Kontakt

Presse & Kommunikation

+49 (0) 441 798-5446

Hochschulzeitung UNI-INFO

UNI-INFO

Thema

"Im Grunde genommen sind wir alle Afrikaner"

Für eine Humanbiologie jenseits von "Rassen" - Alte anthropologische Konzepte sind nicht mehr haltbar / Von Ulrich Kattmann*

Die wissenschaftliche Erkenntnis über die genetische Verschiedenheit der Meschen hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Das Konzept von Menschenrassen ist dadurch völlig obsolet geworden. Trotz dieses Sachverhalts halten einige physische Anthropologen starr daran fest, die Menschheit in eine mehr oder weniger große Anzahl von "Rassen" einzuteilen.

 In einer Stellungnahme der UNESCO heißt es, daß die molekularbiologischen Erkenntnisse über genetische Vielfalt der Menschen traditionelle Rassenkonzepte ausschließen. Dafür gibt es folgende Gründe:
 
 

  • Mindestens 75 % der menschlichen Gene variieren nicht, sie sind also bei allen Menschen gleich.
  • Trotz erheblich erscheinender morphologischer Unterschiede sind die genetischen Distanzen zwischen den geographischen Populationen des Menschen gering. Sichtbare Unterschiede zwischen Menschen täuschen uns über genetische Differenzen. Einige wenige Merkmale überbewerten wir nur aus dem Grunde, weil sie besonders auffallen. Der "Typus" ist ein schlechter Wegweiser zu genetischen Distanzen: Zwischen (morphologisch fast nicht zu unterscheidenden) west- und zentralafrikanischen Unterarten des Schimpansen sind sie zum Beispiel etwa zehn Mal so groß wie zwischen menschlichen Populationen (z.B. Afrikaner und Europäer).

  •  

     

  • Der größte Anteil der genetischen Unterschiede zwischen Menschen befindet sich nicht zwischen, sondern innerhalb der geographischen Populationen. Mindestens 90 % der genetischen Unterschiede befinden sich innerhalb lokaler oder eng benachbarter Populationen, die Unterschiede zwischen den geographischen Gruppen umfassen höchstens 10% der genetischen Verschiedenheit.

  • Angesichts dieser Ergebnisse muß der Versuch scheitern, die Menschen in mehr oder weniger voneinander unterschiedene Gruppen bzw. "Rassen" zu trennen.

    Selbst die traditionelle Gliederung in drei geographische Großrassen (Europide, Negride, Mongolide) ist durch diese Befunde obsolet geworden.

    Die Vielfalt der Menschen wird der Einfalt der Typen geopfert: Jede Rassen klassifikation simplifiziert die Vielfalt in unzulässiger Weise, indem sie ihre Betrachtung auf eine mehr oder weniger große Anzahl von Gruppen reduziert und dabei kleine Gruppenunterschiede höher bewertet als größere zwischen den Individuen ein und derselben Gruppe. Das Klassifizieren wird so ohne Rücksicht auf die tatsächlich beobachtete Variation zum Selbstzweck.

    Das Menschenrassen-Konzept verlangt danach, die Menschen auch dann in einander ausschließende Gruppen zu trennen, wenn es zwischen diesen Gruppen alle möglichen Übergänge gibt. Es nimmt nicht Wunder, daß auf diese Weise kein einziges System der Menschenrassen aufgestellt worden ist, das innerhalb der Wissenschaftlergemeinschaft auch nur annähernd allgemeine Anerkennung gefunden hätte. In den Rassensystematiken werden vielmehr zwischen drei und dreihundert Menschenrassen mit ganz unterschiedlicher Einteilung und Zuordnung unterschieden. Eine Grundlinie im Verständnis des Begriffs "Rasse" läßt sich im gesamten Verlauf der Geschichte der Anthropologie nicht erkennen.

    Warum halten einige Anthropologen so unbeirrt und unverändert am Konzeptder Menschenrassen fest? Die Vermutung liegt nahe, daß der Grund hierfür nicht allein innerwissenschaftlich in biologisch-naturwissenschaftlichen Grundsätzen zu suchen ist.
     
     

    Implizite Theorien und Gruppenabgrenzung

    Schon drei- bis siebenjährige Kinder haben Annahmen über die Zusammengehörigkeit von Menschen, die von quasi biologischen Vorstellungen mitbestimmt sind. Man nennt solche Vorstellungen, mit denen Menschen die Erscheinungswelt für sie sinnvoll deuten, naive oder implizite Theorien. Bereits dreijährige Kinder entwickeln Vorstellungen darüber, welche Eigenschaften im Laufe der Individualentwicklung unverändert bleiben und welche von den Eltern vererbt werden. Die Annahmen dienen u. a. dazu, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe anzuzeigen und für das Kind zu sichern. Grundlage für die Unterscheidung sind aber nicht die Merkmale, sondern es ist die elementare Notwendigkeit, sich der eigenen Gruppenzugehörigkeit zu vergewissern.

     "Rasse" ist in diesem Zusammenhang als sozialpsychologisch bestimmte Kategorie aufzufassen. Wo immer Konflikte zwischen Bevölkerungsgruppen aufbrechen, sind nicht Haut- oder Haarfarben die Ursachen, sondern soziale Ungerechtigkeit und politische Interessen. Äußere Kennzeichen, wie Hautfarbe, Haarform, Gesichtsmerkmale, aber auch Eßgewohnheiten, religiöse Gebräuche und Sprache, dienen dann als Erkennungsmarken, mit denen die Menschen der (rassisch) diskriminierten Gruppen ausgesondert werden.

    Die der Fremdgruppe zugeschriebenen Merkmale werden durch die Selbsteinschätzung bestimmt, die die diskriminierende Gruppe von sich hat. Das Eigenbild bestimmt das Fremdbild.

     Der bei der Rassenklassifikation ablaufende Prozeß kann folgendermaßen kurz skizziert werden:

     (1) Wahrnehmung der Gruppenzugehörigkeit; mit der Gruppenzugehörigkeit werden die Individualentwicklung und die Generationen überdauernde Eigenschaften verknüpft.

     (2) Gruppenabgrenzung und -distanzierung; Fremdgruppen wird "Andersartigkeit" und "Wesensfremdheit" zugeschrieben.

     (3) Bewertende Diskriminierung der Gruppen; die Menschengruppen werden in höherwertige und minderwertige eingeteilt. Das Eigenbild bestimmt das Fremdbild.

     (4) Konstruktion von Rassen; die Fremdgruppen werden als rassisch von der eigenen verschieden definiert, am deutlichsten im dichotomen Gegensatz: Weiße/Schwarze; Arier/Juden. Im letzten Schritt werden die ersten drei zusammengefaßt und verhärtet. Die dabei konstruierten "Rassen" sind als sozialpsychologische Kategorien klar erkennbar: Weder "Weiße" und "Schwarze" der Rassentrennung und Bevölkerungsstatistiken in den USA noch die "Arier" und "Juden" der Nationalsozialisten waren je "Rassen" im Sinne der Bemühungen physischer Anthropologen. Rassisten schaffen sich ihre Rassen selbst aus ihren eigenen Bedürfnissen. Rassismus verschwindet daher nicht automatisch mit den diskriminierten Gruppen. Wie anders ist es zu erklären, daß z.B. der Antisemitismus in Europa überdauert, obwohl Juden nach Massenmord und Vertreibung hier eine verschwindend geringe Minderheit sind? Man kann in einem mehrfachen Sinne von " Rassismus ohne Rassen" sprechen.
     
     

    Naive Grundzüge der Rassenkunde

    Die wesentlichen Aussagen der anthropologischen Rassenkunde zeigen deutlich den bestimmenden Einfluß sozialpsychologischer Faktoren. Ins Auge fällt die Parallelität zwischen kulturell verschiedenen Einteilungen der Menschen und der Vielzahl an rassentaxonomischen Systemen. Hier liegt offen zu Tage, daß die Anthropologen bei ihren systematischen Bemühungen nicht nach naturwissenschaftlich definierten Merkmalen klassifizieren, sondern sich ebenso wie andere Menschen von Alltagsvorstellungen leiten lassen, die vom kulturellen und sozialen Umfeld geprägt sind.

     So sind die Hautfarben der "Rassen" das allmählich sich herausbildende Ergebnis eines Farbgebungsprozesses. Hatten noch viele Entdeckungsreisende die Hautfarbe der Chinesen als weiß wie die der Europäer beschrieben oder differenzierend zwischen hell, gelblich, bräunlich bis dunkel abgestuft, so wurden die Beschreibungen in den Rassenklassifikationen eindeutig auf "gelb" fixiert. Die Haut der Chinesen ist nur leicht getönt, ihr mittlerer Pigmentierungsgrad entspricht dem südeuropäischer Menschen. Die Hautfarbe der Chinesen wäre also ähnlich zu beschreiben wie die der Italiener, Spanier oder Griechen. Die Europäer verstanden sich aber als "Weiße". So wurden Südeuropäer (unabhängig vom Pigmentierungsgrad ihrer Haut) "weiß" und Chinesen mußten zum Kontrast "gelb" werden. Das Eigenbild bestimmt das Fremdbild.

     Die Eigenbezeichnung "weiß" wurde exklusiv für Europäer reserviert. Für die nichteuropäischen Völker wurden die Hautfarben "gelb", "rot" und "schwarz" konstruiert. Gelbe Chinesen findet man daher nur in Rassenklassifikationen und sonst nirgendwo. Und natürlich gibt es keine "roten" und "schwarzen" Menschen und auch keine "Weißen". Daß wir das soziale Konstrukt der Hautfarben als mit unserer Wahrnehmung konform halten, beruht also bereits auf der Wirkung dieser Konstruktion.

     Die Pigmentierungsgrade der Haut korrelieren in verschiedenen Regionen der Erde mit der UV-Strahlung. Die Tönung der Haut ist durch Selektion unabhängig in mehreren Regionen der Erde gleichzeitig herausgebildet worden und gibt daher keine nähere Verwandtschaft zwischen den Populationen an. Obwohl selbst typologisch arbeitende Anthropologen heute die Pigmentierung der Haut daher für ein ganz ungeeignetes Merkmal zur Klassifizierung halten, beziehen sich die meisten Rassenklassifikationen nach wie vor auf Hautfarben.

    Plädoyer für einen Konzeptwechsel

    Auch von biologischer Seite wird der Kritik am Menschenrassen-Konzept oft Unverständnis und Widerstand entgegengebracht, da man bei Aufgabe des Rasse-Begriffs allgemeinbiologische Prinzipien verletzt sieht:

    - Rassenklassifikation sei ein in der ganzen Biologie übliches Verfahren;

     - Der Mensch habe biologisch keine Sonderstellung und sei daher wie alle anderen Tierarten zu behandeln;

    - Das Rassenkonzept sei zum Verständnis der Evolution notwendig.

    Zunächst ist festzustellen, daß der Terminus "Rasse" in der Zoologie weitestgehend obsolet ist. Der einzige Objektbereich, in dem "Rasse" als Fachwort angewendet wird, sind die Zuchtformen der Haustiere. Bei diesen liegen tatsächlich "zoologische Formengruppen" vor, die typologisch nach "Rassekriterien" zu beschreiben sind. Die Haustierrassen sind jedoch durch gezielte Auslese und Isolation vom Menschen auf jeweils einen Typ hin enggezüchtet worden. Insofern wurden hier vom Menschen selbst "Typen" erst geschaffen, wie sie Rassenkundier beim Menschen als Naturzüchtung zu erkennen glauben.

     Natürliche Populationen sind jedoch genetisch vielfältig und keineswegs mit Haustierrassen vergleichbar. Die zoologische Klassifikation ist nur auf dem Artniveau zwingend: Jeder sich zweielterlich fortpflanzende Organismus gehört notwendig einer biologischen Art an, die als Fortpflanzungsgemeinschaft definiert ist. Unterhalb des Artniveaus ist die Unterteilung dagegen eine Frage der Zweckmäßigkeit: Es gibt Arten, die nicht weiter untergliedert werden, und solche, bei denen die Gliederung in Unterarten Schwierigkeiten macht. Keine biologische Gesetzmäßigkeit verpflichtet Biologen dazu, Arten in Unterarten einzuteilen.

     Beim Menschen ist die Vielfalt innerhalb und zwischen den Populationen so komplex, daß es unzweckmäßig ist, diese Art zoologisch weiter zu untergliedern. Dieser Befund gilt nicht exklusiv für den Menschen, sondern auch für manche andere Tierart. Für die Untergliederung einer biologischen Art ist jedoch allein wichtig, daß deren geographische Differenzierung damit angemessen beschrieben wird. Das eben ist mit dem Rassenkonzept beim Menschen nicht möglich. Das Verwerfen des Menschenrassen-Konzepts hat also mit dem Postulat einer Sonderstellung des Menschen nichts zu tun. Es ist einfach untauglich, die genetische Verschiedenheit der Menschen in ihrer individuellen und geographischen Vielfalt angemessen zu erfassen.

     Wie die Grundsätze der Klassifizierung werden auch Prinzipien der Evolution durch das Verwerfen des Menschenrassen-Konzepts nicht verletzt, sondern differenziert. Nicht nur bezogen auf den Menschen ist die Vorstellung zu revidieren, Populationsdifferenzierungen entstünden allein durch Selektion in geographisch isolierten Züchtungsräumen. Die molekulargenetische Rekonstruktion der Geschichte menschlicher Populationen erklärt die genetische Differenzierung hauptsächlich aus Wanderschüben und Alleldrift (Gendrift) sowie Allelfluß (Genfluß) zwischen Populationen, ohne daß ein längerer Aufenthalt in isolierten Räumen angenommen werden muß. Schon deshalb ist die wanderaktive Art Mensch nicht in geographische Unterarten differenziert. Alle heutigen nicht in Afrika lebenden Menschen sind Nachfahren einmal aus Afrika ausgewanderter Menschen. So, wie die nach Amerika ausgewanderten Europäer dort nicht zu einer neuen "Rasse" wurden, so wenig gilt dies auch für unsere wandernden Vorfahren. Ob es uns gefällt oder nicht: Im Grunde genommen sind wir alle Afrikaner.

     Der Abschied vom anthropologischen Rasse-Begriff ist Teil eines wissenschaftsethisch notwendigen Konzeptwandels. Mit ihm wird erkannt, daß die Evolution des Menschen und die Populationsgeschichte komplexer sind, als es schematische Vorstellungen von Rassen- und Artbildung vorzuschreiben scheinen.

     Für eine Humanbiologie jenseits von "Rasse" ergeben sich folgende Schlußfolgerungen und Aufgaben:

    - "Rasse" ist kein biologisch begründbares Konzept. Die systematisch schwer faßbare genetische Verschiedenheit der Menschen legt nahe, die Bemühungen um Klassifikationen unserer Spezies beiseitezulegen und das Konzept der Rasse durch die Beschreibung und Analyse der Vielfalt der Menschen selbst zu ersetzen. Die Menschheit besteht nicht aus drei, fünf, sieben, 35 oder 300 "Rassen", sondern aus annähernd sechs Milliarden Menschen. Nicht Typenbildung und Klassifikation von Typen sind wissenschaftlich gefragt, sondern das Verstehen von Vielfalt und Individualität.

     - Mit dem Abschied vom Menschenrassen-Konzept ist Rassismus nicht erledigt. Rassistische Überzeugungen sind jedoch von der biotischen Existenz von Rassen nicht abhängig, sondern erzeugen sich ihre Rassen selber.

    - Wer weiterhin naturwissenschaftlich von Rassen des Menschen sprechen will, muß erklären, in welchem Sinne dies sachgemäß und auch im Lichte der geschichtlichen Wirkungen des Konzepts gerechtfertigt sein könnte. Hinter dieser Forderung lauert kein Denkverbot, sondern das Gebot, Denkgewohnheiten zu hinterfragen und Konzepte auch hinsichtlich ihrer ethischen Implikationen zu reflektieren. Wissenschaftler sind nicht nur verantwortlich für das handeln, sondern auch für das Denken, das sie nahelegen oder anstiften.

     * Prof. Dr. Ulrich Kattmann lehrt Didaktik der Biologie und Humanbiologie am FB 7. Der stark gekürzte Text war Grundlage eines kürzlich gehaltenen Vortrages vor dem Oldenburger Landesverein.


    (Stand: 19.01.2024)  | 
    Zum Seitananfang scrollen Scroll to the top of the page