Über diesen Blog.

Hier schreiben Wissenschaftler*innen der Universität Oldenburg und Gastautor*innen darüber, wie sich Gesellschaften selbst wahrnehmen und thematisieren, sich ihrer jeweiligen Gegenwart vergewissern und dabei in die Zukunft entwerfen.

Wie stehen diese Selbstwahrnehmungen und -entwürfe mit Institutionen, Medien und Techniken zur Gestaltung von Natur, Gesellschaft und Subjektivität in Verbindung? Wie modellieren sie den lebensweltlichen Alltag und halten Menschen zu einem bestimmten Verhalten an? Wie werden diese Interventionen in das Gegebene begründet und legitimiert, aber auch kritisiert, verworfen oder unterlaufen?

Diesen Fragen, deren interdisziplinäre Reflexion eines der zentralen Anliegen des Wissenschaftlichen Zentrums „Genealogie der Gegenwart“ ist, gehen die Blogger aus unterschiedlichen Fachperspektiven und Tätigkeitszusammenhängen mit Blick auf kontrovers verhandelte Themen wie Migration, Ungleichheit, Digitalisierung, Kriminalität, Gesundheit und Ökologie nach.

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Diagnostizieren und Therapieren

von Velten Schäfer

von Velten Schäfer

Notizen zum Workshop „Gegenwartsdiagnosen – Modellierungen der Gesellschaft in interdisziplinärer Perspektive“

Was ist „Gegenwart“? Darauf hat zumindest die Neurowissenschaft eine klare Antwort: Ein Zeitraum von jeweils 2,7 Sekunden. Schwieriger wird es, wenn sich die Frage an die Philosophie, Geschichts-, Sozial- oder Kulturwissenschaft richtet. Meist ist mit Gegenwart dann eine Epoche oder ‚Zeit’ gemeint, in die die Gesellschaft jüngst eingetreten sei und die dann oft durch Bindestrichkonstruktionen charakterisiert wird. Solche „Gegenwartsdiagnosen“ – „Risiko-“ oder „Erlebnis-“, „Wissens-“ und „Kontroll-“ oder auch „Kreativgesellschaft“, um ein paar zu nennen – sind einmal für die Wissenschaften selbst bedeutend: Sie machen diese sozial relevant, indem sie Tendenzen, die der nichtakademische Alltagsverstand verzeichnet, aufgreifen, verdichten und an denselben zurückgeben. Sie sorgen für wissenschaftliche Dynamik wie auch gesellschaftlichen Wandel, wenn sie Diskussionen entfachen und Praktiken initiieren. Wenigstens aber dienen sie der Arbeitsbeschaffung, indem sie die Möglichkeit schaffen, alle Bücher noch einmal zu schreiben. Schon daher ist es laut Käte Meyer-Drawe (Bochum) typisch für sie, Wandel zu „dramatisieren“ und „das Überdauernde“ zu „bagatellisieren“. So lassen sich ‚Pathologien‘ aufzeigen und ‚Therapien‘ verordnen, auch wenn vielleicht gar keine ‚Revolution‘ stattfindet und kein ‚Strukturproblem‘ besteht. Ganz in diesem Sinne hielt Herbert Mehrtens (Braunschweig) entgegen so mancher Diagnose vom kreativ-impulsiven Arbeitssubjekt der Postmoderne an der „Rationalisierung“ als bis heute sozial dominierendem Dispositiv fest.

Der Workshop zum Thema der „Gegenwartsdiagnose“, zu dem Thomas AlkemeyerNikolaus Buschmann und Rea Kodalle (Oldenburg) vom „Wissenschaftlichen Zentrum Genealogie der Gegenwart“ (WiZeGG) zwischen dem  8. und 11. Oktober 2015 eingeladen hatten, wollte sich weniger selbst diagnostisch betätigen als vielmehr das Diagnostizieren in den Blick bekommen. Interdisziplinär wurde besichtigt, wie zeitdiagnostische „Modellierungen der Gesellschaft“ auf diese zurückwirken. Alkemeyer und Buschmann charakterisierten Gegenwartsdiagnosen eingangs als „performative Elemente (…), welche die Wirklichkeit, die sie beschreiben, zugleich hervorbringen“ und arbeiteten drei Fragen heraus: Wie wird erstens „gesellschaftliche Wirklichkeit (…) in aktuellen oder vergangenen Gegenwartsdiagnosen akzentuiert, problematisiert und repräsentiert“, welche „Grundannahmen“ spielen mit, warum saugen wir manche Diagnosen „geradezu auf“, andere aber nicht? Wie genau schreiben sich zweitens Gegenwartsdiagnosen „in gesellschaftliche Erfahrungszusammenhänge ein“ und gestalten diese mit, welche „Praktiken, Bilder und Aufführungen“ wirken dabei? Welche „Dimensionen und Möglichkeiten des Sozialen“ machen schließlich Gegenwartsdiagnosen sichtbar, und welche werden de-thematisiert?

Kultur- und naturwissenschaftliche Pathologien

Dass ein voraussetzungsloses „Durcherkennen“, wie „Diagnose“ wörtlich zu übersetzen wäre, ganz und gar unmöglich ist, macht bereits der landläufige Wortgebrauch deutlich: Welche Störung ein Arzt in diesem Schmerz oder jener Schwellung sieht und was er dagegen verordnet, hat sich in gar nicht langer Zeit überaus drastisch verändert. Eine Diagnose ist mithin kein Vorgang, bei dem ein äußerer Betrachter einen von ihm substanziell geschiedenen Gegenstand befragt; vielmehr sind die Diagnosen, so Meyer-Drawe in ihren Thesen über das von den Neurowissenschaften ausgerufene „Jahrhundert des Gehirns“, von „den Diagnostikern und ihrer epistemischen Herkunft“ geprägt. Auch und gerade dann, wenn speziell „naturwissenschaftliche“ Diagnostiker glauben, rein „evidenzbasiert“ zu arbeiten.

Solche Haltungen sind laut Meyer-Drawe deshalb so bedenklich, als dass derzeit ein Sog in Richtung „naturwissenschaftlicher“ Gesellschaftsdiagnostik bestehe: Soziale Devianz, ‚Schulprobleme’ u. ä. würden medizinalisiert, ein „philosophisches Menschenbild“ solle „abgedankt werden“. Dass ein derart ‚objektivistisches’ Verständnis von Naturwissenschaft „in bestimmten Expertendiskursen gerne und bis heute“ herrsche, konstatierte auch Hans-Jörg Rheinberger (Berlin). Gegen solche Diskurse, die auf der für die westliche Moderne konstitutiven, aber längst fragwürdigen  Opposition von „Kultur“ und „Natur“ beruhen, seien jüngere wissenschaftsgeschichtliche und wissenssoziologische Debatten stark zu machen, die „gerade auch die Naturwissenschaft und das wissenschaftliche Wissen von der Natur (…) als Kulturphänomene in ihrer historischen Bedingtheit“ untersuchen – was notorisch als offensichtlich gilt, solange es um ältere, ‚widerlegte’ Erkenntnisse geht, während jeweils aktuelle sich einer solchen Betrachtung oft entziehen zu können scheinen.

Gewiss hat Wissenschaft stets den Anspruch, reflektierend zu verfahren und ihre Ergebnisse festgelegten Überprüfungsverfahren zu unterwerfen. Die Voreinstellungen der Diagnostiker finden sich aber mehr auf der Ebene der Fragen. Eindrücklich zeigte dies Thomas Etzemüller (München) anhand der Geschichte der „Rasseanthropologie“ seit dem 19. Jahrhundert, die „Natur“ und „Kultur“ auf sehr spezielle Weise verschmolz. Was heute als bizarre Pseudowissenschaft gilt, die soziale Ordnung biologistisch ‚rationalisierte’, um ‚Operationen’ am ‚Volkskörper’ zu fordern, sprach ein Jahrhundert mit der Autorität der Katheder. Die Disziplin verfuhr dabei durchaus redlich mit Kriterien von Wissenschaftlichkeit: Man führte ausgedehnte Diskussionen über Fehlerquoten, Messinstrumente und andere Methodenprobleme. Neben so innovativen wie suggestiven Verdeutlichungstechniken machte gerade die Problematisierung eigener Unzulänglichkeit die Evidenz dieser Wissenschaft aus. Ihr Ende fand die Rasseanthropologie ab den 1960er Jahren nicht mit einem großen Knall, sondern in einem sanften Entschlafen. Mit dem Aufstieg der Soziologie zur humanwissenschaftlichen Leitdisziplin wurden in weiten Teilen des wissenschaftlichen Feldes ihre Fragen obsolet, sodass sich die Ergebnisse erst recht erübrigten. Nur vor dem Hintergrund weit verbreiteter kulturpessimistischer, antimoderner Zeitdiagnosen hatte die Rasseanthropologie überhaupt je ‚Sinn machen’ können. Das Fehlen einer regelrechten Abrechnung mit der Disziplin hat laut Etzemüller aber auch zur Folge, dass Elemente derselben – prominent zuletzt in der so genannten Sarrazin-Debatte – immer wieder „untot durch die Literatur geistern“.

Verwirklichung: Krise, Pop und „Fernmoral“

Wie aber verwirklichen sich solche Diagnosen gesellschaftlich? Dahingehend gab etwa der Vortrag von Ariane Leendertz (Köln) Aufschluss, die die Verschränkungen von Zeitdiagnostik und Wissensproduktion an einem weniger fern liegenden Beispiel untersuchte. Sie zeigte, wie die Rede über „Komplexität“ in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren zu einem Leitmotiv der amerikanischen Politik- und Sozialwissenschaft aufstieg. Zunächst schien eine interdisziplinäre Aneignung mathematischer Wissensbestände in Verbindung mit dem Aufstieg der Computertechnologie das Versprechen der amerikanischen Tradition des „social engineering“ zu erneuern, die Vielschichtigkeit sozialer, ökonomischer und politischer Wirklichkeit einer im Wandel begriffenen Gesellschaft lasse sich „in ihrer Ganzheit“ analysieren. Doch dann „überlappten sich“ diese Erwartungen im Übergang in die 1970er Jahre „mit dem Eindruck, dass Krisenerscheinungen, Probleme und Konflikte in der amerikanischen Gesellschaft nicht nur kein Ende nahmen, sondern sich weiter zu potenzieren zu schienen.“ So stehen am Ende dieser Neumodellierung des Sozialen anhand der Komplexitätsdiagnose der Verzicht auf Therapie und der Glaube an ‚Selbstheilung’: Die Sozialtechnologie der „Great Society“ kapituliert; an der vermeintlichen „Unregierbarkeit“ setzt der neoliberale Diskurs von Staatsrückzug und Vertrauen in die ‚Marktkräfte’ an.

Auch der Aufstieg der Pop- und Rockkultur geht von in den 1960er und 1970er Jahren verbreiteten Gegenwartsdiagnosen einer uniformiert-repressiven, konformistischen Massenkultur aus. Frank Hillebrandt (Hagen) zeigte anhand des infolgedessen aufsteigenden Format des „Pop-Festivals“, wie sich diese Diagnostik in Praktiken einer „Popularisierung von Kreativität und Innovation“ übersetzte, die nach Boltanski und Chiapello in die „projektbasierte Polis“ und den „neuen Geist des Kapitalismus“ münden. Das Pop-Festival sei mit Deleuze und Guattari als „wirkmächtige Intensitätszone der Gegenwartsgesellschaft“ zu verstehen und nach Foucault als „präzedenzloses Ereignis mit Folgecharakter“, das Körper, Dinge, Diskurse und Symbole der Alltagskultur praktisch rekonfigurierte. Rock und Pop führten so erstens zu einer „Aufwertung des gewöhnliches Lebens“ und zweitens zu einer breiten Popularisierung ‚kreativer’ Haltungen der Selbstveränderung, die sich als konstitutive „Merkmale der Gegenwartsgesellschaft verfestigen“. Vielleicht sind gerade die Rock- und Pop-Praktiken der späten 1960er und frühen 1970er Jahre in ihrem betont körperlich-sinnlichen Vollzug einer bestimmten Zeitkritik ein sehr instruktives Beispiel für das performative, sozial formierende Potenzial von Gegenwartsdiagnosen.

Mit einem weiteren Abkömmling jenes Endes des modernistischen Fortschrittsglaubens während der 1970er Jahre befasste sich David Kuchenbuch (Gießen) in seinen Thesen zur „Genealogie des Glokalismus“ – jener „wissensbasierten, nachhaltigen Lebensführung“ eines „gewissenhaften Konsums“, der zwischen dem Club-of-Rome-Bericht über die „Grenzen des Wachstums“ und Eine-Welt-Läden seinen Anfang nahm, mittlerweile aber auch zum Distinktionsmittel einer gebildeten Mittelschicht geworden ist. Die unwahrscheinliche Entstehung dieser Praxis/Diskurs-Formation erklärt Kuchenbuch mit dem Zusammentreffen einer ganzen Reihe von Elementen: Eine nach 1945 einsetzende „ausgeprägte Datensammeltätigkeit“ der UN habe sich zu einer „globalen Vergleichskommunikation“ ausgewachsen und sei während der 1970er im Umfeld der Ölkrise mit Zeitdiagnosen von „Bevölkerungsexplosion“ und „Überforderung des Raumschiffs Erde“ in ein Wechselspiel getreten. Popularisiert durch eine „lebensweltorienierte Didaktik“, die auf eine „Neubewertung der Wirkungsmöglichkeiten individuellen Handelns“ zielte  – plastisch vergleichende Karten, Grafiken und Tabellen zum Ressourcenverbrauch, Simulations- und Rollenspiele – machte dieses Wissen den Konsum der Einzelnen und deren Selbstbeschränkung zum täglichen trade-off mit einer individualisierten Weltverantwortung. Diese „Fernmoral“, so Kuchenbuch, habe mit ihrer „glokalistischen Verhaltenslehre der Selbsthinterfragung“ in einst politisierten Milieus den Widerstand gegen „Subjektivierungsimperative“ geschmälert, die bald „aus einer ganz anderen Richtung (neoliberaler Flexibilitätsdiskurse, EVS) an die Individuen  herangetragen wurden“. Die Welt-Therapie ‚korrekten Konsums’ habe das „Individuum (…) unmittelbar zum Planenten und zur Menschheit“ gestellt und so nolens volens das „Credo“ des „globalen Kapitalismus“ ratifiziert: Es gebe „no such thing as society“. Konkreter noch lässt sich hinzufügen, dass sich diese Diskurse und Praktiken eines verantwortlichen Verbrauchs nach 1990 mit Motiven gesundheitlicher Selbstoptimierung vermengen. Dies illustriert der jüngere Veganismus, der in nur anderthalb Jahrzehnten von einem Feature randständiger Polit-Subkulturen zu einer fernsehtauglichen Selbstbildungstechnik aufgestiegen ist.

Standpunkte: zwischen Pessimismus und Utopie

Anhand solcher „wirklichen Geschichten“ zeigte der Workshop, wie im Wechselspiel von akademischer und populärer Wissensproduktion bestimmte Wirklichkeiten entstehen und dass die Befassung mit „Gegenwartsdiagnostik“ insofern eine „Genealogie der Gegenwart“ voranzubringen verspricht. Daneben bewahrheiteten die Diskussionen im Oldenburger „Schlauen Haus“ aber auch, was Alkemeyer und Buschmann schon eingangs formuliert hatten: Dass nämlich „auch die Beobachtung von Gegenwartsdiagnosen immer schon einen gegenwartsdiagnostischen Standpunkt einnimmt“.

Das machten nicht nur die die Thesen über „Pathologien und Therapien im zeitgenössischen Bildungsdiskurs“, die Tobias Peter (Freiburg) vorstellte: Seine Auseinandersetzung mit der Wirkung von Gegenwartsdiagnosen der „Wissensgesellschaft“, „Globalisierung“ und „Diversität“ im umkämpften Bildungsdiskurs lief ihrerseits auf die Diagnose einer Ökonomisierung hinaus, die „Spielräume kollektiver politischer Ermächtigung minimiert“. Antonia Grunenbergs (Berlin/Oldenburg) Vortrag über „einige Praktiken und Diskurse der digitalen Revolution“ trug zeitdiagnostische Züge, als sie in Auseinandersetzung mit manifestartigen Texten aus dem Silicon Valley einen radikalen neuen Elitismus heraufziehen sah, der sich auf alte Vorstellungen eines „total autonomen Subjekts“ gründe. In der Stoßrichtung ähnlich diagnostizierte Elke Bippus (Zürich) im Anschluss an die Künstlerin Andrea Fraser der Kunst „regressive Tendenzen im ganzen Feld“, die mit einem Aufleben des Konzepts allgemein menschlicher, angeborener, unvermittelter „Affekte“ einhergingen. Auch dieser Diskurs, der mit Vorstellungen von Geniekunst korrespondiert, basiert auf einem nicht-sozialen und nicht-geschichtlichen Subjekt, auf dem ‚Menschen selbst’. Bippus verdeutlichte, dass sich eine ‚praxeologische’ Soziologie, die viel mit vorsprachlichem Wissen und Affekten hantiert, davor hüten muss, den Effektcharakter des Affekts aus dem Auge zu verlieren.

Nicht nur die letztgenannten Beiträge machten klar, dass der zeitdiagnostische Standpunkt, von dem aus der Workshop weit überwiegend sprach, ein grundlegend pessimistischer war – dessen lebensweltliche Herkunft vielleicht in einer vielfach empfundenen Niederlage gesellschaftskritischer Wissenschaft zu sehen ist. Mit Bezug auf die Ausgangsfrage, wie Zeitdiagnostik performativ wirkt, wäre vielleicht zu erwägen, ob solche Niedergangserzählungen rund um die stets auf neue rekonstruierte Durchsetzung des marktkonformen Subjekts nicht ihrerseits zementierend wirken – und ob, wie Tilman Borsche (Hildesheim) in seinen Thesen zur „Orientierungsfunktion wissenschaftlichen Wissens“ formulierte, nicht mehr „Ideologie und Utopie als Momente einer Dialektik der sozialen Imagination“ gebraucht werden, „um unsere soziale Gegenwart verstehen und unsere soziale Zukunft gestalten zu können“.

Velten Schäfer, Dr. phil., lehrt Sportsoziologie und lebt als Publizist in Berlin.
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(Stand: 19.01.2024)  | 
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