Über diesen Blog.

Hier schreiben Wissenschaftler*innen der Universität Oldenburg und Gastautor*innen darüber, wie sich Gesellschaften selbst wahrnehmen und thematisieren, sich ihrer jeweiligen Gegenwart vergewissern und dabei in die Zukunft entwerfen.

Wie stehen diese Selbstwahrnehmungen und -entwürfe mit Institutionen, Medien und Techniken zur Gestaltung von Natur, Gesellschaft und Subjektivität in Verbindung? Wie modellieren sie den lebensweltlichen Alltag und halten Menschen zu einem bestimmten Verhalten an? Wie werden diese Interventionen in das Gegebene begründet und legitimiert, aber auch kritisiert, verworfen oder unterlaufen?

Diesen Fragen, deren interdisziplinäre Reflexion eines der zentralen Anliegen des Wissenschaftlichen Zentrums „Genealogie der Gegenwart“ ist, gehen die Blogger aus unterschiedlichen Fachperspektiven und Tätigkeitszusammenhängen mit Blick auf kontrovers verhandelte Themen wie Migration, Ungleichheit, Digitalisierung, Kriminalität, Gesundheit und Ökologie nach.

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Eine Randnotiz: Ohrfeigen, Krieg und die “dünne Firnis der Zivilisation”

von Thomas Alkemeyer

von Thomas Alkemeyer

Will Smith ohrfeigt – filmreif – Chris Rock, den Moderator der Academy Awards in Hollywood, weil der einen schlechten, nun ja, Witz über Jada Pinkett Smith, die Ehefrau von Will, gemacht hat. Die Ohrfeige zeige nur, wie dünn die Firnis der Zivilisation sei, sagt der Soziologe Armin Nassehi am 29. März 2022 im Deutschlandfunk. Und die Moderatorin erkennt in Will Smith das längst überwunden geglaubte Bild des Mannes als Beschützer der Frau – und zieht noch im selben Satz eine Parallele zum Bild des heroischen Mannes im Krieg, das wir ja derzeit ebenfalls tagtäglich zu sehen bekämen. Nassehi sieht dies ein wenig anders, aber beide sind sich doch darin einig, dass ‚der Mensch‘ nicht gewaltlos zu haben und einmal errungene Zivilisationsleistungen nicht nur voraussetzungsreich, sondern auch fortwährend bedroht seien. In jeder Begegnung von Menschen, in jeder Interaktion, sei Gewalt als Möglichkeit anwesend. Nassehi macht immerhin auf die Umstände – Machtverhältnisse zum Beispiel – aufmerksam, die das Umschlagen der Möglichkeit in die Wirklichkeit befördern. Letztlich bleibt in der Erzählung des Deutschlandfunks jedoch ‚der Mensch‘ das Problem. Er scheint – vor allem in seiner männlichen Variante – so etwas wie ein Vulkan zu sein, dessen zivilisatorische Schutzschicht die gelegentlich eruptiv aus seinem Innern aufsteigende Gewalt jederzeit durchbrechen könne; genau so, wie das zerstörerische Magma, das aus dem Erdmantel aufsteigt.

Nicht nur das Heldentum scheint also erneut die Bühne zu betreten, sondern auch die Anthropologie. Für sie sind Zivilisation und Gesellschaft das, was das ‚Wesen des Menschen‘ wahlweise zivilisiert oder unterdrückt – und dies offenbar ebenso verzweifelt wie vergeblich. Umgekehrt käme wohl mehr heraus, nämlich mit der Frage nach den Verhältnissen, die Gewalt und deren menschliche Akteure allererst hervorbringen. Zivilisation und Gesellschaft wären in dieser Fragerichtung nicht Bedingungen in einem beschränkenden, sondern in einem konstitutiven Sinn. Bei diesem Unterschied geht es ums Ganze. Bedingungen im erstgenannten Sinn sind wie eine äußere Hülle, ein Überzug, unter dem das wahre menschliche Wesen schlummert – Firnis eben. In der zweiten Bedeutung machen sie hingegen das konkrete, wirkliche Wesen der Menschen selbst aus, ihre Intentionen und Motive, ihr Denken und ihr Fühlen, ihr Wissen und ihre Affekte. Methodisch würde man dann dieses wirkliche Wesen der Menschen von ihren konkreten Lebensbedingungen und ihren Praktiken her erschließen, von den (Macht-)Verhältnissen, den Strukturen, den Kosmologien und Narrativen, in denen sie leben und sich eingerichtet haben – und nicht von ihren scheinbar asozialen, vorgesellschaftlichen und letztlich unbezähmbaren Impulsen, Trieben und affektiven Energien. Ins Blickfeld gerieten damit auch Verhältnisse, in denen Gewalt nicht nur als ein Mittel zur Lösung von Problemlagen akzeptiert, sondern in ihrer heroischen Form auch als sexy bewundert wird. Und dies, wie es scheint, auch von Leuten, die noch gestern Friedensfreunde waren: „Je Zivi, desto Krieg“ (so Peter Richter in der Süddeutschen Zeitung vom 29.3.)?

Thomas Alkemeyer ist Professor für Soziologie und Sportsoziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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