassen, damit es doch nicht ganz mit uns untergeht. Nicht untergehen sollte die Einsicht, daß das in Jahrhunderten scheinbar immer perfekter konstruierte Gebäude der abendländischen Vernunft auf Sand gebaut ist.

Die Verzweiflung darüber, daß sich Aufklärung und Vernunft als ihr Gegenteil erwiesen haben, als propagandistischer Massenbetrug und manipulatives Verfügungswissen, dieser bitteren Bilanz liegen zwei historische Ursachen zugrunde. Die eine liegt in dem Grauen jener zeitgeschichtlichen Ereignisse, die in der Verbreitung totalitärer Machtsysteme und der bürokratisch organisierten Vernichtung der Juden in Europa kulminieren; die andere in der von Adorno und Horkheimer als extrem isoliert erfahrenen Situation der kritischen Intellektuellen, die nicht nur in der Emigration, sondern geschichtlich zur absoluten Ohnmacht verurteilt sind.

Über beides spricht Horkheimer in einem Brief vom 27. November 1942 an Leo Löwenthal: "Diese Tage sind solche der Trauer. Die Vernichtung des jüdischen Volkes hat Dimensionen wie noch nie zuvor in der Geschichte angenommen. Ich glaube, die Nacht im Gefolge dieser Ereignisse wird sehr lang sein und könnte die Menschheit verschlingen". Zugleich bekennt Horkheimer, welche Anstrengung es ihn persönlich kostet, sich des historischen Scheiterns der Aufklärung theoretisch bewußt zu werden: "Manchmal befürchte ich, das Unternehmen übersteigt meine Kraft". Ohne die andauernde Energie von Adorno, der in offenbar niemals ermüdender Emsigkeit immer wieder neue Einfälle zur thematischen Gestaltung des gemeinsamen Projekts hat, Formulierungsvorschläge macht und Konzepte zu den komplexen Problemstellungen entwickelt, wären die drei Hauptkapitel und die beiden Exkurse vielleicht niemals zu Papier gebracht worden. Und es ist Adorno, der den wegweisenden Titel des zukünftigen Werks en passant in einem Brief an Horkheimer von November 1941 erwähnt. Demgegenüber gibt sich Horkheimer Rechenschaft über die Verantwortung des Intellektuellen, der sich des Rückfalls der Vernunft in Barbarei bewußt zu werden versucht. So verweigert er sich in einem Brief von März 1942 einer wohlfeilen Resignation angesichts der Schrecken des Geschichtsverlaufs mit folgenden Worten: "Die Möglichkeit, daß auch uns früher oder später das Konzentrationslager droht, darf nicht zur Rationalisierung dafür werden, daß wir nicht mehr verzweifelt das Wort suchen, das zur Gewalt werden und alle daraus befreien kann". Das Wort zu suchen, ist der utopische Impuls, der ihrer Vernunftkritik zugrunde liegt. So notiert Horkheimer wiederum in einem Brief an seinen Co-Autor: "Die Rede an einen richten, heißt im Grunde, ihn als mögliches Mitglied des zukünftigen Vereins freier Menschen anerkennen". In seinem Antwortschreiben betont Adorno in der für ihn typischen Emphase, daß die Idee der Mündigkeit so lange eine praktische Chance hat, wie gesprochen werden kann. Es sei "schwer zu verstehen, daß ein Mensch, der spricht, ein Schurke sein oder lügen soll". Mit diesem Vertrauen in die Vernünftigkeit der Sprache stimmt die Zielsetzung überein, die Adorno und Horkheimer mit ihrer Rekonstruktion des Scheiterns der Vernunft verfolgen. Die Radikalität ihrer Kritik steht in der Tradition einer konsequenten Aufklärung, die nicht davor halt macht, sich ihrer Verfehlungen wegen selbst an den Pranger zu stellen.

"Rettung der Aufklärung ist unser Anliegen"

Das Buch hat auch nach 50 Jahren wenig an Aktualität eingebüßt. Was aktuell als "reflexive Modernisierung" aus dem Hut soziologischer Gegenwartsdiagnosen gezogen wird, hatten Horkheimer und Adorno schon vor einem halben Jahrhundert hineingezaubert. Solche Voraussicht gilt auch für ihre Kritik am Naturverhältnis. Daß sich heute Widerstand gegen den 'geklonten Mensch' regt, geht nicht zuletzt auch auf die Einsichten dieses säkularen Werks zurück. Sie hat uns im übrigen die Augen auch dafür geöffnet, daß Umweltverschmutzung auch in der Sphäre der Massenkultur stattfindet. Die ständige Flut an Information und Unterhaltung, die tagein, tagaus die Kanäle der Kommunikationsgesellschaft überschwemmen, witzigt und verdummt die Menschen zugleich. Auch die haute couture der Französischen Postmoderne bedient sich mit ihrer Kritik am "Logozentrismus" aus der Kleiderkammer der beiden Dialektiker. So gesehen ist es verständlich, daß das Buch auch für jenen Zeitgenossen eine nach für vor spannende Lektüre bietet, der nach Wegen sucht, wie nochmals vom Baum der Erkenntnis gegessen werden kann.

Welchen Sinn es macht, radikal aufklärungskritisch den Finger auf die Wunde zu legen, diskutierten Adorno und Horkheimer in einem Gespräch, das wenige Wochen vor der Drucklegung ihres Gemeinschaftswerks stattfand: Adorno sagte im Rahmen dieser Diskussion: "Das Denken muß durch Denken der tiefsten Fehler seiner selbst überführt werden". Dieses Programm laufe darauf hinaus, "die Negativität des Negativen zu bezeichnen", um es aufzuheben. Die zustimmende Formulierung von Horkheimer lautet: "Rettung der Aufklärung ist unser Anliegen". Eine Antwort auf die Frage, wie die Rettung gelingen kann, bleibt das Buch freilich schuldig. Die Autoren wußten darum. Adornos Fazit gegen Ende des Gesprächs: "Wir müssen sagen, wie ein (... ) richtiges Denken aussehen muß".

* Prof. Dr. Stefan Müller-Doohm (Institut für Soziologie und Sozialforschung am FB 3) ist Leiter einer Forschungsgruppe, die sich in einem DFG-Projekt mit der Rekonstruktion des Werks und der Lebensgeschichte von Theodor W. Adorno (1903-1969) beschäftigt.


 

Presse & Kommunikation (Stand: 06.09.2024)  | 
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