von Thomas Alkemeyer
Folgt man der preisgekrönten Gegenwartsdiagnose des Soziologen Andreas Reckwitz, dann zeichnet sich die Spätmoderne durch eine soziale und kulturelle Logik der Singularisierung aus: Dinge, Orte, Zeiten und Menschen werden nicht, wie in der industriellen Moderne, als Exemplare eines Durchschnitts betrachtet, sondern in Praktiken des Beobachtens, Bewertens, Hervorbringens und Aneignens singularisiert, d.h. als einzigartig und unersetzbar in Wert gesetzt. Die Agenten dieser Inwertsetzung entstammen, so Reckwitz, einer neuen Mittelklasse, die sich seit den 1980er Jahren als Profiteure von Globalisierung, Bildungsexpansion und Digitalisierung herausgebildet hat. Sie besteht hauptsächlich aus Akademiker:innen mit hochwertigen Bildungsabschlüssen, die als Wissensarbeiter:innen unterwegs sind. Die Angehörigen dieser Klasse leben vornehmlich in den Metropolen und grenzen sich durch eine Form der Lebensführung von der alten Mittelklasse der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ der Nachkriegsära ab, die nicht länger durch die Werte der Disziplin, der Pflichterfüllung und eines möglichst hohen Lebensstandards angeleitet wird, sondern durch ‚romantische‘ Ideale der Kreativität, Flexibilität und Mobilität, der Lebensqualität und Selbstverwirklichung. Prägend für ihren Lebensführungsstil ist eine kuratorische Haltung, in der ‚Kultur‘ als Ressource für eine Singularisierungsarbeit benutzt wird, in der sich das Selbst möglichst authentisch als einzigartig zur Schau stellt und verwirklicht.
In der akademisch verfassten Wissenschaft ist diese Haltung weit verbreitet. Die Universitäten der Gegenwart bieten ihrer Entfaltung offenbar einen guten Nährboden. Der erfolgreiche Auftritt als ein Wissenschaftler-Subjekt (oder auch als Universität) mit einem eigenen, unverwechselbaren ‚Profil‘ und einer besonderen Begabung ist hier eine unabdingbare Voraussetzung dafür, als eine Art von Originalgenie valorisiert und singularisiert zu werden. Die Erfindung des Originalgenies hat übrigens auch erst den Begriff des Plagiats hervorgebracht; und dessen lautstarke Skandalisierung ist ohne die flächendeckende Inwertsetzung einer auf schöpferischen Einfällen und eigenständigen Gedanken beruhenden Besonderheit wohl kaum zu begreifen. Denn der Erfolg des Abschreibens geht an die Substanz des von den eigenen Aufführungen der Besonderheit berauschten Selbstbilds der akademischen Singularitäten. Damit soll das Plagiieren ausdrücklich nicht verharmlost, sondern die affektive Energie verständlich gemacht werden, mit der das Abschreiben in der akademischen (wie auch in der künstlerischen) Welt beantwortet wird, während das Imitieren in anderen, weniger auf Einzigartigkeit und Originalität gepolten Welten und sozialen Klassen doch eher kalt lässt.
Eine ähnliche Kränkung geht von ChatGPT aus. Denn der Chatbot fabriziert Texte, die sich offenbar in vielen Fällen auch von Expert:innen kaum von den Texten unterscheiden lassen, die Wissenschaftler:innen produzieren. Vermutlich trifft dies insbesondere für Drittmittelanträge zu, eine Textgattung, die weitaus standardisierter und schablonenhafter ist, als es ihren Schöpfer:innen lieb ist. Sie reagiert damit auf forschungsinstitutionell vorgegebene Erwartungen an Vergleichbarkeit, die man mit Reckwitz eher der industriellen Moderne als der nachindustriellen Spätmoderne zurechnen müsste. Das dürfte vor allem dann auch Konsequenzen für seine Gesellschaftstheorie haben, wenn sich herausstellen sollte, dass das Geschäft der auf Singularität bedachten akademischen Kopfarbeit weitaus leichter von ‚intelligenten‘ Maschinen zu bewerkstelligen ist als das Geschäft bodenständiger Handarbeit, deren Agenten wohl eher den alten als den neuen Mittelklassen zuzuordnen sind. Mir ist jedenfalls noch keine intelligente Maschine bekannt, die ein Küchenmöbel so versiert in einen windschiefen Altbau einpassen könnte wie eine geübte Kücheninstallateurin.
Den Vertreter:innen der akademischen Klasse, die sich allzu gern als Singularitäten performieren und imaginieren, sollte es jedenfalls zu denken geben, wenn ihre ‚kognitive‘ Arbeit leichter von Maschinen erbracht werden kann als die ‚praktische‘ Arbeit von Handarbeiter:innen. Womöglich hat solche Desillusionierung ihr Gutes auch darin, das eigene wissenschaftliche Tun zukünftig eher als ein ‚gewöhnliches‘ Handwerk zu verstehen und zu betreiben, das sich mit allzu oft in Dauerschleife wiederholten Idiomen nicht ebenso verzweifelt wie vergeblich um Originalität bemüht, sondern darum, etwas Solides zu fabrizieren.
Thomas Alkemeyer, Dr. phil. habil., ist Professor für Soziologie und Sportsoziologie am Institut für Sportwissenschaft der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.
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