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22. August 2013 317/13 Forschung
Spitzensportler:
„Griff zur Droge ist konformes Verhalten“
Oldenburger Sportsoziologe Thomas Alkemeyer kommentiert aktuelle Dopingdebatte
Oldenburg. Der in der alten Bundesrepublik gepflegte Mythos eines sauberen westdeutschen Spitzensports – im Gegensatz zu einem verseuchten Spitzensport des Ostens – hat seine Glaubwürdigkeit endgültig verloren, dies besonders nach den Erkenntnissen der Forschergruppe um den Historiker Giselher Spitzer von der Humboldt Universität zu Berlin. Das erklärte heute der Oldenburger Sportsoziologe Prof. Dr. Thomas Alkemeyer in Hinblick auf die aktuelle Dopingdebatte. Diese bezeichnete er in ihrer moralischen Ausrichtung als ein Ausdruck von Hilflosigkeit: „Moralische Appelle zu lückenloser Aufklärung werden letztlich von dem Verlangen getragen, zu einem in die Vergangenheit projizierten Idealzustand zurückzukehren.“
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Die Stellungnahme von Thomas Alkemeyer hier im Wortlaut:
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Die aktuell geführte Dopingdebatte krankt an einem Problem, das schon ihre Vorgänger kennzeichnete: Sie wird überwiegend in einem Vokabular der Lüge, des Betrugs und des Missbrauchs geführt. Die Crux einer solchen Kritik? Sie möchte die Wirklichkeit an ihren Idealen blamieren. Moralische Appelle zu lückenloser Aufklärung und Forderungen nach einem unabhängigen Kontrollsystem werden letztlich von dem Verlangen getragen, zu einem in die Vergangenheit projizierten Idealzustand zurückzukehren. Freilich scheint die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit weit weniger groß zu sein als oft unterstellt. Immerhin ist die normative Aufforderung zum Superlativ ein Kerngedanke des modernen Leistungssports: citius, altius, fortius – schneller, höher, stärker. Nicht erst seit gestern liefert er Bilder eines schrankenlosen Leistungsstrebens, in denen sich das ökonomische Ideal der Produktivität ebenso mitreißend repräsentieren lässt wie der Wunsch nach nationaler Macht und Überlegenheit.
Zur Produktion von Spitzensportlern gehören wissenschaftlich fundierte Trainingsmethoden ebenso wie eine willfährige Sportmedizin. Die offizielle Dopingdefinition – als Doping wird die Anwendung von Mitteln bestimmt, die auf einer Positivliste stehen – sorgt dabei dafür, dass bloße graduelle Unterschiede auf einem Kontinuum leistungssteigernder Techniken recht willkürlich in den scharfen Gegensatz von „erlaubt“ und „unerlaubt“, von „sauber“ und „unsauber“, verwandelt werden. Mit der Empirie des Spitzensports hat dies wenig zu tun. Wer einmal die Gelegenheit hatte, auch nur ausschnitthaft Einblick in seine Welt zu erhalten, weiß, wie fließend die Übergänge in Wirklichkeit sind.
Spitzenleistungen zu erbringen setzt voraus, sich bereits in jungen Jahren vollkommen dem Sport hinzugeben. Die Investitionen an Zeit, Energie, Kraft und Leidenschaft, oft auch an Geld, sind enorm. Der Alltag vieler junger Leistungssportler spielt sich ausschließlich zwischen Schule, Trainingszentrum und Elternhaus ab. Das gesamte Leben dreht sich um den Sport und wird mit Tages-, Trainings- und Ernährungsplänen unerbittlich durchgeplant. Zeit für andere Aktivitäten bleibt kaum. Der Freundeskreis rekrutiert sich aus der Trainingsgruppe; Identität und Selbstwertgefühl sind aufs Engste mit dem Universum des Leistungssports verklammert. Ein Herausfallen ginge an die Existenz. Eingespannt zwischen die Leidenschaft für den Sport und die Attraktion der Zugehörigkeit auf der einen Seite und das Schreckgespenst eines Dropouts auf der anderen wird oft alles getan, um „im Spiel“ zu bleiben. Es beginnt mit harmlosen Vitamintabletten zur Regeneration; um überhaupt trainieren oder am Wettkampf teilnehmen zu können, werden Schmerzmittel eingenommen; Eiweißpulver unterstützen den Aufbau von Muskeln; mit Kreatin kann das Trainingsvolumen gesteigert werden. Die Mittel sind (noch) legal, aber die Hemmschwelle sinkt, Schuldbewusstsein schwindet. Schritt für Schritt, Zug um Zug, sozialisiert sich der angehende Spitzensportler in ein Milieu, in dem erstaunliche Trainingspensa völlig normal sind. Der Griff zur Droge ist hier kein abweichendes sondern ein durchaus konformes Verhalten.
Verblüffend ist die öffentliche Aufregung darüber – zumal in Zeiten, in denen die Suche nach pharmakologischen Lösungen für alle möglichen „menschlichen“ Probleme in anderen Bereichen der Gesellschaft zunehmend akzeptiert und legitimiert wird. Wo bleibt ein ähnliches massenmediales Getöse, wenn Schulkindern zum „Gehirndoping“ Antidementiva verabreicht werden? Wen stört es, wenn Orchestermusiker – wie Sportschützen – zu Beta-Blockern greifen? Wer stößt sich daran, wenn Schriftsteller ihre Gedichte unter Drogeneinfluss schreiben, Rockmusiker mit Hilfe von Marihuana oder LSD ihre Kreativität zu entfalten suchen oder Manager und Kraftfahrer nicht nur Vitamincocktails, sondern auch andere Muntermacher schlucken, um mit Leistungsdruck klar zu kommen und allzeit wach zu bleiben? Selbst im Breitensport wird Medikamentenmissbrauch im Unterschied zum spitzensportlichen Doping kaum diskutiert.
Offenbar ist der Spitzensport ein so starkes Symbol der modernen Gesellschaft, dass verzweifelt um seine Reinheit gerungen wird. Er repräsentiert das Wunschbild einer Gesellschaft, die von Leistungswettbewerben und Rekorden nach wie vor fasziniert ist. Im Unterschied zur ökonomischen oder politischen Wirklichkeit „draußen“ konnte er sich lange Zeit als eine bessere Welt ehrlich erbrachter Leistungen und fairer Konkurrenzen geben. Deshalb wurde er in ein gleichsam sakrales Licht gehüllt; die Rede von „Dopingsündern“ spricht Bände. Doping und Dopingdebatte drohen, diese Illusion zu zerstören. Um dem Kampf gegen diese Bedrohung Glaubwürdigkeit zu verleihen, werden sogar Verletzungen von Grundrechten und Menschenwürde in Kauf genommen: Nonchalant können seitens des Sports Berufsverbote verhängt werden, müssen sich Athletinnen und Athleten bei Dopingkontrollen beim Pinkeln zuschauen lassen und sollen SportlerInnen zu transparenten Exemplaren aus Blut-, Laktose- und Wattwerten gemacht werden. Öffentliche Empörung – Fehlanzeige.
Ein dem Prinzip der Überbietung folgender Sport ist ohne den Einsatz aller verfügbaren Mittel nicht zu haben. Und womöglich entspricht völlige Sauberkeit ja auch gar nicht den objektiven Interessen aller Beteiligten. Auch die Kehrseite der Moralisierung des Sports, das Entlarven von „Dopingsündern“, kann durchaus profitabel sein – für die Massenmedien in ihrem Ringen um das knappe Gut Aufmerksamkeit, aber auch für Dopingfahnder und Kontrolllabore. Das System hält sich solange am Laufen, wie es Gewinner produziert. Für Spannung ist gesorgt, wenn das Spiel von Katz und Maus im Gleichgewicht bleibt. Unter diesen Bedingungen gleicht, frei nach Ulrich Beck, jede noch ernst gemeinte Sportethik dem Versuch, ein Interkontinentalflugzeug mit der Fahrradbremse zum Stehen zu bringen.
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