von Sascha Oswald und Danielle Gluns
Kaum ein Thema hat in den vergangenen Jahren so sehr die öffentliche Diskussion bestimmt wie das der Migration und in diesem Zusammenhang insbesondere der Umgang mit dem Phänomen der Flucht und mit Geflüchteten. Dabei hat sich die Dominanz im Diskurs „von der Willkommenskultur zur Notstandsstimmung“ (Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung) verschoben. Zwei Positionen sind im Diskurs besonders sichtbar: auf der einen Seite diejenigen, die den humanitären Schutz für Geflüchtete betonen, und auf der anderen Seite diejenigen, die eine Begrenzung des Zuzugs fordern und negative Auswirkungen von (Flucht-)Zuwanderung postulieren.
Diese Gegenüberstellung scheinbar klarer politischer Positionierungen und Forderungen ist ein Mittel, Identitäten zu konstruieren: „Menschen, die Migration als Problem sehen, verstehen sich zunehmend als eine Gemeinschaft, auch wenn die imaginiert ist,“ postuliert Konfliktforscher Andreas Zick. Diese vermeintliche Zugehörigkeit reduziert die Angst vor einem Verlust der kulturellen Identität, die laut einer Studie des MIDEM oft die Ursache für die Wahl rechtspopulistischer Parteien ist. Das gilt aber auch umgekehrt – bspw. floriert das Angebot an „Refugees Welcome“-Merchandise: Von T-Shirts über Tassen bis hin zu Kochbüchern finden sich unzählige Konsumartikel, die es erlauben, sich mittels eines simplen Slogans moralisch zu verorten und einer Gesinnungsgemeinschaft zuzuordnen. Grundsätzlich gilt daher: Indem ich mich als Gegner oder Befürworter der Zuwanderung inszeniere und hierfür Zuspruch von Anderen erhalte, kann ich mich als Teil einer scheinbar homogenen Gruppe begreifen.
Im digitalen Diskurs werden diese beiden Positionen besonders gegensätzlich inszeniert. So wird man, je nach Aussage, schnell als Neo-Nazi oder aber „linksgrünversiffter“ Gutmensch identifiziert. Der in Kommentarspalten oder Foren sowieso schon hohe Einsatz von ad hominem-Argumenten (d. h. die Abwertung einer Position durch Angriff auf die sprechende Person) nimmt hierbei eine besondere Form an. Die Zurechnung erfolgt nämlich implizit, sprich: die Person (und damit auch ihre Argumentation) wird nicht durch die explizite Zuschreibung von Eigenschaften (Lügner, Opportunist, dumm, senil, voreingenommen) sondern durch die Identifizierung mit einem Lager und den damit implizierten Assoziationen abgewertet. Entscheidend für eine solche Verortung sind oft einzelne Satz- oder Aussagefetzen.
So erfolgt eine Verkürzung des Diskurses in zweierlei Hinsicht. 1) Argumentationen werden vorwiegend partiell und fragmentarisch gelesen, d. h.: nicht der Argumentationsgang als Ganzes wird bewertet; stattdessen dienen einzelne Diskurselemente als Aufhänger für Zuordnungen. 2) Diese Zuordnungen erfolgen pauschal. Bedient werden „leere Signifikanten“ (Laclau), d. h. Schlagworte ohne konkreten Gehalt, die als Knotenpunkt für eine „imaginäre Einheit“ (Reckwitz) dienen. Die Bandbreite konservativer und progressiver Positionen wird dabei zugunsten einer klaren Lagerbildung unterschlagen – mehr noch: Die so in Fremd- und Selbstzuschreibung produzierten Identitäten werden als antipodische Feindbilder entworfen. Innerhalb der damit korrespondierenden apokalyptischen Großnarrative (etwa die von der Islamisierung des Westens oder der bevorstehenden Neuauflage des Holocausts) bleibt kein Platz für Differenzierung – jede*r Diskursteilnehmer*in muss zweifelsfrei identifiziert und zugeordnet werden können. Versuche der Differenzierung enden oft damit, dass das Gegenüber wahlweise die Aussage vor oder nach dem „aber“ herausgreift und als repräsentativ wertet. Man ist entweder dafür oder dagegen, ein middleground oder Grauzonen sind nicht vorgesehen.
Die Diskurs-Beteiligten geben sich also selbst zunehmend eine Identität, rechnen sich einer bestimmten Gruppe oder einem Lager zu, und werden gleichzeitig als solche von der Gegenseite fremdthematisiert – beide Prozesse verstärken sich selbstredend gegenseitig. Die Tatsache, dass die translokalen Kommunikationsstrukturen des Internets die Sichtbarkeit von und den Austausch mit Gleichgesinnten befördern, trägt zudem, wie schon oft besprochen, zur Bildung von Filterblasen bei, aber auch zu der Annahme, ein die Allgemeinheit repräsentierendes Kollektiv – ein „Wir“ – zu bilden. Zwar vollzieht sich der Austausch im Rahmen echter interaktiver Communities, weswegen der Begriff der „imaginierten Gemeinschaften“ (Anderson) zumindest zur Debatte steht – der Suggestion von Homogenität und Reichweite, die von den digitalen Plattformen ausgeht, steht dennoch eine wesentlich heterogenere Realität außerhalb des Netzes entgegen.
Trotzdem sind es gerade die genannten gruppenidentitären Vorzeichen, unter denen öffentliche und gesellschaftliche Themen immer öfter verhandelt werden, welche kaum mehr Differenzierung im Diskurs zulassen. Der Wunsch nach interner Kohärenz bedingt einen radikalen und kompromisslosen Positionskampf, der vor allem auf Selbstbehauptung abzielt – die Beteiligten werden zu „Propagandisten ihrer Attribute“, wie es Milan Kundera einst nannte.
Die Politik reagiert auf diese Entwicklung oft schizophren und hilflos: Anstatt durch klare Argumente zu einer differenzierteren Debatte beizutragen, nutzen Politiker*innen in ihren Diskursen Versatzstücke beider Positionen. So bezeichnete Bundesinnenminister Horst Seehofer Migration als „die Mutter aller Probleme“. Gleichzeitig fordert er „#Schutz für Menschen, die schutzbedürftig sind“. Auch die SPD scheint keine klare Position beziehen zu wollen, beispielsweise vor der Verabschiedung des „Geordnete-Rückkehr-Gesetzes“: „Parteichefin Andrea Nahles? Sagte öffentlich kein kritisches Wort, sicher ist sicher. An der Basis kommen Worte wie Solidarität ja nicht mehr so gut an“ (Constanze von Bullion). Ob diese Nutzung von Fragmenten aus den beiden Diskurspositionen zur Mobilisierung von Wählerstimmen aus beiden Lagern dienen soll oder ein fehlgeschlagener Versuch ist, eine Mittlerposition einzunehmen, kann hier nicht beantwortet werden. Sie führt aber dazu, dass politische Positionen beliebig erscheinen, worauf die Lager mit immer schriller werdenden Aussagen reagieren.
Tatsächlich sind die Einstellungen in der Gesellschaft aber vielfältiger und offener gegenüber Migration, als vielfach erwartet wird. Angst vor Verteilungskämpfen, dem Verlust von kultureller Identität und sozioökonomischem Abstieg gibt es zwar. Diese wird durch die aktuelle polarisierte Debatte aber befördert, statt reduziert.
Benötigt würde daher ein differenzierter Diskurs, der an den eigentlichen Fragen ansetzt: Nach welchen Prinzipien wollen wir unsere gesellschaftlichen Ressourcen verteilen? Wie verstehen wir Solidarität? Welche Werte sind uns wichtig und wie wollen wir gesellschaftliches Zusammenleben gestalten? Politiker*innen sind aufgerufen, mit Argumenten statt Parolen zu überzeugen. Hierfür müssten sie allerdings zunächst eine klare Haltung einnehmen, anstatt vermeintlichen gesellschaftlichen Trends hinterherzulaufen.
Danielle Gluns, Dr. phil., ist Leiterin der Forschungs- und Transferstelle Migrationspolitik am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim.
Kontakt: glunsd@uni-hildesheim.de
Sascha Oswald, M. A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim.
Kontakt: sascha.oswald@uni-hildesheim.de