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1968 - Vom Brechreiz der erzwungenen Erinnerung

Ein seltsamer Wind aus der Vergangenheit - Notwendige, ärgerliche und überflüssige Missverständnisse / Von Michael Daxner*

Manchmal danke ich dem höchsten Wesen, das wir verehren, dass mein derzeitiges politisches Amt jeden personalisierten Kommentar zur deutschen Politik ausschließt. - Damals haben wir alle natürlich Heinrich Böll gelesen und seinen Dr. Murke herbeigesehnt, der ein großer Schnippsler vor dem Herrn war. Viele der Artikel zum Vorleben des deutschen Außenministers, des Umweltministers, der Blockflöten, der immer schon Ent- und der nie ganz Belasteten möchte ich einfach ungelesen machen. Stattdessen würgt es, und man kann sich doch nicht übergeben.

1968 ist unausweichlich zur Zeit: In allen Nachrichten der Deutschen Welle, in allen Zeitungen tobt die Debatte. Wäre es doch eine Debatte! Die feuilletonistische Aufarbeitung eines der wichtigsten Abschnitte der deutschen Geschichte ist nur der Anfang eines noch viel wichtigeren Prozesses der Historisierung. Warum ist 1968 wichtig?

Bei der Revolte angekommen

Im Rückblick habe ich mich wiederholt mit den - auch für mein Leben bedeutsamen - Jahren um 1968 auseinandergesetzt, unterschiedliche Phasen von Kritik, Selbstkritik und Selbstbestätigung durchlaufen. Wichtig war mir stets der Kontext, der Zeitpunkt des jeweils anders aufgegriffenen Themas "1968". Wie viele 68er bin ich durch verschiedene Stadien des Groß- und Kleinredens dieser paar Jahre gegangen. In Wien, das dann für Jahrzehnte in den Schoß der Sozialdemokratie zurückkehrte, um heute mit über zwanzig Prozent die Rechtsradikalen zu bedienen, nannte man sie die "heiße Viertelstunde".
Ich war bereits in Deutschland angelangt, dieser Nation, in der Wortspiele verboten sind und Ironie noch immer die Bahnsteigkarten der jeweiligen Fraktionsvorsitzenden benötigt. Und doch: Was nach dem Tod Benno Ohnesorgs in Deutschland geschehen war und sich entwickelte, war für eine selbstbewusste, noch ungeformte Biografie anziehend und herausfordernd. Im Laufe meiner Biografie habe ich sehr viele derer kennen gelernt, auf die heute die verfolgende Unschuld Jagd macht. Auch viele Opfer von Sektierertum und Dogmatismus, Engstirnigkeit und Selbstgerechtigkeit sind mir über den Weg gelaufen. Einige von ihnen haben unheimliche Wandlungen und wundersame Karrieren durchgemacht. Aber für 68 sind sie gewiss nicht repräsentativ.

Gewollte Missverständisse

Wahrscheinlich hat Josef Joffe von der "Zeit" doch recht: 68 ist kein besonders taugliches Instrument, reale Geschichte aus dem politischen Kontext zu lösen, und in die Persona, die Maske eines medientauglichen Objekts, zu pressen. Mit dem Verweis auf die 68er Jahre lässt sich der braune Rand dieses Landes, lassen sich die Globkes und Filbigers nicht einfach ungeschehen machen. Auch Parteispendenaffären, Korruption und schlechte Politik werden so allenfalls vorübergehend aus dem Blickfeld gedrängt. Die 68er lassen sich nicht einfach personell disaggregieren in gute, weniger gute und indifferente. Die Mitläuferlogik der Entnazifizierung nach 1945 greift nicht und wird auch nur von besonders geschickten Schreibtischstrategen bemüht.

Zweierlei Entschuldigungen

Deutschland ist zum Land provozierter Entschuldigungen geworden. Wie weit ist es gekommen, wenn man sich für 1968 bei Menschen zu entschuldigen hat, bei denen man sich allenfalls zu entschuldigen hätte, wäre man ihnen, absichtslos, auf die Füße getreten. Die Welle von Entschuldigungen mag für manche ein Wechsel auf die Zukunft sein: Sie lassen sich bei Bedarf hervorkramen, etwas wird schon hängen bleiben an dem, der sich entschuldigt hat.

Also Vorsicht: Eine Entschuldigung setzt Einsicht, Schuldbewusstsein und Bereitschaft zu tätiger Reue voraus. Der Adressat von Entschuldigungen muss konkret und im wahrsten Sinne betroffen sein, damit auch so etwas wie Versöhnung, und wenn nötig, Wiedergutmachung möglich wird. Entschuldigungen sind angebracht, sofern Schuld vorliegt und sie sich an konkrete Menschen oder Gruppen richten, die sie annehmen oder ausschlagen können. Ich entschuldige mich doch bei einer Blockflöte für gar nichts und bei jemandem, dessen Verhältnis zur strukturellen Gewalt in höchstem Maße prekär ist, erst recht nicht. Den Opfern unserer Ungerechtigkeit, unserer oft maßlosen Verurteilungen und Vorurteile müssen wir in der Tat durch unsere Praxis, und das heißt durch unsere Politik, Genugtuung widerfahren lassen. Da hilft kein Schulterschluss der sogenannten Anständigen, da hilft nicht die Rhetorik der verfolgenden Unschuld, da hilft nur aktive, kritische, vielleicht zurückhaltende Gegenwart.

Warum ist 68 so wichtig?

Die fatale Aktualität von 68 erweist sich bei näherem Zusehen als Kapitulation vor ihrem epochalen Erfolg. 68 ist wichtig - nicht unbedingt wegen der 68er, sondern wegen ihrer - nicht unbedingt - gewollten Resultate. Die Bundesrepublik Deutschland hat seit ihrer Gründung eine erstaunliche Wandlung durchgemacht. Es ist nicht nur alliiertem Druck oder wirtschaftlichem Wohlstand zu verdanken, wenn wir heute ein demokratischeres und friedlicheres Gemeinwesen haben als je zuvor. Ich erinnere mich noch gut, wie Mitte der 60er Jahre gebildete Deutsche, die durchaus Sympathie für Willy Brandts Politik aufbrachten, darauf insistierten, ein unehelich Geborener dürfe kein deutscher Bundeskanzler sein. War es bloß eine Frage der Zeit, dass solcher Unsinn wenige Jahre später unsagbar wurde? Heute ist der Rechtsstaat einigermaßen tragfähig, und Korruption ist immerhin noch Schlagzeilen wert. Insgesamt kein schlechtes Land, auch im Vergleich mit anderen nicht.
Dieses Land hat nach der Hitlerei und dem Zweiten Weltkrieg bestimmte Ereignisse und Zeitabschnitte symbolisiert und zum Gegenstand seiner Selbstverständigung gemacht. Auf die unmittelbare Nachkriegszeit von 1945 bis 1949 und die Ära Adenauer folgt mit 68 eine Periode, die je nach Gesichtswinkel bis 1972 (Willy Brandt in Warschau) reicht oder bis in die Tage der RAF fortgeschrieben wird. 1968 steht für das eigentliche Ende der deutschen Nachkriegszeit. Dabei haben die Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze der politischen Kultur der jungen Demokratie mehr Substanz gegeben als unsere studentenbewegten Staatsableitungen und moralisierenden Übertreibungen. In materieller Hinsicht findet der Zeitabschnitt seinen Abschluss möglicherweise im Verfahren um die Entschädigung der Zwangsarbeiter. In ideologischer bzw. ideologiekritischer Hinsicht wird 1968 mit der Historisierung abgeschlossen. Biografisch ist da nicht mehr viel herauszuholen, denn das, was 1968 ausmacht, ist nicht in Stereotypen zu fassen, selbst wenn es mehr oder weniger prominente Exponenten gibt.

Dass die Gewaltfrage neu aufgeworfen wird, ist wichtig und richtig. Heute erscheint vieles anders und differenzierter, weil die frühere Basisvermutung vom notwendig illegitim gewalttätigen Staat durch die Praxis widerlegt wurde. Die virtuelle Gegengewalt gegen einen allgegenwärtigen Faschismus musste ins Leere laufen. Was heute erschreckt, ist, dass der alltägliche Faschismus, dessen Bestimmungsstücke 1968 theoretisch klar herausgearbeitet wurden, heute als bloß unangenehme Kontamination einer ansonsten schönen Welt hingenommen wird.

Ein Generationenmissverständnis

Wer ein Interesse an der Diskussion der 68er hat, muss sich zunächst einmal vor Augen halten, dass 1968 schon rein zeitlich weit näher zu 1945 liegt als zum 21. Jahrhundert. Günther Gaus, ein bedeutender Vertreter der älteren Generation, irrt, wenn er einen fast unüberbrückbaren Graben zwischen der Generation von 1945 und der Generation von 1968 konstruiert. Er kanzelt uns Nachkriegskinder und 68er ab, indem er die kritischen, geschichtsbewussten, intellektuellen Vertreter seiner Generation, nicht nur als unsere Vorläufer reklamiert, sondern dieser älteren Generation zudem ein moralisches Gewicht zuspricht, das er den 68ern abspricht.

Wo 68er mit Absolutheitsanspruch aufgetreten waren, trifft der kritische Einwand, aber Günter Gaus überschätzt doch die Wirkung von seinesgleichen im Adenauerstaat. Ob es ohne die Diskussion zu den Notstandsgesetzen zu Willy Brandt und den Ostverträgen gekommen wäre? Wir waren die fast notwendige Folge der Defizite jener Generation von 1945, die uns die Polarisierung geradezu auf dem kulturpolitischen Tablett servierte: Natürlich waren wir ungerecht, wenn wir die Gesellschaft als ganze und jede ihrer Gruppen immer nur in Täter und Opfer einteilten. Aber diese Ungerechtigkeit hat etwas in Bewegung gesetzt, woran die Adenauerzeit beinahe gescheitert wäre, und ihre Idyllisierung durch die Kritiker der 68er ist gefährlich und so unsinnig wie die voluntaristische Nostalgie nach der k. u. k. Monarchie auf dem Balkan.

Gaus meint, 68 wäre zudem der erste Schritt in die Spaßgesellschaft gewesen. Manches daran mag ja stimmen. Die hybride Beziehungslosigkeit der heutigen Spaßgesellschaft ist ja in gewisser Weise auch das übersteigerte Ergebnis der ungemein wichtigen Entwicklung weg von den Über-Ich-Strukturen der traditionellen deutschen Gesellschaft. Heute schlägt das Pendel zurück. Doch war 68 nie so hedonistisch und voller Doppelmoral wie seine Kritiker.

Ein anderes Generationenmissverständnis

In meiner präsidialen Zeit gab es in Oldenburg eine studentische Gruppe, die sich "links und unbelehrbar" nannte und eine Mischung aus dogmatischem Todschlagwortkanon und Rechtschreibfehlern präsentierte. Von mir darauf angesprochen, was denn der Witz der Unbelehrbarkeit sei, gab mir der Sprecher dieser bedeutenden politischen Bewegung zur Antwort, das müsste ich als 68er doch wissen: Das standfeste Vertreten linker Überzeugungen gegen den Zeitgeist. Ich war ein wenig hilf- und sprachlos, denn gerade diese Deutung von 68 war ja nie, was unsere Generation in der Mehrzahl charakterisierte. Links und unbelehrbar, das klingt wie ein seltsamer Wind aus der Vergangenheit. Die unbelehrbare Rechthaberei war bestimmt kein Privileg der 68er. Was Links für uns auch bedeutet hatte, war eine teilweise unentschuldbare Lernunwilligkeit. Deshalb hatten die Vertreter des Bestehenden noch lange nicht Recht, wie sich heute zeigt.

Notwendige Erinnerung

Wie ich es erlebt habe, das Jahr 1968? - Ich hatte in Wien als Sprecher einer linksliberalen Studentengruppe eine Einladung von Ernst Majonica, dem Vorsitzenden des Außenpolitischen Ausschusses des deutschen Bundestags, nach Berlin erhalten. Wir sollten den Kalten Krieg und die Mauer besichtigen. Es war um den 2. Juni herum. Das andere haben wir auch mitbekommen und uns ein dreifaches Bild von den (in Österreich gefürchteten) "deutschen Verhältnissen" gemacht: Bild West, Bild DDR, Bild Studentenbewegung.

Damals zog ich eine Konsequenz, die ich, fast ungebrochen, durchgehalten habe: dazwischen zu sein. Nicht theoretisch festgelegt, sondern irgendwo zwischen allen nicht-orthodoxen Stühlen, mehr vermittelnd als federführend: In Freiburg zusammen mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund, zurück in Wien dann am gärenden Rand der Sozialdemokratie und in einer Föderation der Neuen Linken - nichts Aufregendes, immer pragmatisch und stets erfüllt vom Wunsch, etwas zu bewirken - und sei es mit unreiner Philosophie, was mir, ich gebe es zu, nicht immer leicht gefallen ist.

In jener Zeit habe ich die Universität als Ort gesellschaftlicher Veränderung wahrgenommen und akzeptiert. Ich wurde unter der konservativen österreichischen Regierung Mitglied der parlamentarischen Hochschulreformkommission, saß da als Gegner der alten Rechten (die längst von der neuen Rechten der FPÖ abgelöst ist).
Was bleibt? Rückblickend erscheint mir die Verortung als Außenseiter wichtig. Mir bleibt unerträglich, dass die Täter Pardon erhielten, während man den Opfern und ihren Kindern noch ihre Opferrolle absprach. Peinlich aber die Rohheit mancher Übersteigerung der Zeit, das sei Günter Gaus zugestanden. Scham vor der Diskriminierung und Demütigung wertkonservativer Kontrahenten, und - damals wie heute - Abscheu vor der Verdrehung der Geschichte durch die Strukturkonservativen.
Vieles, was damals mit mir geschah oder ich geschehen ließ, gehört mir allein. Beobachter und Objekt in einem, habe ich wenig Anlass, mich individuell stärker mit 68 zu befassen, als es kollektiv und historisch angemessen ist.

Wir haben genügend Abstand zu 1968, um endlich mit einer kritischen Geschichtsschreibung zu beginnen. Aber offenbar haben wir immer noch zu wenig Abstand zur der Zeit davor, um uns vor den Biedermännern und Brandstiftern im Schafspelz der Kritiker hinreichend zu schützen. Ich übergebe mich nicht, aber ich übergebe ans Feuilleton.

* Prof. Dr. Michael Daxner, von 1986 bis 1998 Präsident der Universität Oldenburg, ist zurzeit im Auftrag der UNO im Kosovo tätig. Er ist zuständig für den Aufbau des Hochschul- und Erziehungswesens.


Presse & Kommunikation (Stand: 06.09.2024)  | 
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