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Suchtkrankenhilfe, Vernetzung und Qualitätssicherung

Zehn Jahre Regionaler Arbeitskreis und zehn Jahre Betriebliche Suchtprävention im Studentenwerk und der Universität / Von Günter Schumann*

Suchtkrankenhilfe - Vernetzung - Qualitätssicherung: drei Begriffe, bei denen sich im ersten Moment einiges sträubt, sie als aufeinander bezogene Elemente eines möglichen Ganzen zu assoziieren. Wobei das mögliche Ganze u.a. heißen kann: Betriebliche Sozial- und Suchtberatung der Carl von Ossietzky Universität und des Studentenwerks Oldenburg, Regionaler Arbeitskreis Betriebliche Suchtprävention oder auch die Zukunft betrieblicher Suchtprävention. Dass diese drei Bereiche wiederum eine sinnvolle Verbindung eingehen können, zeigte sich im April auf der Fachtagung „Stand und Perspektive betrieblicher Suchtprävention“ im Bibliothekssaal. Anlass war das zehnjährige Bestehen des Regionalen Arbeitskreises betriebliche Suchtprävention.

Nachdem die Universität und das Studentenwerk im Februar 1989 eine Arbeitsgruppe gebildet hatten zur Klärung der Frage, wie „Suchtprobleme in der Arbeitswelt“ in diesen beiden Institutionen zukünftig offensiver aufgegriffen werden könnten, kam es im April 1990 erstmals zu einem Informationsaustausch mit örtlichen und regionalen Behörden und Betrieben. Bereits auf diesem ersten Treffen wurde der Regionale Arbeitskreis Betriebliche Suchtprävention (RABS) konstituiert.
Zum Arbeitskreis haben im Laufe der Zeit immer wieder neue Betriebe und Behörden Zugang gefunden. Natürlich musste das eine oder andere Unternehmen auch feststellen, dass betriebliche Suchtprävention nicht so einfach von heute auf morgen umzusetzen ist. So kommt es, dass bisher fast 60 verschiedene Institutionen, Betriebe und Behörden über einen kürzeren oder längeren Zeitraum am Arbeitskreis beteiligt waren.

Dieser Zuspruch spiegelt die Bedeutung des Arbeitskreises in der Vernetzung von Betriebs- und Personalräten, Personalleitern und Betriebsärzten, betrieblichen Suchtberatern und nebenamtlichen Suchtkrankenhelfern mit den psychosozialen Diensten, den Suchttherapeuten aus den Beratungs- und Behandlungsstellen sowie aus den Fachkliniken wider. Eine Vernetzung, die auf der einen Seite dem gegenseitigen Verständnis und der gegenseitigen Befruchtung sowie der Qualifizierung dient, und die gleichzeitig mahnt, über den betrieblichen Tellerrand zu schauen und nicht in veralteten Verfahren und Strukturen stecken zu bleiben. Eine Vernetzung, die auf der anderen Seite wichtig ist, weil Suchtarbeit im Betrieb häufig ein einsames, teils isoliertes Arbeitsfeld ist und von daher des fachlichen Austausches sowie der Kooperation nach außen bedarf als Rahmenbedingung für höchstmögliche innerbetriebliche Transparenz.

Der Regionale Arbeitskreis hat in seinen vierteljährlich stattfindenden Treffen eine breite Themenpalette behandelt: von Fragen der betrieblichen Intervention bei Alkoholproblemen über den Zusammenhang von Arbeitsbelastungen und Suchtmittelmissbrauch, Fragen der betrieblichen Gesundheitsförderung bis zu den Angeboten ambulanter und stationärer Therapie. Die Geschichte des Regionalen Arbeitskreises fällt in einen Zeitraum, der gleichzeitig als eine Phase des Umbruchs, der Neu-Definitionen in der betrieblichen Suchtkrankenhilfe bezeichnet werden kann.
Dies wird deutlich an der Historie der Betrieblichen Sozial- und Suchtberatung des Studentenwerks und der Universität (BSSB). Die anfängliche Konzeption zur Suchthilfe sowie die Bestellung eines Suchtbeauftragten ist vergleichbar mit dem Einstieg vieler anderer Betriebe und Behörden in die betriebliche Suchtkrankenhilfe. Die Eckpfeiler beschränkten sich auf eine Dienstvereinbarung zur Suchthilfe, einen Interventionsplan bei Suchtproblemen sowie ein eher nebenamtliches Suchtberatungsangebot. Zwar war zum damaligen Zeitpunkt schon die Beschränkung auf die sog. Alkoholhilfsprogramme überwunden, aber die Zielrichtung hieß Ende der 80er Jahre noch eindeutig: stoffliche Abhängigkeiten.

Die alltägliche Praxis zeigte sehr schnell, dass das eingeschränkte Angebot auf eine breitere Nachfrage stieß - vor allem hinsichtlich psychosozialer Beratung. Die sich in vielen Institutionen vollziehende Öffnung von der betrieblichen Suchtkrankenhilfe zur Präventionsarbeit, zur psychosozialen Beratung, zur betrieblichen Gesundheitsförderung und vor allem in Richtung Professionalisierung findet sich für das Studentenwerk und die Universität 1993 wieder in der Einrichtung einer Halbtagsstelle für die betriebliche Sozial- und Suchtberatung sowie in einer entsprechenden - auch aufgabenbezogenen - Neufassung der Dienstvereinbarung.

Die Entwicklung in den 90er Jahren machte deutlich, dass psychosoziale Serviceangebote im betrieblichen Bereich stark durch die gesellschaftlich-ökonomische Entwicklung beeinflusst sind. Schlagworte wie „Lean Management“ etc. setzten die betrieblichen Sozial- und Suchtberatungen einerseits unter stärkeren Legitimationsdruck, andererseits führen betriebliche Veränderungs-/Anpassungsstrategien auch immer zu steigenden psychischen Belastungen und damit zu einer verstärkten bzw. veränderten Beratungsnachfrage. Dies hat dazu beigetragen, sich mehr der betrieblichen Konfliktmoderation zuzuwenden bis hin in die Bereiche der Organisations- und Personalentwicklung. Auch im Rahmenkonzept der Personalentwicklung in Niedersachsen ist die Suchtkrankenhilfe neben der Mobbinghilfe, der Hilfe bei psychischen Erkrankungen etc. im Handlungsfeld Personalbetreuung als Teil von Personalentwicklungsmaßnahmen aufgenommen worden. Innerbetrieblich hat sich im Studentenwerk und der Universität in den letzten Jahren ebenfalls eine neue Nachfrage zur Klärungshilfe bei Arbeitskonflikten sowie Teamkonflikten ergeben.
Der sich aus den unterschiedlichen neuen Rahmenbedingungen ergebende Veränderungs- und Entwicklungsbedarf war ein wichtiger Diskussionspunkt auf der Fachtagung des Regionalen Arbeitskreises. Als aktuelles Thema gilt dabei vor allem

• die Qualitätsdiskussion. Sowohl die Diskussion über Qualität allgemein in den Betrieben als auch die Forderung nach Qualitätssicherung in der sozialen Arbeit stellt viele gewohnte Verfahrensweisen in Frage. In Anlehnung an die Qualitätsstandards im ambulanten und stationären Bereich sind hier die betrieblichen Sozial- und Suchtberatungen gefordert;

• die Kosten-Nutzen-Debatte (Evaluation). Eng verbunden mit der Qualitätssicherung ist die Forderung nach handhabbaren, einfachen und nachvollziehbaren Evaluationsverfahren, die die Entscheidungen über betriebliche Investitionen erleichtern;

• die Entwicklung in der professionellen betrieblichen Sozialarbeit. Diese vernetzt sich zunehmend, entwickelt ein anderes Selbstverständnis, eine eigenständige Identität. Sie sucht eine stärkere Anbindung in der Nähe von strukturellen Fragestellungen, Organisations- und Personalentwicklung und orientiert sich damit weg vom klassischen Modell der Betriebsfürsorge;

• die Entwicklung in der Suchttheorie. Wissenschaftliche Erkenntnisse, theoretische Diskurse, die Verbreitung neuer Ansätze hat dazu geführt, dass einige „heilige Kühe“ der Suchtarbeit „geschlachtet“ wurden. So die Relativierung des Krankheitskonzeptes oder die Infragestellung des Abstinenzparadigmas und differenzierte Formen therapeutischer Betreuung.

Die BSSB ist dabei, sich diesen Anforderungen zu stellen. So werden im Arbeitsbericht der BSSB für das Jahr 1999 erstmals die bisherigen Postulate zur Qualitätssicherung konkretisiert und Qualitätsstandards für die betriebliche Sozial- und Suchtberatung formuliert. Die Arbeit hieran hat wiederum die zwingende Notwendigkeit zur Vernetzung aufgezeigt, die von der BSSB auch im Netzwerk der Sozial- und Suchtberatungen der niedersächsischen Universitäten konstruktiv umgesetzt wird.

So kann die betriebliche Sozial- und Suchtberatung der Universität und des Studentenwerks auf eine zehnjährige Geschichte zurückblicken, die von beständiger Reaktion auf neue Anforderungen, Initiativen und Entwicklungen geprägt ist. In diesem Sinne wird die BSSB weiter bemüht sein, den Beratungsbedarf der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei psychosozialen Problemen, bei Suchtproblemen, bei Arbeitskonflikten etc. abzudecken, die Rahmenbedingungen sowie die Beratungsqualität zu verbessern und Transparenz herzustellen.

* Der Autor ist Betrieblicher Sozial- und Suchtberater von Universität und Studentenwerk sowie Sprecher des Regionalen Arbeitskreises Betriebliche Suchtprävention.

Noch immer postfaschistische Gesellschaft?

Eine Kritik der Kritik zur Oldenburger Konferenz "Das Jahrhundert verstehen - Hannah Arendt - Theodor W. Adorno" / Von Gerhard Kraiker

Unter dem Titel "Ankommen in der Berliner Republik?" hat in der letzten Ausgabe des UNI-INFO eine Autorengruppe vehemente Vorwürfe gegen einige Referenten/innen der Konferenz "Das Jahrhundert verstehen. Hannah Arendt - Theodor W. Adorno" erhoben. Die Konferenz fand im Februar statt; sie war eine gemeinsame Veranstaltung des Hannah Arendt-Zentrums und der Theodor W. Adorno-Forschungsstelle in Verbindung mit dem Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst. Im folgenden nimmt Prof. Dr. Gerhard Kraiker, Mitveranstalter der Arendt-Adorno-Konferenz, Stellung.

Im Untertitel ist der Artikel als "Kri- tischer Bericht" deklariert, so dass der Eindruck entstehen könnte, hier werde das Ganze der Konferenz ins Auge gefasst. Tatsächlich wird nur ein Teil angesprochen, anregende Vorträge wie die von Albrecht Wellmer zu Arendts Revolutions- und Demokratietheorie, von Tilman Allert zu Typologien der Exilverarbeitung, von Axel Demirovic zur Totalitarismuskritik der Kritischen Theorie, von Wolfgang Heuer zum Menschenbild bei Adorno und Arendt werden gar nicht erwähnt. Dass diese Weglassung nicht Äußerlichkeiten geschuldet ist, gibt die Autorengruppe zu verstehen, wenn sie die ihrer Auffassung nach dem Konferenzthema einzig entsprechende Fragestellung - wie kann der Geschichtsbruch, den die nationalsozialistischen Vernichtungslager darstellen, Ausgangspunkt für das Denken danach sein? - auf Arendt und Adorno im Jahre 2000 projiziert: "Hätten Hannah Arendt und Theodor W. Adorno noch selbst befragt werden können ..." - Ach ja, was hätten sie gesagt? Zu allererst wohl, dass das eine arg autoritätshörige Frage ist, die sonst in Verbindung mit Religionsstiftern gestellt zu werden pflegt. Als ob nicht beide ihre Fragestellung aus der Nachkriegszeit selbst schon in Reflexionen über das neu Entstandene und das vielleicht noch Mögliche weitergeführt hätten.

Differenzierungen werden nicht zugelassen
Dass die Konferenz aus dem Blick- winkel des Eigentlichkeitsanspruchs ihrer Fragestellung defizitär sein werde, stand für die Autorengruppe schon fest, bevor sie wusste, was dort gesagt werden würde. Am Tage vor Beginn der Konferenz hatten einige der Unterzeichner schon eine Art Vorwarntagung veranstaltet. Ihre Befürchtungen fanden sie dann offensichtlich auf der Konferenz voll bestätigt, denn die Logik ihrer Relevanzdeutung hätte wohl verlangt, die Bundesrepublik aus der Sicht der NS-Analysen von Adorno und Arendt als nach wie vor postfaschistische Gesellschaft, hauptsächlich durch Antisemitismus, Rassismus und wieder auflebenden Nationalismus gekennzeichnet, in den Mittelpunkt zu rücken. Weil das nicht geschah, ja die gegenwärtigen bundesrepublikanischen Verhältnisse überhaupt nur vereinzelt explizit berührt wurden, holen sie in ihrem Artikel die versäumte Kontroverse nach, indem sie Auffassungen unterstellen, die niemand geäußert hat und die auch nicht in der Konsequenz irgendeines Konferenzbeitrags liegen: "Ankommen in der Berliner Republik", "Arendt für einen Gründungsmythos der Berliner Republik ... vereinnahmen", "Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit und die Konstruktion einer positiven deutschen Identität", "Integrationsbereitschaft [als] die Grundlage für die Frage nach der Gewährung von Rechten für Migrantinnen und Migranten".

Was Lothar Probst, Soziologe an der Universität Bremen und als Grüner seit Jahren engagiert in Fragen der Ausländerpolitik, in diesem Zusammenhang als politische Bestrebung unterstellt wird, ist schon übel. (Was er tatsächlich gesagt hat, ist nebenstehend in der betreffenden Passage seines Beitrags als Moderator nachzulesen.) Fast hat man den Eindruck, wieder einmal sei einer das Opfer einer total negativen nationalen Identitätsfixierung (die Kehrseite der total positiven, und so einseitig wie diese), die die Wahrnehmung von Differenzierungen nicht zulässt.

Lothar Probst ist so wenig wie einer der Konferenzveranstalter oder ReferentInnen an der Suche nach positiver nationaler Identität beteiligt; wenn schon Identität, dann eine zivilgesellschaftlich-demokratische. Darin wird Übereinstimmung bestehen, aber die Differenz ist möglicherweise, dass die Autorengruppe der Bundesrepublik aufgrund ihrer Kontinuitätsannahme schon die Voraussetzungen dafür abspricht. Wer die gegenwärtigen Erscheinungen von Rassismus und Antisemitismus aus einer latent ungebrochenen Kontinuität des Nazismus oder dem Fortbestand der "'objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen ... die den Faschismus zeitigten'" erklären will, also die gravierend andere Problemkonstellation heute im Vergleich zu den 20er/30er Jahren nicht wahrnimmt, verschließt sich damit auch gegenüber dem, was an zivil-demokratischen Fortschritten erreicht und was noch möglich ist. Die Arbeiten Arendts und Adornos zum Nationalsozialismus sind gewiss nicht ohne Interesse auch für Gegenwartsprobleme, wie Lars Rensmann auf der Konferenz an ihren Antisemitismusanalysen überzeugend gezeigt hat, aber sie können nicht mehr der Schlüssel für das Gegenwärtige sein. Verwunderlich, dass ein Älterer, für den Arendts und Adornos NS-Analysen schon vor dem Studium höchst bedeutsam waren, und es über vierzig Jahre geblieben sind, die (überwiegend) Jüngeren darauf hinweisen muss.

Wenig Fairness lassen die Autoren auch gegenüber anderen ReferentInnen der Tagung walten. Gegen Antonia Grunenberg glauben sie geltend machen zu müssen, dass Hannah Arendt in einem anderen Text den Begriff des gesunden Menschenverstandes anders verwandt habe. Dabei hatte die Referentin zu Beginn ihres Vortrags ausdrücklich betont, sie wisse, dass Arendt den Begriff in verschiedenen Texten unterschiedlich verwende. In der ausschließlichen Wahrnehmung von Arendts Schriften zum Nationalsozialismus entgeht ihnen deren Weiterdenken, so etwa ihre Ausführungen zu dem Begriff im Anschluss an Kants sensus communis in "Vom Leben des Geistes" (S. 55 ff, S. 454 ff) und in "Das Urteilen" (S. 94 ff).

Theologische Kategorien
Am schlimmsten trifft das Verdikt der Autoren die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Dagmar Barnouw. Auf ihre allemal provokanten und vor Missverständnissen nicht hinreichend abgesicherten Thesen gab es schon während der Konferenz zwei Reaktionsweisen: eine, die sie als Denkanregung aufnahm, was Zustimmung nicht ein- und Kritik nicht ausschloss, und eine, die ihre Thesen in entsetzter Empörung als ungeheuerliche Zumutung zurückwies. Die Autoren versuchen nun, ihre Empörung auf die Leserschaft zu übertragen, indem sie eine Darstellung der Intention von Dagmar Barnouw durch Ausstreuen von Reizworten ersetzen und ihr eine fatale Schlussfolgerung andichten, die sie definitiv ins politisch rechte Licht rückt. Die Reizworte sind solche durch den Historikerstreit aufgeladenen: Einzigartigkeit von Auschwitz, Historisierung, Kontextualisierung. Die fatale Schluss- folgerung, die die Referentin an die Seite von Nolte u.a. stellt, ist der Zusatz: "... und relativierte die Rolle und die Verantwortung der Täter." Dagmar Barnouw hat, von mir als Moderator auf diese mögliche Schlussfolgerung angesprochen, ausdrücklich betont, dass sie dies "selbstverständlich" nicht meine. Auf diesen Punkt kommt es jedoch entscheidend an, weil seit dem Historikerstreit Schuldentlastung als zwangsläufige Folge der Historisierung gedeutet wird, was von Nolte ja auch tatsächlich intendiert war. Dagmar Barnouws Vortrag hingegen bezog sich auf die gegenwärtige Kontroverse, ob der Holocaust als ein Absolutes in der Geschichte zu verstehen ist, zu dem alles Davor und Danach in unabdingbarem universellen Bedeutungsbezug steht, oder als ein historisch zu begreifender Zivilisationsbruch, der unter bestimmbaren Bedingungen stattfand, der dem Vergleich mit anderen Zivilisationsbrüchen nicht vorab entzogen ist (wie bei Arendt in den "Elementen", wo die nationalsozialistischen und stalinistischen Lagersysteme unter dem Begriff totaler Herrschaft in Beziehung gesetzt sind) und der von anderen Völkern möglicherweise anders gewichtet wird. Wenn Dagmar Barnouw die "Heiligsprechung" des Holocaust in Frage stellt, dann deshalb, weil das Heilige wie das Absolute letztlich theologische Kategorien sind. In ihren Worten: "Absoluta dieser Art sind praemodern, denn in der Moderne gilt die Historizität und Intersubjektivität, d.h. Relativität und Temporalität politischen und sozialen Handelns".

Drohung mit Klage wegen Antisemitismus
Es geht hier nicht um die Evidenz dieser Thesen, sondern um das Recht, sie auszusprechen in der Erwartung einer fairen Diskussion. Das gilt auch für die Kritik an Bubis, in der Debatte mit Walser um "der Erhaltung eines supra-historischen jüdischen Holocaust" willen eine historisierende Reflexion verweigert zu haben. Solcherart Kritik ist von jüdischen AutorInnen schon vor Jahren geübt worden (z.B. Michael Wolfssohn, Ernst Tugendhat, Rafael Seligmann, Sonja Margolina); für die Autorengruppe hingegen ist jede Kritik an jüdischem Verhalten ta- bu, Ausweis für "antisemitisches Ressentiment". Sie glauben damit, der Stärkung rechtsradikaler Tendenzen vorbeugen zu müssen, tatsächlich jedoch laufen sie Gefahr, sich die Grenzen ihrer Wahrnehmung und ihres Denkens von jenen Rechten vorgeben zu lassen. So tief verschreckt, wie sich die Autorengruppe über Dagmar Barnouws Thesen zeigt, so ist diese es über deren aggressive Reaktion. Schon im zweiten Diskussionsbeitrag zu ihrem Vortrag sprach einer der Unterzeichner des Artikels von der Möglichkeit, sie wegen Antisemitismus zu verklagen. Als Beleg dafür, dass ihre Gedanken auch in Deutschland nicht so abwegig sein können, schickte sie mir dieser Tage ein Interview, das Fritz von Klinggräffe mit Volker Knigge geführt hat. Knigge ist übrigens Absolvent unserer Universität, jetzt Direktor der "Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora". Auch bei Knigge heißt es: "Man darf sich nichts vormachen - Historisierung ist unausweichlich." Und in ihrer Kritik an der Sakralisierung des Holocaust sieht sich Dagmar Barnouw durch Knigges Wahrnehmung bestätigt: "Das Problem ist, dass sich gerade in Amerika um den Holocaust zurzeit so etwas wie eine Zivilreligion herausbildet. In Stockholm war das übrigens auch so: Auf der großen Konferenz für 'Holocaust Education, Documentation and Research' hatte man den Eindruck, hier der Entstehung einer Zivilreligion beizuwohnen, in deren Mittelpunkt das radikal Böse, der Holocaust, steht. Es gab relativ wenig an rationalem Diskurs, stattdessen die Forderung nach Empathie, nach Die-Botschaft-Weitertragen. Unter Zivilreligion versteht man ja auch, dass ihr Kern rationaler Kritik verschlossen ist."

Lothar Probst auf der Arendt-Adorno-Konferenz: Kommentar zu den Vorträgen (Auszug):
Man hat mich gebeten, den heutigen Konferenztag mit einer Art zusammenfassender und vergleichender Kommentierung der drei Vorträge des gestrigen Nachmittags einzuleiten. Nun, da jeder dieser Vorträge seiner eigenen Thematik und Logik folgte, erscheint mir diese Aufgabe nur schwer lösbar zu sein. Ich will aber zumindest versuchen, einige Fragestellungen herauszuarbeiten, die sich mir aufgedrängt haben und die in den weiteren Diskussionen noch einmal aufgegriffen werden könnten.

Am weitesten vorgewagt in einen ungeschützten Raum - man könnte auch sagen: in vermintes Terrain - hat sich sicherlich Dagmar Barnouw mit ihrem Vortrag. Es war, denke ich, zu erwarten, dass ihr Plädoyer für eine Historisierung der Erfahrung des Holocaust heftige Gegenreaktionen hervorrufen würde. Ich will an dieser Stelle einige Reaktionen aus dem Publikum - wie etwa, der Vortrag sei eine "Körperverletzung" gewesen - nicht weiter kommentieren, den Vorwurf der antisemitischen Rede aber kann man nicht unkommentiert stehen lassen. Der zugegebenermaßen riskante Versuch von Dagmar Barnouw, aus einer zwanghaften Kontinuitätslogik auszubrechen, in der alle politischen Geschehnisse und Diskussionen der Gegenwart auf ein in der Vergangenheit liegendes Ereignis fokussiert werden, kann natürlich vom Standpunkt eines Diskurses, der die Erinnerung an den Holocaust als unauslöschbares Zeichen der deutschen Geschichte ins Zentrum des kollektiven politisch-kulturellen Gedächtnisses stellt, legitimerweise kritisiert werden. Das berechtigt meines Erachtens aber noch nicht, den Versuch einer Einordnung des Holocaust in kontingente historische Umstände und die Andeutung der Möglichkeit, dass politische Neuanfänge auch jenseits eines zeitlosen kollektiven Schulddiskurses gelingen können, in die Nähe von antisemitischen Positionen zu rücken.

Ein produktives Einlassen auf den Gedankengang von Dagmar Barnouw könnte u.a. darin bestehen, der Frage nachzugehen, wie der Holocaust so in das kollektive politischkulturelle Gedächtnis der Deutschen integriert werden könnte, dass die Geschichte sich nicht - wie Willy Brandt einmal gesagt hat - wie ein Mühlstein um den Hals legt und in den aktuellen Fragen des politischen Handelns bewegungsunfähig macht. Neben dem Wachhalten der Erinnerung an dieses zentrale Ereignis der Geschichte des 20. Jahrhunderts, für das es in der Bundesrepublik eine große Anzahl von Museen, Gedenkstätten, Institutionen und Organisationen gibt, sollten auch andere Erinnerungen legitim und bearbeitbar sein. Aleida Assmann hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass die Tatsache, dass die Erinnerung an der Holocaust zum gefestigten Grundbestand des politisch-kulturellen Gedächtnisses in der Bundesrepublik gehört, auch eine Hinwendung zu anderen, bisher tabuisierten Erfahrungen möglich macht. Dazu gehören für einen Teil der deutschen Kriegsgeneration z.B. die Erinnerung an die Schrecken von Vertreibung, Flucht und Massenvergewaltigungen. Erst recht stellt sich für künftige Generationen die Frage, wie der Holocaust Eingang in das kollektive politisch-kulturelle Gedächtnis finden kann. Meines Erachtens kann dernHolocaust weder für die Deutschen - im Sinne eines zeitlosen Schulddiskurses - noch für die Juden - im Sinne eines enthistorisierten Opferdiskurses - ein auf Dauer gestellter zentraler Bezugspunkt eines Gründungsmythos sein, der über Generationen hinweg kollektive politische Identität stiftet. In Israel selbst wird ein solcher Versuch längst von einer Generation jüngerer Historiker problematisiert. Für Deutschland als de-facto Einwanderungsland ist eine solche Perspektive auch deshalb ausgeschlossen, weil mit der Einbürgerung von Zuwanderern neue Mitglieder in dieses Kollektiv eintreten bzw. schon eingetreten sind, für die der Holocaust allenfalls als historisiertes Ereignis Eingang in eine gemeinsame politische Identität finden kann."

(Stand: 20.06.2024)  | 
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