Hochschulzeitung UNI-INFO
Kontakt
Hochschulzeitung UNI-INFO
Themen
- Den Raum der Freiheit öffnen für
die Erinnerung
- Für mehr Erinnerung ohne ein
Zentrum gegen Vertreibung
Den Raum der Freiheit öffnen für die Erinnerung
Rede zum 8. Mai 2005
Von Antonia Grunenberg
Meine
Damen und Herren,
unter der Flut von Büchern, Kino- und Fernsehfilmen,
Dokumentationen, Zeitungsartikeln, Ausstellungen, kurz der umfassenden und die
Grenzen des Fassungsvermögens übersteigenden medialen Präsentation
des 8. Mai 1945 von Guido Knopp bis Gerhard Schröder ist das Sujet oft kaum
mehr zu erkennen.
Geschichtspolitik allerorten; in der Forschung tobt
der Paradigmenkrieg darüber, wer wohl die Oberhand gewinnt, Jörg Friedrich
oder Götz Aly? Jörg Friedrichs Buch "Der Brand" rückte
zum ersten Mal die deutsche Zivilbevölkerung als Leidtragende von Bombenkrieg
und Vertreibung in den Vordergrund. Götz Aly möchte dagegen die These
vom Tätervolk stärken, das von der Vernichtung der europäischen
Juden profitierte.
Durch die ganze öffentliche Präsentation zieht
sich die Frage: Wie sollen die Deutschen das Ende der Naziherrschaft und somit
diese insgesamt verarbeiten, versinnbildlicht durch den Nationalsozialismus selbst,
den militärischen Zusammenbruch, die Besetzung und Teilung Deutschlands.
Es geht um den Platz, den der Nationalsozialismus, der II. Weltkrieg und sein
Ende in der kollektiven Erinnerung der Deutschen einnehmen sollen. Ich sage "sollen",
denn welche Gestalt diese Erinnerung in den Köpfen der je einzelnen dann
tatsächlich annehmen wird, läßt sich nur begrenzt festlegen. Aber
um diesen begrenzt steuerbaren Anteil geht es. Und über ihn hinausweisend
geht es um Traditionsbildung. Konkret: Es geht darum, ob Erinnerung an die Verbrechen
des Naziregimes und nationale Tradition an zwei entgegengesetzten Polen gesellschaftlicher
Wahrnehmung und - wie Max Weber sagen würde - des "gesellschaftlichen
Prestiges" stehen oder ob die Erinnerung an die Verbrechen und die Schrecken
des Zweiten Weltkriegs integraler Bestandteil der deutschen nationalen Tradition
wird - und wie er das wird.
Ich werde im folgenden nicht auf die verschiedenen
Strömungen und querlaufenden Interessen zu sprechen kommen, die sich in dem
Thema bündeln, sondern versuchen, unter der Vielzahl der Stimmen und Positionen
drei Probleme herausschälen, die im Zentrum der Debatten stehen und sich
doch einer intentionalen Erinnerungspolitik entziehen.
Ich nenne als erstes
die Frage, wie man den 8. Mai 1945, dieses symbolische Datum allererster Güte
erinnern soll: als Niederlage und Zusammenbruch oder als Tag der Befreiung?
Vor
genau zehn Jahren hat der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker
diese Frage ins Zentrum seiner Rede zum 50. Jahrestag des 8. Mai 1945 gestellt:
"Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen,
die ihn bewußt erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz
unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde
heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele
waren einfach nur dafür dankbar, daß Bombennächte und Angst vorüber
und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über
die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche
vor zerrissenen Illusionen, dankbar waren andere Deutsche für den geschenkten
neuen Anfang... Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache
des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen:
Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen
Zielen einer verbrecherischen Führung gedient. .. Und dennoch wurde von Tag
zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8.
Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden
System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft."
Mit diesen Worten
brachte zum ersten Mal ein deutscher Bundespräsident Kapitulation und Befreiung,
Niederlage und Freiheitsgewinn als Segmente einer unteilbaren geschichtlichen
Realität zusammen. In seiner Rede wurde sehr deutlich, daß beides nicht
gegeneinander aufzurechnen ist. Der 8. Mai 1945 war nicht
- entweder ein
Tag der Befreiung
- oder ein Tag der Niederlage und des Zusammenbruchs
sondern
er war beides: Niederlage und Befreiung.
Dies gilt in paradoxer Weise
noch stärker für das ehemalige Ostdeutschland, das seine Befreiung durch
die Armeen der totalitären Sowjetunion erlebte und diese Befreiung gegen
neue Unfreiheit eintauschte.
Die Gleichzeitigkeit der Gegensätze,
die uns in Weizsäckers Rede entgegenkommt, sorgt bis heute für Aufregung,
Bitterkeit und Konfusion. Sie ist für viele noch immer ein Ärgernis
und gleichzeitig entzündet sie immer wieder Diskussionen. Diese Diskussionen
stellen auch eine Realität der gegenwärtigen Erinnerungskultur dar.
Ein Beispiel für diese Diskussionen will ich im folgenden zitieren.
Es sind Ausschnitte aus einem Chat-Room "Forum Staat-Demokratie". Sieben
Chatter plaudern miteinander mit folgt:
Hariolf: Kennt jemand das
Buch "Verbrechen an Deutschen - die Wahrheit, die Bonn verschweigt"
von Wilfried Ahrens...und kann mir sagen, ob es tatsächlich irgendwelche
der Öffentlichkeit unbekannten Wahrheiten enthält?
...
Bismarx:
Historische Wahrheiten werden im geschichtswissenschaftlichen Diskurs gefunden
Nicht in dubiosen Büchern mit reisserischen Titel. Sollte das Buch tatsächlich
irgendwelche "unbekannte Wahrheiten" enthalten, wird dies früher
oder später von einem Historiker aufgegriffen und in die Diskussion gestellt
werden Dann weißt du's
Hariolf: Klar, wir haben immer noch
eine "schwere Erbschaft" zu tragen, obwohl unsere Vorfahren schon zigfach
für Hitler gebüßt haben, und zwar in Form von:
- Gebietsabtretungen
-
Millionen von deutschen Zwangsarbeitern
- Entschädigungen für jüdische
Zwangsarbeiter
- Reparationen in astronomischer Höhe
- Den schlimmsten
ethnischen Säuberungen aller Zeiten
- Vernichtung der großen Städte
und die gezielte Ausrottung von Zivilisten
- Raub aller verwertbaren Patente
-
Aufbauhilfe für Israel, Polen usw
Wenn Weizsäcker trotzdem denkt,
"die Deutschen" wären "den anderen" etwas schuldig, dann
hat er einen Schuldkomplex und sollte mal bei seinem Psychiater vorbeischauen
Busco:
...Eigentlich ist es langweilig In regelmäßigen Abständen
kommen braune Trolle und behaupten, diese oder jene Wahrheit dürfe auf Druck
einer eingebildeten Meinungsdiktatur nicht öffentlich gemacht werden. Dann
kommt die Selbststilisierung zum Helden und zum Mr Superschlau, denn man lasse
sich nicht einschüchtern und vor allem, man selbst verfüge natürlich
über diese so schrecklich geheime Wahrheit. Und die "Wahrheit"
kommt dann als Textbaustein von braunen Seiten daher. Wie oft soll dieses Spiel
eigentlich noch gespielt werden?
Dibbuk: Wenn die Deutschen wieder
losjammern dann sollen sie sich vielleicht mal Überlegen was die Bomben und
die Vertreibungen verursachte? Doch dann wirds wieder unangenehm: Lieber sind
die Juden die USA und die Bolshewiken an allem Schuld: Tja hätten sich die
Deutschen in den Ostgebieten nicht wie die Schweine benommen und massenhaft Juden,
Polen, Tschechen und Russen abgeschlachtet wären die Vertreibungen nicht
notwendig gewesen
Hariolf: Hätten sich die Engländer
nicht wie die Schweine benommen und massenhaft deutsche Zivilisten abgeschlachtet,
wären die deutschen Raketenangriffe und Bombardierungen nicht notwendig gewesen
...
Santa
Klaus: Ich habe keine Zeit, auf jeden braunen Dünnpfiff zu antworten,
den irgendein kleiner Wohnzimmernazi hier ins Forum scheißt
Busco:Hat
da jemand nicht mitbekommen, daß es zahlreiche Literatur darüber gibt,
zB Grass "Im Krebsgang", z.B. Jörg Friedrich "Der Brand"?
idefix goesta: Das stimmt Aber er behauptet fälschlicherweise,
die Verbrechen gegen Deutsche wären eine Folge der NS-Verbrechen
B:
Das ist kein Fehler, das ist die Realität / Es gab und gibt immer irgendwelche
obskuren Pläne Eine solche Vertreibung wie nach dem Zweiten Weltkrieg und
die Teilung Deutschlands wären ohne die Verbrechen der Nazis nicht passiert.
Allerdings bin ich wie alle anderen für zwei Sachen verantwortlich:
a:
was damals passiert ist, darf sich nicht wiederholen, egal wo, wie und durch
wen
b: was damals passiert ist, darf nicht in Vergessenheit geraten/B
Busco: Aha Das ist ja ein tolles Argument
Hariolf:
Da stimme ich dir zu, aber warum müssen wir immer noch dafür büßen,
...
Rikimer: Ich muss dich enttäuschen. Es spricht alles dagegen
das man dies alles wegen Juden. KZsverbindungstrecken wurden nie bombardiert,
wegen Polen. Hitler und Stalin teilten sich Polen auf oder sonsteiner Gruppe gemacht
worden sind Die Vertreibungen fanden erst nach über einem Jahr der Besetzung
statt . Also welches waren die wirklichen Gründe, denn humane und positive
können es nicht gewesen sein, das man sich entschloss Millionen Menschen
zu vertreiben und zu töten? Abgesehen davon sind meine Vorfahren weit vor
dem Zweiten Weltkrieg wie alle Deutschen dort von der Halbinsel Krim von Stalin
Richtung Sibirien und Zentralasien umgesiedelt worden Welchen Grund gab es hier?
Ebenfalls der heuchlerische Einsatz für die Menschenrechte, die Freiheit,
die Demokratie uns sonstigen öligen wohlklingenden Worten?
Dies ein
Auszug aus einem Chatroom vom Oktober 2003. (www.politikforum.de)
Der einen oder dem anderen von ihnen wird etwas unbehaglich geworden sein ob dieses
Wirrwarrs der Argumente. Salonfähig ist so etwas nicht. Aber es gehört
hier hinein, denn hier haben wir das vor uns, was sechzig Jahre nach dem Krieg
die Herzen und Hirne der nächsten Generationen bewegt. Ich habe das Beispiel
gewählt, weil hier die Aufrechnungen am Werke sind, die Weizsäcker vermeiden
wollte: Befreiung gegen Niederlage, NS-Terror gegen alliierten Bombenkrieg, NS-Verbrechen
gegen Vertreibungen deutscher Bevölkerungen aus Polen oder der Tschechoslowakei.
Die Teilnehmer am Chat-Room suchen einen Ausweg aus diesem Dilemma: Sie sind mit
beiden Typen von historischer Faktizität konfrontiert, wollen diese Spannung
aber nicht tragen, sondern sich entscheiden zwischen dem einen und dem anderen.
Dies bringt mich zu einem zweiten Dilemma: das des dichotomischen Denkens.
Auch im Chat Room taucht eine Aufrechnung zwischen Bombenkrieg und deutschen Kriegsverbrechen
auf. Etwa in dem Sinne: die Grauen des Bombenkrieges gegen Deutschland waren genauso
schlimm wie der Völkermord und die Kriegsverbrechen, die die Deutschen selber
begangen hätten und damit hebe das eine das andere irgendwie auf nach dem
Motto: die Anderen sind auch nicht besser. Oder aber: Der Bombenkrieg gegen Städte
und Zivilbevölkerung war die gerechte Strafe für die begangenen Verbrechen.
Entsprechende
Neuerscheinungen wie z.B. Jörg Friedrichs Buch über den Bombenbrand
oder Götz Aly's Buch über das Profitieren der Deutschen vom Genozid
und Vernichtungsfeldzug der Nationalsozialisten, sind immer wieder Anlaß
zu fragen: was ist nun wahr? Hinter all den Aufrechnereien und dichotomischen
Entweder-Oders taucht immer wieder das Problem auf: Hier ist etwas passiert, was
- um eine Formulierung von Hannah Arendt zu verwenden - nicht hätte geschehen
dürfen. Und offensichtlich ist dieses Dilemma der Hintergrund, vor dem sich
die Kontrahenten einer nimmer endenden Debatte sechzig Jahre nach dem Krieg in
dieser aporetischen Form die Köpfe heiß reden. Das was geschehen ist,
ist nicht bewältigbar; es kann und muß aufgedeckt werden, aber man
kann sich damit nicht arrangieren geschweige denn versöhnen. Die Geschehnisse
geistern wie ein Wiedergänger in den verschiedensten auch absurden Gestalten
auf unabsehbare Zeit in der deutschen politischen Kultur und bringen immer wieder
Konvulsionen und Eruptionen hervor, die man klein arbeiten muß, um dann
erneut, zu Jahrestagen oder unverhofft mit ihnen konfrontiert zu werden.
Dies
bringt mich zu meinem dritten Aspekt: Wie geht das Geschehen in die öffentliche
politische Kultur Deutschlands ein? Wissenschaftliche Forschungen, Tagungen, Vorträge
und Urteile sind das eine. Doch die Frage, welchen Platz das Geschehen im öffentlichen
wie im privaten Leben hat, ist damit noch nicht beantwortet. Bundeskanzler Schröder,
der ja einen Sinn für das Symbolische hat, sagte anläßlich des
60. Jahrestages der Befreiung der NS-Konzentrations- und Todeslager in Buchenwald.
Die "tiefste Schande unserer Landes" könne man weder "ungeschehen
machen noch wirklich bewältigen". Der Ausdruck Schande ruft sofort das
Komplementär der Scham hervor. Über etwas, was einem Schande gemacht
hat und noch macht, schämt man sich. Gibt es Gesten der öffentlichen
Scham? Ist das nicht ein privater Vorgang, der nach privaten Gesten verlangt?
Und wie könnte die öffentliche Scham dargestellt werden? Wie könnte
sie in all den Ideen, Reflexionen, Einstellungen und Verhaltensweisen präsent
sein, aus denen politische Kultur sich speist?
Ich werde im folgenden über
diese Verbindung zwischen der Arbeit an der Vergangenheit und der politischen
Kultur sprechen. Dabei werde ich der These nachgehen, daß und warum der
öffentliche wie der private Diskurs über die Vergangenheit und ihre
Folgen nur dann glücken können, wenn sie Teil einer lebendigen politischen
Kultur werden, die über sie hinausreicht.
Welches Geschichtsbild
hinterlassen die heute Tätigen eigentlich den nächsten Generationen?
Wie die Nachkommen anderer europäischer Völker benötigen auch die
Deutschen ein öffentliches historisches Gedächtnis, das weiter zurückreicht
als bis 1933, und das offen für die Zukunft ist. Freilich, so unbefangen
wie bei den europäischen Nachbarvölkern läßt sich dieses
öffentliche Gedächtnis nicht gestalten. Aber dies entbindet doch nicht
davon, es zu gestalten. Es ist sicher von Vorteil, daß nationalistisches
Gepränge in Deutschland fehlt. Aber die neue, nüchterne und offene Form
der geschichtlichen Tiefendimension will noch gefunden werden. Es scheint, als
hätte der Diskurs über die Schuld die Geschichte nach rückwärts
wie nach vorwärts unter Quarantäne gestellt. Wie stellt man die geschichtliche
Leistung eines Luther dar, der gleichzeitig einem volkstümlichen Antisemitismus
Vorschub leistete und den deutschen Hang zum Rückzug in die Innerlichkeit
verstärkte? Welcher Platz wird einem Bismarck im öffentlichen Gedächtnis
eingeräumt, der der letzte Friedenspolitiker im Zeitalter des Imperialismus
war und gleichzeitig den deutsch-französischen Krieg zu verantworten hatte?
Wie wird man sich in drei Generationen an die Weimarer Republik erinnern? Als
nationales Unglück, als Betriebsunfall, als vertane Chance? Und der Nationalsozialismus?
Und der Kommunismus?
In den letzten Jahrzehnten wurde alles Geschehen der
letzten fünfhundert Jahre an Auschwitz gemessen. Jüngstes Beispiel dafür
war in den neunziger Jahren der Krieg auf dem Balkan. Deutsche Minister legitimierten
1999 die deutsche Beteiligung an den Bombenangriffen der NATO auf serbische Einrichtungen
im Kosovo mit dem Verweis auf Auschwitz. Um das verbrecherische Handeln der serbischen
Soldateska in Bosnien und im Kosovo zu qualifizieren, wurde an die Ermordeten
von Auschwitz erinnert: So etwas dürfe sich nicht wiederholen. Mit anderen
Worten: Im Kosovo wiederhole es sich. Als sich nach dem Krieg herausstellte, daß
manche Fotografien manipuliert, auch Massengräber nachträglich arrangiert
und Zahlen gefälscht worden waren, kam peinliche Verlegenheit auf. Das alles
macht den serbischen Genozid nicht ungeschehen, läßt aber doch nach
dem rechten Maß in der Beurteilung des Geschehens fragen. Es scheint nach
wie vor schwierig zu denken, daß das Wüten der serbischen Soldateska
eine Dimension des Verbrechens darstellt, die mehr mit der serbischen Geschichte,
dem Zerfall der Gesellschaften in den ehemaligen jugoslawischen Teilstaaten und
modernen Formen des Guerilla-Terrorismus zu tun hat als mit einer Ähnlichkeit
zu Auschwitz. Die deutsche Erblast hat zu einer Überfrachtung des Geschehens
mit falscher Analogiebildung und im Endeffekt zu einem Realitätsverlust geführt,
der gefährliche Folgen haben kann. Zum einen kann dies dazu führen,
daß weniger megalomanische Verbrechen auch weniger wahrgenommen werden;
zum anderen kann man die Natur der Verbrechen nicht mehr erkennen, wenn sich jedwedes
Geschehen an der Auschwitz-Metapher bricht. Auschwitz als universales Paradigma
zu nehmen, ist so verführerisch wie es falsch ist. Es ist verführerisch,
weil es das Maximum an Grauen, was wir uns vorstellen können, symbolisiert.
Es ist falsch, weil zum Beispiel die modernen Verbrecherbanden auf Regierungsebene
in semi-totalitären Staaten etwas Neues sind, das nicht durch den Vergleich
mit anderen Terrorsystemen erklärt werden kann. Neu an diesem Typus von Terror
ist im übrigen auch, daß die Täter aus der Geschichte ihre Lehren
gezogen haben und sich unter Berufung auf Auschwitz selbst als Opfer stilisieren:
so geschehen von den serbischen Tschetniks oder auch den terroristischen Islamisten,
die ihr Morden zynisch zur Gegenwehr eines von der Weltöffentlichkeit zum
Opfer erkorenen Volkes oder Glaubens erklärten.
Der Rigorismus, der
hierzulande um sich gegriffen hat, hat etwas typisch Deutsches an sich. In ihm
zeigt sich hinter der tiefen Prägung durch das Geschehen auch die Lust am
Absoluten. Nur schlecht verbirgt sich die negative Faszination des Totalitären.
Daß auch Griechen und Türken, Inder und Australier, Chinesen und Japaner,
Spanier, Südafrikaner, Nordamerikaner... Erfahrung mit Genoziden und deren
unter Umständen jahrhundertelangen Folgen auf Seiten der Opfer und der Täter
haben, interessiert uns vor allem insoweit, als wir unser öffentliches Umgehen
mit Schuld und Verantwortung als vorbildlich ansehen, was es in gewisser Weise
auch ist. Aber die Selbstbezüglichkeit im Umgang mit deutscher Schuld und
Verantwortung ist manchmal schon erschreckend. Und sie führt dazu, daß
die politische Dimension des Geschehens, die in der Mitverantwortung für
Gestaltung einer zivilisierten Welt liegt, allzuoft in den Hintergrund tritt.
Die Deutschen sind sechzig Jahre in eine Gemengelage aus schlechtem Gewissen,
einsichtsvoller Erkenntnis und (Selbst-) Stigmatisierung hineingewachsen, aus
der sie sich nur mühsam herausarbeiten. Diese Rolle ist so ausgeprägt,
daß der gesamte öffentliche Diskurs davon beeinflußt wird: Teile
der politischen Klasse in Deutschland begründen die europäische Einigung
damit, daß Europa die Deutschen im Zaume halten muß. Sie begründen
die zuweilen überstarke Rolle des Staates mit der Notwendigkeit, die Wiederholung
von "Weimarer Verhältnissen" zu verhindern. Die Wichtigkeit des
schulischen Geschichtsunterrichts oder der Politischen Bildung werden damit begründet,
daß sich Auschwitz nicht wiederholen dürfe und nicht etwa, weil eine
lebendige politische Kultur die beste Grundlage jedes lebendigen Gemeinwesens
ist. Deutschland betreibt die Aussöhnung mit Polen aus Gründen der Wiedergutmachung
und nicht mit der Maxime, daß man von den polnischen Nachbarn unter Umständen
auch lernen könnte, was republikanische Kultur ist. Deutsche Regierungen
unterstützen das semidiktatorische Regime in Rußland mit dem Argument,
daß Rußland nicht abermals gedemütigt werden dürfen nach
all dem Leid, das die Deutschen im Krieg in Rußland angerichtet hätten.
Es vermischen sich hier begründete politische Rücksichtnahme, ein verklemmtes
Nationalgefühl, das im Gewand seiner Leugnung auftritt, Sicherheits- und
wirtschaftliche Interessen.
Was einmal wie eine "gerechte" Lösung
des Antagonismus zwischen Opfern und Tätern aussah, daß nämlich
die Nation, aus der das Verbrechen hervorging, die Folgen des Verbrechens auf
unabsehbare Zeit zu tragen hat, hat zu einer problematischen Überlagerung
der politischen Kultur geführt.
Die Schuld ist das Jahrhundertparadigma,
das wir mit in das neue Jahrtausend genommen haben - und mit ihm ein reduziertes
Verständnis von Politik, als liege in der verbalen Moralisierung ein legitimerer
Zugang zur Politik als im Austausch über Möglichkeiten, Interessen,
Differenzen, Konflikte im Gemeinwesen und zwischen den Staaten.
Dieser
Schuld-Opportunismus ist eine glänzende Verbindung eingegangen mit dem Glauben
an die alleinseligmachende Kraft der Wirtschaft. Den Platz, den der große
Soziologe Max Weber als den Platz des "Prestige" im Gefüge einer
Nation bezeichnet hat, das Selbstwertgefühl, hat ein veritabler "Wirtschaftsglaube"
eingenommen. Das nahezu grenzenlose Vertrauen in den ökonomischen Erfolg
noch in der tiefsten Krise, dessen Faszination wir mit vermutlich allen modernen
Gesellschaften teilen - auch dieses Vertrauen führt in Deutschland zur Verinnerlichung
des Schuldgefühls zurück. Das Vertrauen in die Wirtschaft beruht zugleich
auch auf einer Vermeidungsstrategie: bloß nicht "politisch" werden,
kein politisches Profil zeigen, es könnte falsch ausgelegt werden.
Längst
ist Politik zur Funktion des Sozialen geworden, ohne daß die politische
Dimension des Sozialen diskutiert werden kann. Politik ist Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik,
Gesundheitspolitik, für die wenigsten noch Außenpolitik. Das Politische
- der Bezug der Bürgerinnen und Bürger auf das Gemeinwesen, das mehr
ist als ein Interessenkonglomerat oder eine hehre Idee - droht, in der Fürsorgefunktion
des Staates zu verschwinden. Wenn es keinen sinnstiftenden Bezug der Bürgerinnen
und Bürger untereinander mehr gibt, wird der Staat zum Adressaten einer kollektiven
Erwartungshaltung, und die Bürger entmündigen sich selbst. Wenn es keine
Sphäre zwischen Bürgern und Staat gibt - der öffentliche Austausch
über Wohl und Wehe des Gemeinwesens -, dann wird das Staatswohl zum Gemeinwohl.
Und damit wird die unselige deutsche Tradition fortgesetzt, den Staat vor das
Gemeinwesen zu setzen und letzteres bis zur Unkenntlichkeit zu schwächen.
Ein Beispiel: Die Rede von der Transnationalität der Deutschen, so
gut gemeint sie auch daherkommt, ist auf der Verleugnung des citizen aufgebaut.
Nebenbemerkung: Ich benutze bewußt den Terminus citizen, um ihn
von der in der deutschen und französischen Tradition des Staatsbürgers
abzusetzen. Der citizen ist jener selbstbewußte freie Bürger, der seine
Interessen verfolgt und gleichzeitig weiß, daß er dies nur kann, weil
er Teil eines übergreifenden allgemeinen Beziehungsgeflechts ist, auf das
sich alle beziehen können, so unterschiedlich ihre Interessen auch sind.
Auch
kluge Leute sind allen Ernstes der Meinung, die Deutschen hätten - als aufgeklärte
Reaktion auf die Verbrechen des Nationalsozialismus - das Zeitalter des Nationalstaats
übersprungen, und könnten nun der Welt zeigen, was danach kommen müsse:
der Weltstaat. Der braucht den Weltbürger. Woher aber nehmen und nicht stehlen,
wenn man dem citizen im nationalen Rahmen nur ein stiefmütterliches Dasein
in der Kellerecke reserviert hat? Auch hier stößt man wieder auf ein
Paradox: Das Zeitalter der Globalisierung braucht den citizen mehr denn je; Bürger
und Politiker agieren jedoch, als wenn politisches Handeln nach wie vor auf staatliches
Handeln begrenzt sei oder als wenn es - der große Alptraum - mit dem globalen
Raum konfrontiert sei..
Aber gerade die offene Welt - sie braucht den citizen
als die Figur, die sich diese Räume und Orte aneignet. Der citizen, das ist
die gesammelte Fähigkeit der Bürger, ihrem Zusammenleben Sinn zu verleihen
und zum Beispiel gegen jedes überhand nehmende Einzelinteresse ein Gegengewicht
zu schaffen. Dies ist ein unabschließbarer Prozeß. So wie Einzelinteressen
immer wieder überhand nehmen, werden sich die Gegengewichte erneuern müssen.
Übersetzt
für heute hieße das: Die notwendige und auf unabsehbare Zeit weitergehende
Aufklärung und schmerzhafte Selbstbelehrung über die Verbrechen im Nationalsozialismus
ersetzt nicht die Fähigkeit, ein öffentliches Gemeinwesen zu stiften
und zu tragen. Aus den Überzeugungen von moralisch denkenden Individuen oder
Gruppen ergibt sich noch kein Allgemeinwohl, wenn gleich das Allgemeinwohl ohne
diese moralischen Überzeugungen nicht vorstellbar ist. Sehr wohl aber müßte
das Eigeninteresse am Erhalt des Gemeinwesens gestärkt werden. Es geht also
nicht darum, gegen die individuellen Interessen im Namen des Gemeinwohls zu sprechen,
sondern das Aufeinander-angewiesen-Sein von Eigeninteresse, Allgemeinwohl, Verfassung
und politischem Gesamtrahmen in der öffentlichen Sphäre deutlicher werden
zu lassen. Der citizen muß aus dem Schatten heraustreten, in den er sich
zurückgezogen hat. Wenn er - oder sie - in die Öffentlichkeit der Nachbarschaft,
der Schule der Kinder, des städtischen Beirats tritt und an dem Geschehen
Anteil nimmt, nimmt er - oder sie - ein aus eigenem Interesse Anteil am Wohl des
Gemeinwesens. Denn das zeigt sich nicht nur auf der Ebene der "großen
Politik", sondern auch in den Bereichen, wo die Interessen von Menschen direkt
aufeinandertreffen. Doch zeigt es sich nur dann, wenn die Rolle der Bürgerinnen
und Bürger nicht auf den Sozialverband der Bedürftigen reduziert wird.
Es gilt nicht nur, daß ohne politische Freiheit kein ziviles Zusammenleben
möglich ist, sondern auch, daß Freiheit ein vergängliches Gut
ist, das erneuert werden will. Verantwortung besteht nicht nur darin, daß
Auschwitz "nie wieder passieren darf", sondern in der Erneuerung und
der Sorge für ein demokratisches Gemeinwesen, das sich in den letzten fünfzig
Jahren - zum ersten Mal in der deutschen Geschichte - herausgebildet hat. Seine
Stabilität aber ist kein Geschenk.
Historisch war die Politik der
Schuld ein aus den Umständen verständlicher, erzieherischer Imperativ
der westlichen - und der östlichen Welt - gegenüber Westdeutschland.
Diese Politik der Schuld befindet sich in einer Falle: Einerseits wird die Schuld
in Schulden umgewandelt und somit die Hoffnung genährt, es lasse sich durch
einen Verwirtschaftlichungsprozeß doch noch ein "Schlußstrich"
ziehen, nämlich dann, wenn nichts mehr zu bezahlen ist. Andererseits beharrt
ein Teil der Öffentlichkeit darauf, daß hinter den Schulden eine unsühnbare
Schuld stehen bleibt.
Wozu dient es heute noch, die Bürger dieser
Republik, die Bürgerinnen und Bürger Europas sind, als Täterkinder
oder Täterenkel zu apostrophieren und die Abkommen der vielen Opfergruppen
als Opferkinder und Opferenkel? Beraubt man die kommenden Generationen nicht ihrer
Freiheit und damit ihrer Verantwortung?
Ein Umdenken in dieser Frage ist
aber nur zu erreichen, wenn der dezidiert antipolitische Pragmatismus der westdeutschen
politischen Klasse, der die Zufriedenheit der Bürger ausschließlich
an das Wachstum bindet - und damit gegenwärtig ziemlich baden geht - , geöffnet
werden kann. Nur dann kann - möglicherweise - die Wichtigkeit des politischen
Gemeinwesens, also der Verfassung, der Institutionen und der Rechtsordnung, die
den öffentlichen Raum für alle schützen und die zentrale Bedeutung
des citizen im öffentlichen Raum sichtbar werden.
Politik darf nicht
zur Geisel der Moral werden, denn es gibt falsche Moral. Moral darf nicht zur
Geisel der Politik werden, denn es gibt falsche Politik.
Gerade deshalb
darf das Geschehen vor 60 Jahren aber auch nicht zum dunklen Leitstern politischen
Denkens und Handelns werden. Aus Angst vor der Wiederkehr einer Vergangenheit
entspringt noch nicht der Mut, sich einer offenen Zukunft zu stellen. Darin aber
besteht die Herausforderung, die Selbsterneuerung des politischen Gemeinwesens
gegen den Strom zu betreiben. Denn auch das ist eine Lehre aus der deutschen -
und europäischen - Geschichte: totalitäres Denken und Handeln kann dort
Raum greifen, wo die Kraft des demokratischen Gemeinwesens zur Selbsterneuerung
schwindet, wo Bürgerinnen und Bürger ihre letztendliche Verantwortung,
die nicht delegierbar ist, nicht wahrnehmen und sich Erlösung vom Staat oder
einer totalitären Machtordnung erhoffen.
Die Erinnerung an das Geschehen
vor sechzig Jahren, die Aufdeckung der geschehenen Verbrechen, wird immer eine
zentrale Bedeutung in der deutschen Geschichte einnehmen. Aber dieses Geschehen
ist nicht die einzige Sinnstiftungsquelle. Auch dies hat von Weizsäcker in
seiner Rede anklingen lassen, als er das Kriegsende mit Befreiung assoziierte.
Inzwischen ist aus der Befreiung längst Freiheit geworden, doch Erneuerungsbedürftigkeit
der Freiheit wird noch immer unterbewertet.
Für
mehr Erinnerung ohne ein Zentrum gegen Vertreibung
Von Eva und Hans
Henning Hahn
Aus Anlass des Kriegsendes vor 60 Jahren hat sich der
Oldenburger Historiker und Osteuropa-Experte Prof. Dr. Hans Henning Hahn entschieden
gegen Bestrebungen zur Errichtung eines "Zentrums gegen Vertreibungen"
in Berlin ausgesprochen. Zusammen mit seiner Ehefrau, der tschechischen Historikerin
Dr. Eva Hahn, verfasste eine Erklärung unter dem Titel "Für mehr
Erinnern ohne ein Zentrum gegen Vertreibungen". Hahn ist ein international
anerkannter Fachmann für polnische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.
Für seine Unterstützung der polnischen Opposition schon in den 70er
Jahren erhielt er 1999 das Kavalierskreuz des Verdienstordens der Republik Polen.
Gemeinsam mit seiner Frau gehört er zu den Initiatoren des internationalen
Aufrufs "Für einen kritischen und aufgeklärten Vergangenheitsdiskurs"
(2003). Die aktuelle Erklärung im Wortlaut:
Es ist wohl unbestritten,
dass die Erinnerungen an die Vertreibung im deutschen kollektiven Gedächtnis
einen wichtigen Platz einnehmen. Offensichtlich reicht das noch nicht - oft hört
man, die Vertreibung sei ein gesamteuropäisches Problem; die deutsche Nation
habe die meisten Vertreibungsopfer zu beklagen und sei deshalb besonders gut dazu
geeignet, die Welt aufzuklären und ihr quasi eine Lektion zu diesem Thema
zu erteilen. Deshalb solle in Berlin ein "Zentrum gegen Vertreibungen"
(ZgV) entstehen, um der deutschen Öffentlichkeit sowie den Besuchern aus
aller Welt die Geschichte aller Vertreibungen zu erklären. Die Welt solle
diese Geschichte aber nicht nur so kennen lernen, wie sie die deutschen Vertriebenen
sehen, sondern sie solle auch gewarnt werden: Nie wieder Vertreibungen!, heißt
es Um dieses Ziel zu erreichen, hätten eben jene Schlussfolgerungen maßgebend
zu sein, die führende Vertreter der deutschen Vertriebenenorganisationen
aus ihren Lebenserfahrungen zögen.
Die Kritiker dieses Projekts nehmen
dessen Planern nicht das Erinnern an die Vertreibung übel; sie sprechen sich
jedoch deutlich gegen die Geschichtsbilder aus, die hier propagiert werden. Schon
allein die Frage, an wen genau erinnert werden soll, sorgt für Unbehagen:
Wer wurde wann und von wem vertrieben? Um diese Frage haben sich die Befürworter
des ZgV nämlich bisher herumgemogelt. Schaut man sich die entsprechende Informationsbroschüre
des "Deutschen Ostdienstes" (hg. vom Bund der Vertriebenen) an, dann
erfährt man z. B. nichts über die NS-Umsiedlungen rund einer Million
Deutscher aus dem östlichen Europa, die schon 1939 begonnen haben. Damals
suchte die NS-Propaganda die Betroffenen und die Öffentlichkeit mit dem Slogan
"Sie verloren die Heimat, um das Vaterland zu gewinnen" zu beschwichtigen.
In Wirklichkeit verloren diese (später in der BRD als Vertriebene registrierten)
Umsiedler ihre Heimat infolge einer folgenschweren und dennoch nahezu vergessenen
Grundsatzrede Hitlers, die er am 6. Oktober 1939 im Reichstag hielt. Dort wies
er auf die "nichthaltbaren Splitter des deutschen Volkstums" hin, mit
denen der ganze Osten und Südosten Europas gefüllt sei, und verkündete
die Notwendigkeit, jene "Volkssplitter" umzusiedeln, oder heimzuführen',
wie es damals genannt wurde.
"Es ist für die Deutschen bedauerlich,
wenn sie jemand bedauern will. Aber es ist weder beabsichtigt, noch läßt
es sich verhindern; daraus ein großes Lamento zu machen, halte ich für
falsch.": Die zynischen Bemerkungen Himmlers über die ersten (unterwegs
erfrorenen) Opfer dieser Umsiedlungen in einer Geheimrede kurz darauf lesen sich
wie eine Vorwegnahme einer noch größeren humanitären Katastrophe,
die fünf Jahr später von den NS-Behörden aus den gleichen Motiven
verursacht wurde. Dabei handelt es sich um die Umstände und Folgen der sog.
Evakuierung der deutschen Zivilbevölkerung aus den östlichen Teilen
des damaligen Großdeutschen Reiches zwischen dem Sommer 1944 und Frühjahr
1945.
Darüber schweigen sich die Projektanten des ZgV ebenso aus
wie über die Brutalität, mit der rund fünf Millionen Deutsche damals
vom NS-Regime gezwungen wurden, ihre Heimat zu räumen'. "Man fragt,
was die Nazibonzen sich bei dieser zwangsweisen Vertreibung der Ostdeutschen von
Haus und Hof gedacht haben", schrieb der Generalmajor a. D. Paul Freiherr
von Schoenaich am 1. März 1945 in sein Tagebuch. "Alle Ostflüchtlinge,
die ich befragte, haben mir gesagt, sie seien nicht freiwillig geflohen, sondern
auf polizeilichen Befehl. Keiner von ihnen glaubte, daß die Russen ihnen
etwas getan hätten." Daraus gehe klar hervor, "daß die Ostdeutschen
auf den Goebbels-Schwindel von den Bolschewisten-Greueln nicht mehr hineinfallen."
Zum kollektiven Gedächtnis gehören alle Erinnerungen aller Vertriebenen,
nicht nur jene, die bisher mit staatlichen Geldern gepflegt und gehegt worden
sind. So sind auch die Aufzeichnungen des 1949 in Westfalen verstorbenen Pfarrers
Paul Peikert dazuzuzählen, in denen er in Breslau am 27. März 1945 notierte:
"Die Not des Volkes ist an und für sich schon so groß, das Leid
und die Traurigkeit scheinen kaum noch einer Steigerung fähig zu sein und
doch wird diese entsetzliche Maßnahme, ganze Stadtteile aus ihrem Heim zu
vertreiben, mit so unerhörten Drohungen und mit einer mehr als frivolen Brutalität
durchgeführt, dass die Menschenherzen fast zerbrechen über die Bestialität
verrohter und entarteter Ortsgruppenleiter und ihrer Gehilfen."
Dass
die Verantwortung der NS-Behörden für die von ihnen verursachte humanitäre
Katastrophe in der genannten ZgV-Broschüre verschwiegen wird, ist um so empörender,
als die "neuen Herren" der "alten deutschen Reichsgebiete"
für dieses NS-Verbrechen an den Pranger gestellt werden. Den USA, Großbritannien
und der UdSSR wird sogar völkerrechtswidriges Verhalten mit abstrus konstruierten
Opferzahlen vorgeworfen: "In den Potsdamer Protokollen vom 2. August 1945
werden die Vertreibungen völkerrechtswidrig von den Alliierten legitimiert.
Mehr als 15 Millionen Deutsche waren am Ende Opfer dieser Politik." Will
Deutschland wirklich heute noch die Beschlüsse der Alliierten aus dem Jahr
1945 revidieren?
Wäre es nicht Zeit, sich endlich mit den Erinnerungen
aller Vertriebenen zu beschäftigen, anstatt allein den Verbandssprechern
zuzuhören? Viele Vertriebene gehören selbst zu den Kritikern der Vertriebenenverbände.
Ihre Stimmen wurden jedoch in der Nachkriegszeit von ehemaligen Nazis mit Hasstiraden
traktiert, und sie werden bis heute kaum gehört. "An mangelnder Heimatliebe,
wie manche argwöhnen könnten, lag es wahrlich nicht, dass ich mich fernhielt
von jenen Leuten, die der Volksmund als Berufsflüchtlinge bezeichnete. Ich
war irritiert und verärgert, unter den Verbandsfunktionären immer häufiger
Gestalten zu entdecken, die Hitler in die Hände gearbeitet und damit den
Krieg mit verursacht hatten", schrieb unlängst der selbst aus der Tschechoslowakei
1946 ausgesiedelte Publizist Kurt Nelhiebel aus Bremen: "Ohne den Krieg -
so lautete mein ganz persönliches Fazit - ohne den Krieg wäre ich noch
zu Hause." Und er fügt hinzu: "Keiner meiner Schulfreunde rechnet
sich zum Fußvolk der Verbandsfunktionäre."
Die deutsche
Öffentlichkeit braucht mehr Erinnern ohne ein ZgV, wenn sie die Geschichte
der Vertreibung kennen lernen möchte. Eine Auseinandersetzung mit der staatlich
unterstützten und finanzierten Erinnerungspolitik des vergangenen halben
Jahrhunderts steht an, damit eine innerdeutsche Diskussion über das Projekt
ZgV überhaupt erst einmal beginnen kann. Die Vertreibung ist ein viel zu
wichtiger deutscher Erinnerungsort, als dass man sich mit den bisher tradierten
Geschichtsbildern zufrieden geben könnte.