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Ingo Harms

Klaus Klattenhoff

Klaus Klattenhoff

 

03. Juli 2008   307/08   Forschung

Nationalsozialistische Zwangssterilisation im Land Oldenburg
Dissertation im Fach Sonderpädagogik

Oldenburg. Alwin R. aus der Wesermarsch war 15 Jahre alt, als er in die Mühlen der nationalsozialistischen Zwangssterilisation geriet. Er hatte eine „Hilfsschule“ besucht. Da alle Schüler, die mehrfach sitzen geblieben waren, dem Amtsarzt gemeldet werden mussten, wurde auch sein „Fall“ aktenkundig. Zur Begründung seiner Anzeige schrieb der Hilfsschullehrer: „Auffallend war besonders der sittliche Tiefstand … R. war schadenfroh, bockig und feige mürrisch, frech, schlappsig, haltlos, unehrlich, ein kindischer Sonderling ohne Trieb und Wille.“ Zudem sei er noch Bettnässer gewesen. Der zuständige Amtsarzt, Dr. Bruno F. vom Gesundheitsamt Wesermarsch in Brake, stellte nach einer Untersuchung den Antrag auf Unfruchtbarmachung, dem das Erbgesundheitsgericht in Oldenburg stattgab. Wenige Wochen später wurde die Zwangssterilisation im Krankenhaus in Nordenham durch Dr. E. vorgenommen.
Mindestens 2.574 Menschen, davon 1.405 Männer und 1.169 Frauen, sind im früheren Land Oldenburg Opfer der nationalsozialistischen Zwangssterilisation geworden, mindestens sechs von ihnen aufgrund des Eingriffs gestorben. Zu diesem Ergebnis gelangt der Gymnasiallehrer Dr. Martin Finschow (40) aus Westerstede in seiner kürzlich im Fach Sonderpädagogik an der Universität Oldenburg abgeschlossenen Dissertation mit dem Titel „Umfang und Struktur der nationalsozialistischen Zwangssterilisationen im Land Oldenburg – eine Reflexion aus historisch-behindertenpädagogischer Perspektive“. Die Arbeit, die von Prof. Dr. Klaus Klattenhoff und Privatdozent Dr. Ingo Harms betreut wurde, ist jetzt im Oldenburger Isensee Verlag erschienen.*
Finschow stützte sich bei seiner Untersuchung auf Aktenbestände der Gesundheitsämter Brake, Westerstede und Oldenburg sowie des ehemaligen Oldenburger Innenministeriums. Alle anderen Gesundheitsämter haben ihre Erbgesundheitsakten vernichtet, z. T. erst in den 1990er Jahren. Die erhaltenen Dokumente bieten gleichwohl ein umfassendes Bild der oldenburgischen Erbgesundheitspolitik während der NS-Zeit. So ließen sich Hunderte Erbgesundheitsverfahren von der Denunziation über die Anzeige beim Gesundheitsamt, die Gerichtsverfahren bis hin zum Zwangseingriff in den Krankenhäusern nachvollziehen. An Verfahren und Durchführung der Zwangssterilisation beteiligten sich im Land Oldenburg mehr als einhundert Mediziner, Juristen, Pflegekräfte und Beamte. Hinzu kamen die Hilfsschulpädagogen.
Die Zwangssterilisation im Nationalsozialismus war durch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVN) geregelt. Ziel war es laut Gesetzeskommentar, „den Volkskörper zu reinigen und die krankhaften Erbanlagen allmählich auszumerzen“. Als Erbkrankheiten galten u.a. „angeborener Schwachsinn“, „Schizophrenie“ und „schwere körperliche Missbildung“. Über die Sterilisationsanträge, die von den Gesundheitsämtern gestellt wurden, hatten eigens eingerichtete „Erbgesundheitsgerichte“ zu entscheiden. Aufgrund des Gesetzes wurden im Deutschen Reich bis 1945 etwa 350.000 Menschen zwangssterilisiert, je zur Hälfte Frauen und Männer. Ungefähr 6.000 Personen, zumeist Frauen, starben infolge des Eingriffs.
Die Opfer der nationalsozialistischen Sterilisationspolitik hatten trotz aller Geheimhaltungsvorschriften einen schweren Stand, wenn sie nach ihrer Zwangsoperation in ihren Wohnort zurückkehrten. Für viele glich das Leben danach einem „Spießrutenlauf“, denn innerhalb der nationalsozialistischen Gesellschaft galt ein Sterilisierter als „minderwertig“. Dementsprechend schloss man diese Menschen aus der Gesellschaft und auch von vielen staatlichen Unterstützungsmaßnahmen aus. So wurde Kriegsversehrten des Ersten Weltkriegs die Rente oder betroffenen Familien das Kindergeld gestrichen. Außerdem verbot der NS-Staat den Zwangssterilisierten, „erbgesunde“ Zeitgenossen zu heiraten. Das sei eine Verschwendung „gesunden Erbgutes“. Viele Sterilisierte reagierten mit Angst, Depression und häufig verschlechterte sich ihre psychische bzw. physische Verfassung. Ein weiteres großes Problem der zwangssterilisierten Frauen war, dass sie von Männern als „Freiwild“ betrachtet wurden.
Die Diskriminierung hielt auch nach dem Krieg an, da in der Bevölkerung vielfach die Meinung herrschte, die Betroffenen seien „zu Recht“ sterilisiert worden. Diese Haltung wurde noch dadurch verstärkt, dass das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses nicht aufgehoben wurde, weil dies Entschädigungsansprüche der Zwangssterilisierten zur Folge gehabt hätte. Erst seit 1980 können Zwangssterilisierte eine einmalige Entschädigungsleistung beantragen, die damals 5.000 DM betrug. Bis zum Jahr 2000 erhielten rund 16.000 Betroffene diese Ausgleichszahlung. 2007 wurde das NS-Gesetz durch den Bundestag geächtet.
Das Thema „Zwangssterilisation“ sei nach wie vor aktuell und könne im Kontext der Diskussion über die embryonale Stammzellforschung oder den Umgang mit Behinderten gesehen werden, so Finschow: „Geht es in unserer Gesellschaft und Kultur nur noch um Leistungsfähigkeit, dann ist die Gefahr sehr groß, dass Kinder, Behinderte und alte Menschen nur noch als wirtschaftliche Belastung gesehen werden.“

* Martin Finschow: Denunziert, kriminalisiert, zwangssterilisiert: Opfer, die keiner sieht - Nationalsozialistische Zwangssterilisationen im Oldenburger Land, Verlag Isensee, Oldenburg, ISBN 978-3-89995-524-8, 24,80 Euro

ⓚ Kontakt:
Dr. Martin Finschow, Tel.: 04488-73443, E-Mail: kirstin.finschow(Klammeraffe)ewetel.net
 
(Stand: 19.01.2024)  | 
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