Gedankenexperimente Abstracts
Gedankenexperimente Abstracts
Ringvorlesung "Gedankenexperimente"
Zusammenfassungen der Vorträge
09. April // Prof. Dr. Ulrich Gähde (Hamburg): Was sind Gedankenexperimente?
Gerade in Zeiten wissenschaftlicher Krisen und Revolutionen haben Gedankenexperimente oftmals eine zentrale Rolle gespielt. So finden sich Blütephasen etwa am Beginn der neuzeitlichen Physik oder in den Entstehungsphasen der Speziellen und Allgemeinen Relativitätstheorie und Quantenmechanik. Aber auch in der Philosophie sind Gedankenexperimente seit der Antike häufig eingesetzte intellektuelle Hilfsmittel. Doch trotz zahlreicher Präzisierungsversuche ist der Begriff "Gedankenexperiment" bis heute schillernd und mehrdeutig geblieben. Im Vortrag wird versucht, auf die Frage, was Gedankenexperimente auszeichnet, eine erste Antwort zu geben und an mehreren klassischen Beispielen zu erläutern. Besonderer Wert wird dabei auf Gemeinsamkeiten zwischen philosophischen und naturwissenschaftlichen Gedankenexperimenten gelegt.
16. April // Dr. Ulrich Kühne (Berlin): Geniestreich oder fauler Zauber? Kritische Anmerkungen zum Gebrauch von Gedankenexperimenten als Wissenschaftsmethode
Einerseits finden sich in der Wissenschaftsgeschichte phantastische Beispiele für Entdeckungen von Naturgesetzen, die sich scheinbar durch bloßes Nachdenken der reinen Vernunft offenbart haben. Andererseits wissen wir, dass in den Naturwissenschaften die Natur jederzeit für Überraschungen sorgen kann und schon viele vernünftig erscheinende Spekulation widerlegt hat. Der Vortrag wird ein Plädoyer für kritisches Denken sein und zur Vorsicht vor falschen Gewissheiten mahnen. Sinnvoll angewandt können Gedankenexperimente jedoch sogar dabei helfen, die Vorurteile in unserem Denken zu entlarven und die Suche nach empirisch fundierten Theorien zu unterstützen.
23. April //Dr. Werner Eisner (Hannover): Gedankenexperimente in der Geschichte der Quantenmechanik
In diesem Vortrag wird die Bedeutung des Gedankenexperiments für die Entwicklung der Quantentheorie und die anschließende Auseinandersetzung mit Kritikern (wie Einstein) herausgearbeitet. Z.T anhand von Ausschnitten der Originalquellen werden berühmte Fälle ("Schrödingers Katze", das "Heisenberg-Mikroskop", das "EPR-Experiment") diskutiert, aber auch weniger bekannte Überlegungen, die sich z.B. in den Korrespondenzen der Physiker in der Herausbildungsphase der Quantentheorie finden. Viele dieser Gedankenexperimente sind bis heute eine Quelle heftigster Diskussionen und zahlreicher Missverständnisse, die aufgearbeitet werden müssen, zumal manche dieser Versuche heute technisch realisiert werden können.
30. April // Prof. Dr. Manfred Stöckler (Bremen): Das Paradoxon von Einstein, Podolsky und Rosen – Zum Schicksal eines ehemaligen Gedankenexperiments
Das 1935 veröffentliche Gedankenexperiment, das unter dem Namen "EPR-Paradoxon" berühmt wurde, erlaubt ohne spezielle Mathematikkenntnisse einen tiefen Einblick in die Grundstruktur der damals neu entwickelten Quantentheorie. Insbesondere hebt es ihre nichtlokalen Eigenschaften hervor, die zu allerlei Spekulationen über "spukhafte Fernwirkungen" und die Grenzen des klassischen atomistischen Weltbilds geführt haben. Ein genauerer Blick auf die Geschichte des EPR-Paradoxons zeigt, dass man abhängig vom jeweiligen Hintergrundwissen sehr verschiedene Folgerungen aus ihm gezogen hat. Was bedeutet das für die Rolle von Gedankenexperimenten in der Physik? Was hat sich geändert, als das vorgeschlagene Experiment realisiert werden konnte? Wie bewähren sich an diesem Fallbeispiel verschiedene Theorien über Gedankenexperimente? Und was kann man aus heutiger Sicht aus dem EPR-Paradoxon über die Quantentheorie und die Mikrowelt lernen?
07. Mai // Prof. Dr. Alexander Hartmann (Oldenburg): Computersimulationen: Gedankenexperimente für Faule?
Die historische Entwicklung der Computerprogrammierung lässt sich als eine Form von Gedankenexperiment auffassen. Algorithmen wurden entwickelt, lange bevor es Computer gab. Daher war ihre "Ausführung", z.B. zum Finden von Primzahlen (Eratosthenes) oder zur Berechnung der Zahl Pi (Archimedes), oft auf Gedankenexperimente beschränkt. Mit der Entwicklung leistungsfähiger Computer konnten nicht nur solche "klassischen" Algorithmen ausgeführt werden, sondern es entwickelte sich der neue Forschungszweig der Computersimulationen. Dabei werden Naturvorgänge auf möglichst einfache Grundprinzipien zurückgeführt, wie es auch für Gedankenexperimente (oder allgemein Theoriebildung) essentiell ist. Andererseits kann man mittels Computersimulationen aber sehr komplexe Modellsysteme realisieren und durchspielen. Die Implikationen der zunächst gedanklichen Regeln, also das Verhalten der Modellsysteme, könnte man in reinen Gedankenexperimenten nie erforschen. Sind Computersimulationen somit Gedankenexperimente für Faule (oder Schlaue)?
14. Mai // Prof. Dr. Falk Rieß (Oldenburg): Gedankenexperimente im Physikunterricht
Die Kritik am (realen) Physikunterricht konzentriert sich auf das mangelnde Interesse und die geringe Motivation, die der Unterricht auslöst, auf die unbefriedigenden Lernergebnisse, die er erzielt, und auf das unzutreffende Bild von der Arbeitsweise und Systematik der Wissenschaft (Nature of Science), das – häufig nicht bewusst – vermittelt wird. Der Vorschlag, Gedankenexperimente als pädagogische Hilfsmittel zu nutzen, geht auf Ernst Mach zurück. Inzwischen gibt es eine Reihe von Vorschlägen zur Einbeziehung von "klassischen" Gedankenexperimenten in den Physikunterricht (Galilei, Einstein, Franklin). Dabei wird stets betont, dass diese Fallstudien in einen "narrativen Kontext" eingebettet werden müssen, um didaktisch wirkungsvoll zu werden. Ich werde für eine phantasievolle Kombination von Gedanken- und Realexperiment plädieren, die die Einheit von geistiger und körperlicher Arbeit im naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess repräsentieren soll.
28. Mai // Prof. Dr. Michael Stöltzner (Columbia / South Carolina): Das Labor der besten möglichen Welten – Variationsprinzipien und verwandte Gedankenexperimente in der mathematischen Physik
Kaum ein Prinzip der theoretischen Physik war in stärkerem Maße Anlass für philosophische Kontroversen als das Prinzip der kleinsten Wirkung und die mit ihm verbundenen Extremalprinzipien. Dies liegt nicht nur an seinem Beginn inmitten eines heftig ausgefochtenen Prioritätenstreits in der Mitte des 18. Jahrhunderts, sondern auch an seiner Form. Denn es vergleicht die Dynamik eines physikalischen Systems mit möglichen Alternativen, wobei die tatsächliche Dynamik in den meisten, aber nicht allen Fällen durch das Minimum eines Integralausdrucks charakterisiert wird. Dieser Vergleich möglicher Welten hat das Prinzip immer wieder mit der Vorstellung einer sparsam waltenden Natur bzw. einer Teleologie der Natur in Verbindung gebracht. Im Vortrag wird es jedoch als ein Gedankenexperiment über die Anwendbarkeit der Mathematik analysiert, wodurch die verschiedenen Argumentationsebenen dieses Prinzips deutlicher voneinander getrennt werden können.
04. Juni // Prof. Dr. Julian Reiss (Rotterdam): Gedankenexperimente in der Ökonomie: Gewissheit und Anwendbarkeit
Gedankenexperimente spielen eine wichtige Rolle in vielen empirischen Wissenschaften. Wissenschaftstheoretiker gehen sogar so weit, zu behaupten, dass ihnen eine zentrale Funktion in Zeiten revolutionären Theoriewandels zukommt. Ziel dieses Vortrags ist es, die Relevanz und Vertretbarkeit der Methode des Gedankenexperiments im Gebiet der Ökonomik zu klären. Verstanden als Experimente, die auf hypothetischen Modellsystemen ausgeführt werden, sind Gedankenexperimente in der Ökonomik außerordentlich zahlreich und werden vor allem zu wissenschaftlichen Erklärungszwecken sowie zur Kausalinduktion herangezogen. Hier werde ich diese Rollen näher beschreiben und feststellen, ob und unter welchen Bedingungen Gedankenexperimente sie adäquat ausführen können.
11. Juni // Prof. Dr. Daniel Cohnitz (Tartu): Können wir Gedankenexperimenten in der Philosophie vertrauen? [abweichender Ort: A05 0-056]
Gedankenexperimente sind in der Philosophie insbesondere in den letzten drei Jahrzehnten zunehmend in die Kritik geraten. Diese Diskussion hat sich dann in den letzten Jahren zu einer allgemeinen Methodendebatte erweitert. Solche Debatten sind in der Philosophie in der Regel fruchtlos, wenn sie als "Metaphilosophie" verstanden werden. Auch eine Metaphilosophie scheint erkenntnistheoretische und metaphysische Voraussetzungen machen zu müssen, die selbst philosophisch umstritten sind. Das macht eine Metaphilosophie aber unbrauchbar als neutrales System, innerhalb dessen Philosophie betrieben werden kann. Kann man also nicht allgemein beantworten, ob Gedankenexperimenten in der Philosophie vertraut werden kann?
18. Juni // Prof. Dr. Dagmar Borchers (Bremen): Wie man weltberühmte Geiger vor dem Tode bewahrt und führerlose Dampfwalzen stoppt – Gedankenexperimente und Szenarien moralischer Dilemmata in der Ethik
In der Ethik gibt es viele Gedankenexperimente, die zum Teil skurril, zum Teil jedoch auch richtig lustig und originell sind. Aber welche Funktion sollen sie eigentlich genau erfüllen? Ganz allgemein geht es den Autoren darum, die eigenen Intuitionen darzulegen und diese dann im Kontext der jeweiligen Argumentation zu evaluieren und zu kommentieren. Aber wie wir auf ein Gedankenexperiment reagieren, hängt maßgeblich davon ab, wie es konzipiert wurde und in welcher Reihenfolge man uns mit verschiedenen Szenarien konfrontiert. Was gewinnt man also durch ein Gedankenexperiment für eine Argumentation in der Ethik? In diesem Zusammenhang werden wir auch über den Stellenwert von Intuitionen für ethische Argumentationen sprechen müssen – und das ist ein umstrittenes Terrain.
25. Juni // Prof. Dr. Thomas Grundmann (Köln): Hat der Lehnstuhl ausgedient? Über den sozialpsychologischen Frontalangriff auf philosophische Intuitionen
In philosophischen Gedankenexperimenten (Gettier-Fälle, Twin-Earth-Szenarien, Searles Chinesisches Zimmer) spielen Intuitionen über hypothetische Fälle eine entscheidende Rolle. Die fast naive Annahme, dass es hier eine stabile intersubjektive Übereinstimmung gibt, wurde in den letzten zehn Jahren durch Untersuchungen der sogenannten "Experimentellen Philosophie" massiv erschüttert. Sozialpsychologische Untersuchungen zeigen, dass unsere Intuitionen über philosophische Fälle extrem schwanken und durch eine Reihe von sachfremden Faktoren (kultureller oder sozioökonomischer Hintergrund, Affekte, Positions- und Ankereffekte) beeinflusst werden. Einige Philosophen haben daraus die Konsequenz gezogen, dass die auf Intuitionen gestützten Gedankenexperimente keinen Erkenntniswert haben. Im Vortrag wird dafür argumentiert, dass und warum diese Konsequenz unbegründet und unannehmbar ist.
02. Juli // Prof. Dr. Jörg H. Y. Fehige (Toronto): Gedankenexperimente denken. Die aktuelle Diskussion um das Gedankenexperiment
Seit dem Ende der 1980er Jahre hat sich eine intensive philosophische Debatte um das Gedankenexperiment entzündet. Im Mittelpunkt des Vortrages steht die Frage: Sofern die Mehrheitsmeinung korrekt ist, dass Gedankenexperimente eine herausragende Rolle in der natur- und geisteswissenschaftlichen Theoriebildung gespielt haben, wie wäre dann diese Rolle erkenntnistheoretisch zu qualifizieren? Dementsprechend werden die einflussreichsten Theorien zur Erklärung der kognitiven Effektivität von Gedankenexperimenten vorgestellt und kritischen Anfragen ausgesetzt. In einem abschließenden Ausblick soll angedeutet werden, wie man den Nutzen und Erfolg von Gedankenexperimenten in den Natur- und Geisteswissenschaften mit Rekurs auf eine naturalistische Theorie von Intuitionen erklären könnte.