Hochschulzeitung UNI-INFO

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Festrede

1989: Ein Spiegel ist zerbrochen

Auszüge aus der Festrede des Schriftstellers György Dalos auf der 25-Jahr-Feier

Carl von Ossietzky hatte in der Zwischenkriegszeit einen ungarischen geistigen Bruder, den Publizisten György Bálint, einen Mann mit melancholischer Ironie, der mit der damals verbotenen Kommunistischen Partei Ungarns sympathisierte, aber vornehmlich für bürgerliche Zeitungen schrieb. [...] Im Vorgefühl des drohenden Krieges formulierte er im Herbst 1936 eine "Grabschrift des unbekannten Europäers":

"Europa existiert nicht mehr, es ist seit langem von verschiedenen Staaten besetzt, die sich mit höllischem Spott manchmal europäisch nennen. [...] Einige Anzeichen haben uns irregeleitet. Wir glaubten, daß all das, was auf dem Erdteil namens Europa in geistiger Beziehung geschah, uns zu einem wahren Europa verhelfen würde. Wir glaubten an eine große, einheitliche, geistige Heimat, die so viele Landesnehmer von Platon bis Thomas Mann kannte. Wir glaubten daran, daß die griechischen Tragödien, die Filme von Eisenstein, die Gotik und Tolstoj, Dante und Beethoven, Galilei und Freud, Goethe und André Gide, Michelangelo und Lord Rutherford, den Willen eines großen Gemeinwesens verkörperten. [...]

Universität, Kultur und Menschenrechte

Einige, wenn auch indirekte Parallelen zu unseren Tagen erleichtern mir möglicherweise die Verknüpfung der Themen "Universität", "Kultur" und "Menschenrechte". Der Zusammenhang dieser Begriffe ist nämlich ein originär europäisches Phänomen und wurzeit in der ursprünglichen Autonomie der Institutionen des Hochschulwesens. [...] Die Konzentration von jungen Leuten - damals noch ausnahmslos von Männern - in der Aula von Padua, Wittenberg, Paris und Oxford hatte von Anfang an etwas Subversives an sich. Die Studiosi orientierten sich auf andere, wissenschaftliche und moralische Werte, als die "erwachsene" Gesellschaft, sie stellten das Publikum für das intellektuelle Feuerwerk der Renaissance und der Aufklärung. Sie kämpften für die Menschenrechte und die Kultur zu Zeiten, als selbst diese Worte im heutigen Sinne noch fehlten, indem sie aus ihren individuellen Rechten alltäglich Gebrauch gemacht und die Kultur als ausreichende Legitimation betrachtet hatten. Der universitäre Charakter der alma mater von damals bedeutete gleichzeitig die Ablehnung jedes Partikularismus - es gab per definitionem keine nationalistischen Hochschulen. Aus Oxford zu kommen, bedeutete so etwas wie eine kosmopolitische Staatsangehörigkeit.

Im 20. Jahrhundert gab es fast keine Staatsgebilde, denen die historische universitäre Autonomie behagt hatte - autoritäre Systeme wie der Nationalsozialismus oder der italienische Faschismus trachteten danach, sie voll abzuschaffen. Selbst freiheitlich-pluralistischen Staatsordnungen fiel der Umgang mit der Universität schwer. Als Antwort kamen die Studentenunruhen der späten sechziger Jahre, deren Protagonisten sich wiederum zwischen Aula und Mensa als Akteure der zweiten Ausgabe der russischen Oktoberrevolution sahen. [...]

Der Hauptmangel der Achtundsechziger bestand darin, daß sie sich um ihre legitimen demokratischen Rechte ringend einer weltweiten Klassenkampflogik bedient hatten und andere Konstellationen - etwa diejenigen einer kommunistischen Diktatur - nicht wahrnehmen konnten oder wollten. Sie dachten in der Theorie der repressiven Toleranz, während die gute Hälfte des Kontinents von einer repressiven Intoleranz geprägt wurde. Sie wollten die Phantasie an die Macht bringen, während in Prag real existierende Panzer die Emanzipationswünsche einer Generation von Studenten zunichte gemacht hatten. [...]

In seinem offenen Antwortschreiben an Albert Camus setzte sich der französische Philosoph Jean-Paul Sartre im Sommer 1952 mit dem immer militanter gewordenen Antikommunismus des ersteren ziemlich hart auseinander. In der Polemik, die das Ende einer großen Freundschaft und des literarischen Bündnisses zeitigte, ging es um die Vergleichbarkeit des Stalinschen Gulags mit Greueltaten im kapitalistischen Bereich, etwa im damals wütenden Koreakrieg.

Feindbild West und Feindbild Ost

In den Jahren der scharfen Blockkonfrontation vertrat Sartre den klassisch linken Standpunkt, dem zufolge Kritik an der Sowjetunion und den osteuropäischen Volksdemokratien nur in solidarischer Form und außerhalb des Chors der rechten bürgerlichen Verdammer geäußert werden sollte. In den meisten Fragen dieser Diskussion hatte Camus gegenüber seinem Widersacher recht. Allerdings muß zur Entschuldigung des Philosophen im nachhinein erwähnt werden, daß die Welt in jener Zeit - einige Jahre vor den Enthüllungen beim XX. Parteitag der KPdSU - noch ziemlich wenig vom tatsächlichen Ausmaß des Terrors im Ostblock wußte, und daß Sartre sich trotz der Enge seiner Ausführungen als das erwies, was er wirklich war: ein scharfsinniger Denker. So schrieb er damals in den "Temps modernes" auch den berühmten Satz: "Der Eiserne Vorhang ist nur ein Spiegel, und jede Weithälfte spiegelt die andere wider."

Und tatsächlich: Die Logik der Militärblöcke ließ für Jahrzehnte einen besonderen Ost-West-Dualismus der Sichtweise durchsetzen. Das Feindbild West bestand aus Begriffen wie "Imperialisten", "Kolonialisten", "Kriegshetzer", versuchte die Marxsche Theorie der absoluten Verelendung' der kapitalistischen Gesellschaften auf das technische Zeitalter anzuwenden und predigte einen schnell zu erwartenden "Untergang des Abendlandes". Allerdings suchte man östlicherseits, durch den Eisernen Vorhang ausgerechnet den Vergleich dieses Feindbildes mit der Realität zu verhindern.

Das Feindbild Ost operierte mit Termini wie "versklavte Nationen", hoffte zunächst auf innere Rebellionen, später auf langsame Erosion der kommunistischen Welt und fand in den achtziger Jahren in den Worten Reagans von der Sowjetunion als "Reich des Bösen" seinen exakten Niederschlag.

Unabhängig von seinem Wahrheitsgehalt diente das jeweilige westliche Feindbild als Spiegelbild. So deutete die Annahme der Existenz eines "Reichs des Bösen" darauf hin, daß es auch ein "Reich des Guten" geben soll, in dem Freiheit, Demokratie und Wohlstand blühen. Es gab kaum Kritiker der modernen westlichen Gesellschaft, denen man nicht mindestens einmal das negative Beispiel des Ostblocks vorgehalten hatte. Wenn jemand gegen den Algerienkrieg protestierte, warf man ihm vor, die sowjetischen Panzer in Budapest verniedlichen zu wollen. Wenn Demonstranten die Einstellung des Krieges in Vietnam forderten, wurden sie mit dem Einmarsch des Warschauer Paktes in Prag abgefertigt. Die Havarie des Atomkraftwerks in Harrisburgh sollte durch Tschernobyl entschuldigt werden, dem chilenischen Putschgeneral Pinochet wurde sein polnischer Kollege Jaruzelski entgegengestellt.

Dabei wurde keineswegs nur Vergleichbares verglichen. Für die Arbeitslosigkeit in Großbritannien mußte die Verfolgung von Dissidenten in Moskau als Gegengewicht dienen, die Inflation in Italien galt als immer noch besser als etwa die Zensur in der DDR, und die Schlangen vor Lebensmittelläden in Rumänien schienen gewissermaßen das Abtreibungsverbot in Irland zu rechtfertigen.

Ich spreche hier keineswegs von den bewußten Machenschaften einer zentralgesteuerten westlichen Propagandaküche - mit denen die östliche Propaganda ihrerseits alle Reibungen zwischen Staat und Gesellschaft zu erklären suchte -, sondern von einem bestimmten Automatismus, mit dem die westliche Zivilisation alle tatsächlichen oder vermeinten Übel des real existierenden Sozialismus' zum indirekten Beweis ihrer Überlegenheit uminterpretierte. Zudem war diese Überlegenheit, jedenfalls was die Funktionsfähigkeit des Systems betraf, dermaßen offensichtlich, daß sie scheinbar keine zusätzliche Legitimierung gebraucht hätte. Trotzdem verzichtete die westliche Welt nie auf den Vergleich mit dem Osten, von dem sie sich immer ein gutes Zeugnis versprach. Dieser Drang war mitunter so stark, daß man sagen könnte: Hätte es den Kommunismus nicht gegeben, er hätte erfunden werden müssen, um die narzistischen Bedürfnisse der westlichen Demokratien zu befriedigen.

Die Welt braucht eine Erneuerung

Die Systeme im Osten sind an ihren Verbrechen, Fehlern und an struktureller Schwäche untergegangen. Jene Mischung von Gewalt und Lüge, die sie jahrzehntelang zementierte, reichte nicht aus, um der ökonomischen, politischen und kulturellen Berührung mit dem Westen standzuhalten. So kam es nicht nur zu einem inneren Zusammenbruch, sondern auch zu einer Auflösung der Ost-West-Grenze, jenes Eisernen Vorhangs, den Sartre einst mit einem Spiegel verglichen hatte. [...]

Der Spiegel ist jedoch zerbrochen, und die westliche Welt muß auf ihr früheres Bezugssystem verzichten und erkennen, daß sie nicht einfach am Ende eines abgeschlossenen, sondern vielmehr am Beginn eines noch einzuleitenden Prozesses steht. Die Welt braucht nach wie vor eine Erneuerung, und eine Chance zum Überleben haben nur Systeme, die erneuerungsfähig sind. [...]

Was kann ich als ein Mensch des ausgehenden 20. Jahrhunderts Studentinnen und Studenten empfehlen, die ihre wissenschaftliche Laufbahn und menschliche Existenz bereits im dritten Jahrtausend vollenden werden? Ich möchte in keinem Fall schulmeisterisch auftreten, sie wissen ohnehin, was faktische Kenntnisse anbelangt, bereits jetzt viel mehr, als ich und meine Generation je wissen konnten. Vielleicht kann ich jedoch mit einigen persönlichen Ratschlägen nützlich sein:

Wenn jemand mit großen Begriffen wie Menschenrechte, Frieden oder Demokratie kommt, stellen Sie sich für eine Sekunde vor, sie hätten diese Worte jetzt zum ersten Mal gehört und müßten sie deswegen auf ihren Inhalt hin überprüfen.

Bei jeder Diskussion, in der es um die Wahrheit geht, verlassen Sie sich bitte nicht allein auf die Kraft der Argumente; fragen Sie auch Ihre Gefühle und suchen Sie den Blickkontakt mit Ihren Gesprächspartnern.

Und schließlich: Wenn Sie ein Arbeitszimmer mit allen vorstellbaren Attributen der modernsten Medien- und Kommunikationstechnik zur Verfügung gestellt bekommen, tragen Sie, bitte, nicht nur um die Funktionsfähigkeit Ihres Internetgerätes Sorge, sondern auch darum, daß in der besagten Räumlichkeit auch Pflanzen ihren Platz finden.

***Die vollständige Rede ist erschienen in der Reihe "Oldenburger Universitätsreden" (Nr. 115)


Presse & Kommunikation (Stand: 06.09.2024)  | 
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