Das Potential des Kontingenz-Begriffs für die wissenschaftliche Erkenntnis – Auslotungsversuche mit offenem Ergebnis
Der Begriff der Kontingenz hat in den Kulturwissenschaften Konjunktur. Beschäftigte sich in diesem Wintersemester innerhalb der Ringvorlesung des WiZeGG bereits der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke (Konstanz) kritisch mit Postulaten steigenden Kontingenzbewusstseins in der Moderne, so ging der kulturwissenschaftlich orientierte Musikwissenschaftler Frank Hentschel (Köln) der Frage nach Sinn und Unsinn des Begriffs der Kontingenz ganz konkret für die Versprachlichung von Musikgeschichte an.
Auch für die Historiographie von Musik bietet der Begriff Potenzial, vor allem wenn er nicht als Beliebigkeit, sondern als auf benennbaren Voraussetzungen aufbauend, aber Alternativen mit einschließend verstanden wird. Er besticht mit der genuin in ihm angelegten Bedeutungsoffenheit. Diese Bedeutungsoffenheit bietet sich für nach eingehender Forschungsarbeit immer schwierig griffig zu beschreibende historische Sachverhalte geradezu an: Kaum ein historisches Phänomen ist bei näherem Hinsehen tatsächlich eindeutig oder monokausal begründbar, keines einseitig, keines hat wirklich alternativlos zwingende Folgen – wenn ein historischer Tatbestand gesichert ist, dann das der Kontingenz. Aber bringt das die Wissenschaft tatsächlich weiter?
Offensichtlich ja. Denn wo Kontingenz unter den Tisch fällt, haben ideologische Verzerrungen freies Spiel: Allein fünf sinnvolle Anwendungen des Bewusstseins und ‑machens von Kontingenz zählte Hentschel für die Forscherperspektive auf, die normativen Sichtweisen und deren ‚Entkontingentierungsstrategien‘ entgegen treten möchte. Weitere Bereiche der möglichen Verwendung des Begriffes für die deskriptive bis analytische Ebene wurden anhand von Musikbeispielen vom Mittelalter bis zur Gegenwart – mit offenem Ergebnissen zu Nutzen und Grenznutzen – im folgenden Workshop diskutiert.