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Inhalt 6/2010

Das aktuelle Interview

Die Dinge neu lesen lernen

Zwölf Doktoranden, zwei Postdocs, sieben Disziplinen: Graduiertenkolleg „Selbst-Bildungen“ erforscht Entstehung des Subjekts

Es ist das erste geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Graduiertenkolleg der Universität Oldenburg: „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive“ lautet dessen Titel; im Fokus steht die Frage, wie das Subjekt geformt wird und sich selbst formt – und dadurch Einfluss auf gesellschaftliche Strukturen nimmt. Ein Gespräch über Inhalte und Ziele des Graduiertenkollegs mit dem Sportsoziologen und Sprecher Prof. Dr. Thomas Alkemeyer (Foto).

UNI-INFO: Herr Alkemeyer, wann nimmt das Graduiertenkolleg seine Arbeit auf?

ALKEMEYER: Wir sind schon mittendrin. Am 1. Oktober startet das Projekt offiziell. Bis dahin sind die Promovenden auszuwählen – nach Qualität und nicht nach Fächerzugehörigkeit. So sieht es die Deutsche Forschungsgemeinschaft vor.

UNI-INFO: Das Subjekt steht im Zentrum des Graduiertenkollegs. Wo genau setzen die Forschungen an?

ALKEMEYER: Wir fragen uns: Wie wird ein Individuum zum Subjekt gemacht, wie formt es sich, um als Lehrer, Ärztin, Sportler erkannt und anerkannt zu werden? Das ist die eine Richtung. In der anderen Richtung interessiert uns, inwiefern das Individuum in dieser Gestaltung, also zum Beispiel in der individuellen Art, die „Subjektposition“ Lehrer einzunehmen und konkret zu verkörpern, auch zur Veränderung der Institution beiträgt, in der es agiert. Welche Praktiken der Subjektivierung legt die Institution nahe? Welche Freiräume der Selbstgestaltung gibt es? Handelt es sich eher um eine Reproduktion dessen, was ist, oder um Veränderung?

UNI-INFO: Haben Sie ein konkretes Beispiel?

ALKEMEYER: Im Zuge der 68er Revolte begannen die Professoren unter dem Druck der Studierenden, sich vom alten professoralen Habitus zu lösen. Hierarchien wurden flach, der Umgang wurde kollegial. Es entstand ein neuer Stil der Subjektivierung, der die Institution sehr beeinflusst hat: die sozialen Beziehungen wurden anders, die Universitätskultur veränderte sich. Es ist genau dieses Zusammenspiel von „doing subject“ und „doing culture“, das uns interessiert.

UNI-INFO: Der wesentliche Impuls zum Graduiertenkolleg kam aus der Fakultät IV, insgesamt sieben Fächer sind an dem Graduiertenkolleg beteiligt. Was versprechen Sie sich von dem interdisziplinären Ansatz?

ALKEMEYER: Gegenseitige Irritation und Befruchtung. Nehmen wir zum Beispiel den Blick von Historikern, Philosophen, Kunsthistorikern oder Sportsoziologen auf das Thema

UNI-INFO: … alles an dem Graduiertenkolleg beteiligte Disziplinen …

Museumsbesucher: Den Aufforderungscharakter von Räumen in den Blick zu nehmen, gehört zu den Forschungsansätzen des Graduiertenkollegs. Foto: iStockphoto


ALKEMEYER: … dann zielen, pointiert gesagt, Historiker auf Zeitstrukturen, Philosophen auf diskursive Praktiken der Selbstreflexion, Kunsthistoriker auf visuelle Praktiken und Sportsoziologen auf Verkörperungsprozesse. Analysieren die einen Texte und Bilder, so arbeiten die anderen mit Methoden der teilnehmenden Beobachtung und Befragung. Jede Perspektive hat ihre Stärken und blinden Flecken. Wenn sie nun aufeinandertreffen, werden sie sich gegenseitig inhaltlich ergänzen, kritisch hinterfragen und methodisch stimulieren. Beide Paradigmen – Text- und Diskursanalyse auf der einen Seite, Beobachtung und Befragung auf der anderen Seite – sollen in konkreten Forschungsprojekten zusammengebracht werden.

UNI-INFO: Wie sieht das im Detail aus?

ALKEMEYER: Wenn wir Forschungsansätze und Methoden kombinieren, dann heißt das auch, dass wir die jeweiligen Instrumentarien ergänzen. Historiker zum Beispiel erweitern im Graduiertenkolleg ihre Quellen, indem sie Architekturen und Räume als Bedingungsfaktoren von Subjektivierung mit berücksichtigen. Denn Räume haben einen Aufforderungscharakter.

UNI-INFO: Inwiefern?

ALKEMEYER: Sie erlauben uns, bestimmte Dinge zu tun, und legen uns nahe, andere zu unterlassen. In heutigen Klassenzimmern kann man kaum unbeobachtet herumlümmeln, und in der Kirche nimmt man Haltung an. Auch das trägt zur Subjektbildung bei. Die Blickrichtung des Graduiertenkollegs ist also auch grundsätzlicher Art: Sie geht auf Methoden, mit denen wir Räume, Bilder, Artefakte und Dinge neu zu lesen lernen – immer in Hinblick auf die Frage, welchen Anteil sie an der Subjektformung haben.

UNI-INFO: Was bedeutet die Bewilligung der DFG für die Universität?

ALKEMEYER: Einen echten Imagegewinn und einen großen Schritt für die Nachwuchsförderung an unserer Universität. Die Resonanz der Kolleginnen und Kollegen auch anderer Universitäten war sehr groß. Wir denken, die Thematik hat eine Strahlkraft, die in den nächsten Jahren weit über die Universität hinausreichen kann. Bei erfolgreicher Bewertung und Forschung ist es durchaus denkbar, dass sich aus den „Selbst-Bildungen“ irgendwann einmal ein eigener Sonderforschungsbereich entwickelt.

Die Fragen stellte Matthias Echterhagen

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