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Die Deutschen und ihr Nibelungenlied

Vom vergessenen Heldengedicht zum verdrängten Nationalepos / Reihe "Klassiker der deutschen Literatur" / Von Eckhard Grunewald*

Mit dem Vortrag „Das Nibelungenlied. Vom vergessenen Heldengedicht zum verdrängten Nationalepos“ eröffnete Prof. Dr. Eckhard Grunewald Anfang November 2006 die von Studierenden organisierte Vorlesungsreihe „Klassiker der deutschen Literatur“ an der Universität Oldenburg. Henning Baden, Annegret Kunde und Kerstin Ricker, drei Studierende der Germanistik, wollen mit dem Vortragszyklus Klassiker entstauben und einen ebenso umfassenden wie kurzweiligen Einblick in wichtige Werke der deutschen Literaturgeschichte geben. Grunewald hat seinen Eröffnungsvortrag um die wechselvolle Geschichte des Nibelungenlieds für das UNI-INFO gekürzt und leicht verändert.

Seit 2001 ist es aktenkundig: Das Nibelungenlied ist Teil des deutschen kulturellen Gedächtnisses - zusammen mit der Loreley, der Berliner Mauer, der Familie Mann, dem Volkswagen, dem Reichstag und dem Weißwurstäquator. Es gehört zu den so genannten „Deutschen Erinnerungsorten“, die von Etienne François und Hagen Schulze 2001-2003 in ihrer gleichnamigen dreibändigen Sammlung vorgestellt wurden. Nicht zu Unrecht: Es hat tatsächlich eine eigene Bewandtnis mit den Deutschen und ihrem Nibelungenlied.

Wenn das Nibelungenlied heute noch im kollektiven Gedächtnis bewahrt ist, dann vornehmlich aufgrund der diversen Konnotationen des 18. bis 20. Jahrhunderts, also wegen des symbolischen Mehrwerts, den der Text im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte in den letzten 250 Jahren gewonnen hat. Als literarisches Kunstwerk ist das Nibelungenlied in der breiteren Öffentlichkeit nicht präsent; es gehört zu den Werken, die - wie der Germanist Peter Wapnewski einmal in Anlehnung an Lessing reimte - „oft erhoben und genannt, aber wenig gelesen und wenig bekannt“ sind. Es erscheint charakteristisch, dass keine einzige Strophe oder auch nur Zeile des Lieds in den literarischen Zitatenschatz der Deutschen aufgenommen wurde: In Georg Büchmanns „Geflügelten Worten“ kommt das Nibelungenlied nicht vor; in den neueren Auflagen immerhin das Wort „Nibelungentreue“, was aber nicht auf das Werk selbst (dort taucht das Wort nicht auf), sondern nur auf dessen Rezeptionsgeschichte im 20. Jahrhundert verweist.

Erstes und zweites Leben

Das war nicht immer so: Im Mittelalter - vom 13. bis zum frühen 16. Jahrhundert - gehörte das Nibelungenlied in Deutschland zu den Lieblingsbüchern der höfischen Gesellschaft, wovon nicht zuletzt die stattliche Zahl von 36 Handschriften und -fragmenten zeugt (Gottfrieds berühmter „Tristan“-Roman bringt es gerade einmal auf 27).

Das 16. Jahrhundert mit seinen grundlegenden sozialen und kulturellen Veränderungen bedeutete das Aus für die höfisch-ritterliche Literatur des Mittelalters. Mit den meisten anderen Dichtungen der mittelhochdeutschen Blütezeit geriet das Nibelungenlied in absolute Vergessenheit und dämmerte in einem zweieinhalb Jahrhunderte dauernden Dornröschenschlaf vor sich hin, aus dem es - wie einst die Prinzessin des Märchens - erst mit einiger Mühe aufgeweckt werden konnte.

"Hagen ermordet Siegfried". Wandgemälde Julius Schnorr von Carolsfeld (1794-1872 im "Saal des Verrats" der Münchener Residenz.

Der Beginn des zweiten Lebens des Nibelungenlieds lässt sich genau datieren, und wir kennen auch den wachküssenden Prinzen. Es geschah am 29. Juni 1755. An diesem denkwürdigen Sonntag besuchte der Lindauer Arzt Jakob Hermann Obereit (1725-1798) - auf Anraten seines ehemaligen Zürcher Lehrers Johann Jakob Bodmer (1698-1783) - das Schloss Hohenems am Bodensee und stieß in der dortigen Bibliothek auf „2 alte eingebundene pergamentene Codices von altschwäbischen Gedichten [...], darvon der einte sehr schön deutlich geschrieben, einen mittelmässig dicken Quartband ausmacht, und ein aneinanderhangend weitläuftig Heldengedichte zu enthalten scheint, von der burgundischen Königin oder Princessin Chriemhild, der Titel aber ist Adventure von den Gibelungen“. Obereit hatte - ohne die Bedeutung des Funds einschätzen zu können - die textgeschichtlich wichtige Nibelungenlied-Handschrift C entdeckt. Wie alle seine Zeitgenossen hatte er noch nie etwas von den Nibelungen gehört und deshalb die etwas verschnörkelt geschriebene Titelzeile („Auenture von den Nibelungen“) irrtümlich als „Adventure von den Gibelungen“ entziffert.

Bodmer, einer der wenigen Mittelalter-enthusiasten seiner Zeit, war von dem Text hellauf begeistert und zögerte nicht lange, ihn der literarischen Öffentlichkeit bekannt zu machen: 1757 erschien „Chriemhilden Rache“ - eine Edition des zweiten Teils des Nibelungenlieds mit einem angehängten Wörterbuch, das die Lektüre des mittelhochdeutschen Textes erleichtern sollte. Aber trotz dieser Hilfestellung fand das Buch kaum Interessenten. Auch Bodmers zehn Jahre später unternommener zweiter Versuch - unter dem Titel „Die Rache der Schwester“ legte er 1767 eine Kurzfassung von „Chriemhilden Rache“ in neuhochdeutschen Hexametern vor - brachte nicht den erhofften Erfolg (woran die Qualität der ZürcherHexameter ihren Anteil gehabt haben mag).

Aus dem Schatten Homers

Kaum jemand außer den „happy few“ der Mittelalterszene interessierte sich für die Mär vom hünenhaften Siegfried und der schönen Kriemhild, vom schnöden Betrug an Brunhild und vom feigen Mord an Siegfried, von der grausamen Rache Kriemhilds und dem heroischen Untergang der Nibelungen in der brennenden Hunnenhalle. Abgesehen von sprachlichen Barrieren sah sich das Publikum des 18. Jahrhunderts durch mentale Schranken vom Nibelungenlied getrennt. Das blut- und tränengesättigte Epos von Siegfrieds „mordlichem Tod“ und „Chriemhilden Rache“ traf völlig unvermittelt die empfindsame Lesewelt des 18. Jahrhunderts, die sich gerade auf die Lektüre der „Leiden des jungen Werther“ einstimmte. Erschwerend kam hinzu: Fast zeitgleich mit der Entdeckung des Nibelungenlieds erschien 1755 Johann Joachim Winckelmanns (1717-1768) epochale Studie „Gedancken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst“, die für Deutschland und Europa (und die ganze damals europäisch geprägte Welt) das Programm des Klassizismus festlegte. Die Koinzidenz des Beginns der Nibelungenphilologie mit der Verkündung des Dogmas des Klassizismus bestimmte die Anfangsphase der Rezeption des Nibelungenlieds entscheidend. Die Beschäftigung mit dem Nibelungenlied fand gleichsam unter der „Sonne Homers“ (oder eher im Schatten Homers) statt. Die homerischen Epen (1781 erschien die Übersetzung der „Odyssee“ von Johann Heinrich Voß; 1793 folgte seine Übertragung der „Ilias“) wurden zum ästhetischen Richtmaß für das altdeutsche Heldengedicht.

1782, ein Jahr nach der Voß’schen „Odyssee“, brachte der Bodmer-Schüler Christoph Heinrich Myller (1740-1807) die erste Gesamtausgabe des Nibelungenlieds heraus: „Der Nibelungen Liet. Ein Rittergedicht aus dem XIII. oder XIV. Jahrhundert“. Die Myller’sche Edition - eine unwissenschaftliche Handschriftenvermischung, zudem leserunfreundlich, weil ohne jede Übersetzungshilfe - wäre ebenso wirkungslos geblieben wie die voraufgegangenen Bemühungen Bodmers, hätte sich nicht 1783 in einer Rezension der berühmte Schweizer Historiker Johannes von Müller (1752-1809) zu Wort gemeldet und für das Nibelungenlied endlich eine angemessene philologische Betreuung gefordert, wie sie einst „Homer von denen empfing, die ihn zuerst allen Griechen zum Lieblingsbuch machten“. Drei Jahre später (1786) nahm Müller den Faden noch einmal auf und formulierte den folgenschweren Satz: „Der Nibelungen Lied könnte die teutsche Ilias“, d. h. das Nationalepos der Deutschen werden. Damit war der künftigen Beschäftigung mit dem Nibelungenlied der Weg gewiesen - mit unkalkulierbaren Risiken und gefährlichen Nebenwirkungen sowohl für Deutschland als auch für das Lied selbst.

Nibelungentreue

Entflammt durch Müllers Nibelungen-Appell legte 1807 - ein Jahr nach Preußens vernichtender Niederlage gegen Napoleon - der Jurist und germanistische Autodidakt Friedrich Heinrich von der Hagen (1780-1856) eine eigentümliche Übertragung des Nibelungenlieds vor: In einer altdeutsch anmutenden Kunstsprache (einem ahistorischen Gemisch aus Mittel- und Neuhochdeutsch) präsentierte er das Werk dem breiten Publikum - mit dem Ziel, der deutschen Nation endlich den Weg zu seinem bislang verkannten Nationalgedicht zu ebnen und zugleich der gedemütigten Nationalseele ein Trutz- und Trostbuch zur moralischen Aufrüstung zukommen zu lassen. Das Nibelungenlied sollte seine Leser „zwar trauernd und klagend, doch auch getröstet und gestärkt zurücklassen, [...] mit Ergebung in das Unabwendliche, doch zugleich mit Muth zu Wort und That, mit Stolz und Vertrauen auf Vaterland und Volk, mit Hoffnung auf dereinstige Wiederkehr Deutscher Glorie und Weltherrlichkeit erfüllen“.

Mit von der Hagens Ausgabe von 1807 gewinnt die Nibelungenlied-Rezeption eine deutsch-nationale Ausrichtung, die in den Literaturgeschichten des 19. und 20. Jahrhunderts (bis zum Zweiten Weltkrieg) beibehalten wird. Als besonders nachhaltig erwies sich die 1845 erschienene (bis 1911 in 27 Auflagen verbreitete) „Geschichte der deutschen National-Litteratur“ von August Friedrich Christian Vilmar (1800-1868). Im Nibelungenlied spürte der Autor „das innerste, reinste, edelste Herzblut des deutschen Volkes“ und sah hier der „Treue des deutschen Volkes [...] ein unvergängliches Denkmal gesetzt“: „Die Größe der Helden und die Größe ihrer Thaten ist auf so bestimmte und entschiedene Weise durch ihre Gesinnung der Treue bedingt, daß dieselbe geradezu als das wichtigste und vorherrschende poetische Motiv aufgefaßt werden muß.“

"Wie Jring erschlagen ward." Holzschnitt von Alfred Rethel (1816-1859).

Von hier ist es kein weiter Weg mehr zu dem inzwischen geflügelten Wort von der „Nibelungentreue“, das der deutsche Reichskanzler Bernhard von Bülow (1849-1929) in seiner Reichstagsrede vom 29. März 1909 prägte, um das unauflöslich enge Verhältnis des Deut-schen Reiches zu Österreich-Ungarn zu charakterisieren: „Es gibt hier keinen Streit um den Vortritt wie zwischen den beiden Königinnen im Nibelungenliede; aber die Nibelungentreue wollen wir aus unserem Verhältnis zu Österreich-Ungarn nicht ausschalten, die wollen wir gegenseitig wahren.“ Das fatale Ergebnis dieser anachronistischen Übertragung von germanischen Tugenden und mittelalterlichen Wertvorstellungen auf die komplexe politische Weltsituation zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist allseits bekannt.

Die im Nibelungenlied beschriebenen atavistischen heldischen Verhaltensmuster werden während des Ersten und dann des Zweiten Weltkriegs in der deutschen Propaganda immer wieder bemüht. Einen traurigen Höhepunkt erreicht die politische Instrumentalisierung des Nibelungenlieds Anfang 1943 in einer Rede Hermann Görings (1893-1946), in der dieser im Blick auf die sich abzeichnende Katastrophe an der Wolga den Kampf im Kessel von Stalingrad mit dem Untergang der Nibelungen in der Hunnenhalle gleichsetzte: „Wir kennen ein gewaltiges Heldenlied von einem Kampf ohnegleichen, es heißt ‚Der Kampf der Nibelungen‘. Auch sie standen in einer Halle voll Feuer und Brand, löschten den Durst mit dem eigenen Blut, aber sie kämpften bis zum Letzten. Ein solcher Kampf tobt heute dort, und noch in tausend Jahren wird jeder Deutsche mit heiligem Schauer von diesem Kampf in Ehrfurcht sprechen und sich erinnern, daß dort trotz allem Deutschlands Sieg entschieden worden ist.“

Die Parallelisierung des aktuellen Kampfes in Stalingrad und des mythischen Kampfes in der Hunnenhalle dürfte ihre Wirkung auf die Zuhörer von 1943 nicht verfehlt haben - sie wirkt bis heute nach. Das Zitat fehlt in keiner Darstellung zur Rezeptionsgeschichte des Nibelungenlieds, und es steht - ebenso wie das geflügelte Wort von der „Nibelungentreue“ - seither zwischen uns und dem Text des 13. Jahrhunderts.

Verlorene Unschuld

Durch jahrzehntelange politische Instrumentalisierung hat das Nibelungenlied seine Unschuld verloren. Man kann heutzutage das Werk nicht mehr lesen wie den „Parzival“ oder den „Tristan“. Die ideologischen Bedeutungsschichten, die sich im 19. und 20. Jahrhundert wie Jahresringe um das Lied gelegt haben, sind so fest damit verbunden, dass eine unbefangene Lektüre kaum mehr möglich erscheint. Umso notwendiger ist es, dem Epos, dem der aller Deutschtümelei unverdächtige Heinrich Heine (1797-1856) voller Bewunderung eine „Sprache von Stein“ und Verse wie „gereimte Quadern“ attestierte, den Weg aus der unverschuldeten Außenseiterposition zu ebnen. Wie so oft in Deutschland dürfte dieser Weg über Europa führen. Denn am ehesten wird wohl das Lied von Siegfrieds Tod und vom Untergang der Nibelungen etwas von seiner ursprünglichen Dignität zurückgewinnen, wenn es (ohne seine rezeptionsgeschichtlichen Altlasten zu verleugnen) aus der nationalen Isolation in die Familie der europäischen Heldendichtung zurückfindet und sich hier zu Werken wie dem altenglischen „Beowulf“, dem altfranzösischen Rolandslied oder dem russischen Igorlied gesellt: von der „teutschen Ilias“ zur europäischen „Familienähnlichkeit.“

* Prof. Dr. Eckhard Grunewald ist Hochschullehrer für Mediävistik am Institut für Germanistik.

Presse & Kommunikation (Stand: 06.09.2024)  | 
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